Warum gibt es so viel Aufregung über ein literarisch mittelmäßig bis dürftig geratenes, 1400 Seiten starkes Debüt eines bis vor Kurzem gänzlich unbekannten Autors? Die Antwort liegt auf der Hand. Das Buch ist eine strategische Provokation. Wäre dieses Buch einer der üblichen historischen Thriller, zu denen es seiner sprachlichen Ambition nach zu rechnen ist, wäre es bereits wieder in den Katakomben der Unterhaltungsliteratur verschwunden, Seite an Seite mit ungezählten anderen Wälzern voller splitternder Hirnschalen, ejakulierender Gehenkter, purpurroter Erwürgter und aufgeschlitzter Soldaten. Doch der jüdische Autor Jonathan Littell hat getan, was in der Tat noch niemand gewagt hat und was die Interpreten in Frankreich und in Deutschland verblüfft und herausfordert. Er spielt 1400 Seiten lang SS-Obersturmbannführer. Er beschreibt den NS-Täter nicht – das haben schon viele getan –, er erkundet, wie sich Täterschaft von innen anfühlt. Der detaillierte Bericht des nach Frankreich geflohenen SS-Mannes Dr. Max Aue über seine Jahrzehnte zurückliegenden Kriegserlebnisse füllt eine publizistische Lücke, die merkwürdigerweise noch niemandem aufgefallen war.

Diese Kühnheit hält die literarische Welt in Atem. Das Selbstporträt eines Mörders zu zeichnen, seine Kaltblütigkeit, seinen Amoralismus und seine Verwirrung in literarischer Stellvertreterschaft anzunehmen, ist ein Projekt von dostojewskijschem Format. Um es gleich zu sagen: Die ungewöhnliche Perspektive dieses ambitionierten Romans ist nicht das Problem. Sie ist im Gegenteil seine eminente Chance, dem Landser-Kitsch, dem Doku-Thriller und dem Edelporno zu entkommen, in die das Buch an vielen Stellen abzusinken droht. Das Problem ist auch nicht Dr. Max Aue, der Platon, Stendhal, Flaubert, Plutarch, Kant und Hegel lesende NS-Mörder, der mit seinen Opfern vor der Exekution zuweilen noch Altgriechisch zu parlieren pflegt. Einen solchen SS-Musterschüler mag es nicht gegeben haben, er mag auch gegen jede historische Wahrscheinlichkeit entworfen sein, doch ist historische Wahrscheinlichkeit kein Kriterium literarischer Beurteilung. Max Aue muss kein Mensch sein, den es so gegeben haben könnte. Dostojewskijs Mörder Raskolnikow ist das auch nicht. Beide sind eher ein Geisteszustand als Menschen aus Fleisch und Blut. Das ist kein Nachteil. Literatur ist im weitesten Sinn auch nur ein Geisteszustand. Sie hat große Freiheiten gegenüber der Geschichte. Das Problem dieses Romans liegt einzig darin, wie und zu welchem Endzweck Littell diese Freiheit nutzt. Das Problem liegt darin, dass Max Aue mitsamt seinem Geisteszustand 1400 Seiten lang den Nachlass des Nationalsozialismus poliert.

Das, darf man einwenden, ist auch nicht verwunderlich. Schließlich spricht hier ein zwar zu existenziellem Nihilismus neigender, enttäuschter, aber anhaltend unbekehrter und keineswegs selbstzerknirschter Nationalsozialist. Alle Widerwärtigkeiten, aller Kitsch, aller weltanschauliche Schwachsinn, die in diesem Buch in quälender Ausführlichkeit verbreitet werden, gehen auf sein Konto. Nicht auf Littells Konto. Das muss man ausdrücklich hervorheben, weil Autor und Figur sich immer wieder zwillingshaft zu vereinen scheinen. Viele Ausführungen Aues kehren in Littells Interviews wieder, und die beiden teilen offenbar zahlreiche Vorstellungen und Lieblingsautoren. Dennoch bleibt unklar: Was sollen wir mit dieser endlosen Rollenprosa eines überzeugten Nationalsozialisten und Rassisten?

Littell souffliert uns in seinen Interviews, die er in Frankreich gegeben hat, eine Antwort: Wir sollen während dieser mühsamen, häufig ekelerregenden, noch häufiger einfach langweiligen Lektüre etwas über die tiefsten Motive der NS-Täter erfahren. Von Anfang an, sagt er in einem Gespräch mit dem französischen Historiker Pierre Nora, habe ihn »die Frage nach den Motiven der Leute, die töten, gefesselt. Viel mehr als die Opfer.«

Das ist ein starkes Argument. Die tiefsten Motive der NS-Täter sind ein ungelöstes Geheimnis. Wenn das Versprechen, dieses Geheimnis zu lüften, in diesem endlosen Buch auch nur für Augenblicke eingelöst wird, dann wären in der Tat alle Mühen, alle Qual, die man mit diesem geschwätzigen Buch hat, nicht vergeblich gewesen. Dann wäre es aller literarischen Mängel zum Trotz ein großes Buch.

Die französische Kritik hat diese Frage bereits beantwortet. Sie behauptet, von vereinzelten Gegenstimmen abgesehen, Littell habe das Wunder vollbracht. Er habe die Untiefen der NS-Täterschaft ausgeleuchtet, er sei in den Sumpf gestiegen wie Dante in die Hölle und habe von dort kostbare Erkenntnisse ans Licht befördert. Er habe aus den Unmenschen Menschen gemacht, den Mördern ein Gesicht und eine Familiengeschichte gegeben, der europäischen Literatur die große Erzählung des 20. Jahrhunderts geliefert und so weiter. Diese Lesart ist von Jorge Semprún über Pierre Nora bis zum Literaturteil von Le Monde in Frankreich die dominierende. In dieser Lesart ist alles Misslungene des Romans – die Kolportage, der Kitsch, die Pornografie, das NS-Geschwätz – nichts als ein notwendiger Baustein zum Gelingen des Ganzen. Da nun das Buch am 23. Februar auch in Deutschland erscheint, wird man aus deutscher Sicht hinzufügen müssen: Von kostbaren Erkenntnissen kann keine Rede sein. Dieses Buch ist allenfalls eine Bibliotheksfantasie, ein gebildetes und größenwahnsinniges Spiel mit Unmengen von Archivmaterialien. Das wäre noch kein Schade. Viele Bücher spielen mit vorgefundenen Materialien, auch NS-Materialien. Der Hauptvorwurf, der in Frankreich erstaunlicherweise nicht erhoben wurde, geht jedoch darüber hinaus: Das Buch ist mehr als nur ein literarisches Spiel mit Dokumenten. Es ist eine verstörende Arbeit am nationalsozialistischen Mythos.