Für einen streitlustigen Islam

In zugespitzten Situationen wie dieser, wenn Gefühl und Verstand auf der Probe stehen, dann erweist sich, welche Sätze wirklich etwas taugen und welche kollabieren.

Der erste Satz, der die Woche nach den Pariser Attentaten nicht überstanden hat, lautet: "Das hat nichts mit dem Islam zu tun." Wer so etwas sagt, versteht nicht nur nichts vom Islam, der versteht nichts von Religion. Denn jeder Glaube an einen absoluten Gott stößt sich mit der Relativität des Wirklichen. Und in jedem Glauben ist die Verführung allgegenwärtig, die transzendente Macht ins Diesseits zu zwingen, immer gibt es Menschen, die sich auf Gott berufen, um hier und jetzt Herrschaft auszuüben, meist: Gläubige über Ungläubige, Priester über einfache Gläubige, Männer über Frauen. Das ist die giftige Seite einer jeden Schriftreligion, die unschädlich gemacht werden muss, immer wieder. Und dass der Islam hier zurzeit die größten Probleme hat, das liegt ja auf der Hand.

Andererseits kann jede Religion lernen, die Abwesenheit Gottes in der Welt durch das Gebet zu überwinden, anstatt durch Macht. Der zweite Satz, den man daher beiseitelegen sollte, heißt: "Der Islam ist nicht demokratiefähig." Jeder, der hier überhaupt ein paar Muslime kennt, der kennt auch liberale, demokratische Muslime, die gleichwohl glauben. Es gibt sie also.

Jener zweite Satz ist aber noch in einem tieferen Sinne falsch, in ihm zeigt sich vielleicht die ganze Krux der Debatte. Wenn er nämlich wahr wäre, dann müsste man ja versuchen, Muslime so weit als möglich aus den demokratischen Staaten zu entfernen oder wegzuhalten oder ihren Glauben abzubauen, nach dem Motto: je weniger Glaube, desto ungefährlicher. Dabei ist ein zusammengeschusterter, durch zu viel Hitze am Leben gehaltener Glaube weitaus aggressiver als ein tief verwurzelter, der sich selbst versteht. Und dann: Ob es in Deutschland Millionen Muslime gibt oder nicht, das steht nicht zur Diskussion. Sie sind entweder Deutsche oder nachziehende Familien oder Flüchtlinge. Sie sind da, sie werden bleiben, sie werden mehr, schon wegen der Demografie. Daran lässt sich nichts ändern, es sei denn mit Methoden, die unserem christlichen Menschenbild und unserer demokratischen Gesellschaft den Boden entziehen würden.

Die Parallelität von Paris und Dresden zeigt in aller Schärfe: Jeder Versuch, die Migrationsdebatte mit der Islamdebatte zu verknüpfen, führt ins Unglück und in sich wechselseitig aufschaukelnden Fundamentalismus. Menschen zu signalisieren, dass sie lieber weggehen oder zumindest ihren Glauben verstecken sollten, und gleichzeitig zu erwarten, dass sie sich nicht aus den vergifteten Quellen ihrer Religion bedienen, das ist psychologischer Aberwitz. Wer Heimat und Glaube in Konflikt bringt, der sät Unglück.

Ein Satz wird gestärkt aus diesen kritischen Wochen hervorgehen: "Der Islam gehört zu Deutschland." Er bedeutet keineswegs, dass diese Zugehörigkeit unproblematisch ist, er ist nicht naiv gegenüber den in der Tat gravierenden Schwierigkeiten des Islams mit der Moderne. Vielmehr umgekehrt: Nur wer diesen Glauben hier beheimatet, wer die Muslime in das Wir einschließt, kann den Islam hart kritisieren, ohne dabei die Menschen, die daran glauben, mit jedem kritischen Wort zu expatriieren.

Jener Satz hat weitreichende Folgen für beide Seiten, denn damit wird ein hier lebbarer, liberaler Islam zu einem Projekt aller. Für die Nichtmuslime bedeutet das: Über das Wie und Wo von Moscheen, Kopftüchern oder Beschneidung kann man diskutieren, über das Ob nicht. Wer durch seine Stadt läuft und eine Moschee sieht, der kann dazu denken, was er will, ratsam für seinen Seelenfrieden und für seine Integration in die Gesellschaft, in der er nun mal lebt, ist, etwas zu denken wie: eine Moschee? Ja klar.

Die Muslime, die hier leben, verpflichtet dieser Satz allerdings genauso. Dass sehr viele Nichtmuslime in Deutschland, vielleicht die meisten, erhebliche Probleme mit dem Islam haben, insbesondere dann, wenn sie wenig mit Muslimen zu tun haben, ist nicht allein deren Problem. Spätestens seit dem 11. September werden sie aus allen Rohren mit dem Thema beschossen, oft attackieren dabei Islamisten den Westen, noch öfter werden ihnen Muslime gezeigt, die gegen Muslime kämpfen: Sunniten gegen Schiiten, Radikale gegen Ultra-Radikale, Ultra-Radikale gegen Ultra-Ultra-Radikale.

Nur von einem Konflikt bekommen die Leute wenig mit, von dem zwischen liberalen und fundamentalistischen Muslimen. Warum bekommt man davon so wenig mit? Es gibt diesen Streit schließlich – zwischen Glaubensrichtungen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen schon lange hier lebenden Muslimen und neu zugezogenen. Wird er immer noch ein wenig verborgen, weil das muslimische Wir dann doch wichtiger ist als das deutsche Wir, weil man sich vor den Deutschen nicht streiten will? Diesen Streit mitzuerleben, sich in ihn einzumischen, nur das kann letztlich in der Mehrheitsgesellschaft Vertrauen schaffen, nicht die Bekenntnisse von Verbandsvertretern.

Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass die anderen Deutschen sich für die Unterschiede zwischen Muslimen künftig mehr interessieren als für die Unterschiede zu den Muslimen. In den Talkshows etwa hieße das, sie nicht immer wieder für den ganzen Islam in Haftung zu nehmen, nach dem Motto: Verteidige dich, oder distanziere dich. Auch das konnte man in diesen Tagen wieder verschärft erleben: Die Muslimin mit offenem Haar muss das Kopftuch erklären, die Muslimin mit Kopftuch muss die Burka verteidigen, Fernsehen als permanenter Hexentest.

Die ganze deutsche Debatte über den Islam trägt bis heute die Spuren aus der Zeit, als man noch behauptete, Deutschland sei kein Einwanderungsland, als man so tat, als würden diese Menschen wieder gehen. Noch immer schauen viele Deutsche auf die Muslime wie auf ein Außen, viele Muslime auf die Deutschen aber auch. Außen sind aber nur die Islamisten und die Faschisten. Das sagt uns Paris.

BERND ULRICH

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio