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Salon Littéraire | Bernhard Kathan :
HUNGERKÜNSTLER IV , César Vallejo
VORBEMERKUNG. Nikolaj Gogol starb 1852 zu Beginn der Fastenzeit an den Folgen seines Hungerns, César Vallejo am Karfreitag des Jahres 1938 an Unterernährung. An selbst auferlegtem oder aufgezwungenem Hungern starben Simone Weil, Paul Scheerbart, Daniil Charms und andere. Es gibt keinen Grund, das Leben von Menschen, die sich zu Tode gehungert haben, zu verklären. Aber angesichts des heutigen Kunst- und Kulturbetriebes, in dem sich Kunst und Werbung wechselseitig durchdringen, sich oft genug das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden lässt, lohnt sich die Beschäftigung mit Künstlern und Schriftstellern, die verhungert, wenn man so will, gescheitert sind, die sich alles andere als marktkonform verhielten, auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen oder daran zugrunde zu gehen. Mir scheint dies Grund genug, mich mit solchen Schriftstellern und Künstlern zu befassen. Es wird sich eine seltsame Gesellschaft bilden. Überraschend: Nicht die humorloseste. ( Bernhard Kathan ) |||
Er hat keine Augen und sieht und weint, ein einäugiger Alter, Augen mit körperlichem Weinen, schlaflose Organe, ich vergesse durch meine Tränen meine Augen, viel Kummer in einem der Augen, viel Kummer auch im anderen, und in beiden, wenn sie schauen, viel Kummer. Die Augen, unabhängig von einem, besitzen ihre Armseligkeiten, will sagen, ihr Amt, etwas, was der Seele entweicht und auf die Seele fällt. Vertraue in das Augenglas, nicht in das Auge. Sie haben im Hotel ein Auge aufgemacht, indem sie es peitschen, es schlagen mit einem deiner Spiegel. Wie kommt es, dass ich Augen habe? / Man bringt Käse. Man trägt Erde hinaus. Der Tod legt sich ans Fußende des Bettes, um in seinen stillen Wassern zu schlafen, und schläft ein. / Eine Frau mit friedlichen Brüsten, die Mutter, rückwärts mit der Brust auf meinen Tod zukommend, daher haben ihre Augen mir so viel gegeben, hautnah bei mir, ihre sterblichen Augen sinken sanft an meinen Armen herab. Niemals gab es soviel Schmerz in der Brust, im Rockaufschlag, in der Brieftasche, im Glas, im Metzgerladen, in der Arithmetik! Ein Brustschuss, Erfahrung eines einzigen Auges, mitten auf die Brust genagelt, mitten auf die Brust genagelt, genagelt mitten auf die Brust, gepeitscht von Daten mit Dornen, vergiss mich und stütze mich an der Brust. Im Schatten eines Baumes mit dem Rücken zur Welt geboren, längs eines Weges mit dem Rücken zur Welt. Ich sah einmal einen Baum mir den Rücken kehren und sah ein anderes Mal einen Weg, der mir den Rücken zukehrte. Ein Baum mit dem Rücken zur Welt wächst nur an Orten, wo nie jemand geboren worden war oder starb. Auf dem Rücken schlafen, auf dem Rücken liegend, mit aufgerissenem Bauch, auf dem Rücken liegend, halb durch seinen riesigen Zungenmund und ganz durch den After seines Rückens, eine Uhr, die hinter seinem Rücken ungeduldig flaniert, von andern mit ihren Rücken gesehen werden, wenn ich vorwärts gehe. Dem Bösewicht ein Vögelchen auf den Nacken setzen. Scheu von den Schultern ihr geruhsames Schaffen hören, vor einem Pissoir die Schultern heben, von Schulter zu Schulter, fortgehen, weinen, es für acht hergeben oder für sieben oder für sechs, für fünf, oder es fürs Leben hergeben, das drei Potenzen hat, den zweiten Kummer fest auf die Schultern gedrückt, seinen dritten Schweiß mitten in meine Träne. Von ihren Schultern reißt Fleisch auf Fleisch das blühende Werkzeug. Wie kommt es, dass ich mir ein Ei auf die Schulter gelegt habe, statt eines Umhangs? Der Böse, mit einem Thron auf den Schultern. Der Atem, der Geruchssinn, die Sehkraft, das Gehör, das Wort, der menschliche Glanz seines Seins arbeiten und sprechen durch die Brust, durch die Schultern, durch das Haar, durch die Rippen, durch die Arme und die Beine und die Füße. / Was im Haus verbleibt, sind der Fuß, die Lippen, die Augen, das Herz. / Ein Gesicht, von der unsterblichen und unausdenklichen Luft zerfressen, das Gesicht in der Liebe, nicht im Hass verloren, ein totes Gesicht auf dem lebendigen Leib, mit verkrüppeltem Gesicht, mit verdecktem Gesicht, mit verschlossenem Gesicht, ein starres Gesicht, ein steifes und abgestorbenes Gesicht, ein steifes und mit Nägeln am lebendigen Kopf befestigtes Gesicht. Dieses Gesicht erweist sich als der Rücken des Schädels. Mit Backenknochen die Gesichtsfalte ausstatten, es ist nicht ihr weichster Sporn, der auf ihre beiden Backen haut, sich das Gesicht waschen, indem man es mit festen Laken streichelt, ein schmerzendes Ventil im Wangenbein, Gesichtshaut durchs Telefon, Heraustreten aus dem Gesicht. Er hat keinen Mund und spricht und lächelt, ein Mund, den das Schießpulver wegfraß. Halt den Mund, und du erduldest die Straße, die dir das Los beschied. Mit welcher Stimme schweigen? Rauch im nüchternen Mund, Brot, das sich im Speichel irrt, das mündliche Organ deines Schweigens. Er hat kein Kinn und begehrt und überlebt, sich das Kinn im Rückzug betastend. In Gedanken Seufzer zusammenzählen, helle Hiebe auf den Gaumen hören. Ein Rachen mit trockenem Rand, am Hals das negative Zeichen. Die Lust zu leiden, zu hassen färbt mir die Kehle mit bildsamen Giften. Wäre meine Braut gestorben, mein Schmerz wäre der gleiche. Hätte man mir die Kehle durchgeschnitten, mein Schmerz wäre der gleiche. Er hat keine Nasenflügel und riecht und atmet, in der Nase der Erdboden, der lebendige Unsinn und der tote Unsinn nach Totem riechend. Er hat keine Ohren und hört. Ich sah ihn gähnen, seine unheilvolle Muskelbewegung in meinem Gehör verdoppelnd. Dieses Ohr gibt neun Schläge in der Stunde des Blitzes und neun Lachsalven in der Stunde des Weizens und neun weibliche Töne in der Stunde des Weinens und neun Gesänge in der Stunde des Hungers und neun Donnerschläge und neun Peitschenhiebe, doch keinen Schrei. – In deinem Ohr schaut der Knorpel schön aus. / Meerschweinchen, um sie gebraten zu essen mit dem wilden Pfeffer der Täler! / Traurig bis zum Kopf und trauriger bis zum Knöchel, auf dem Kopf meine Angst, eine kopflose Kraft im Kopf, ein Kahlkopf ohne Hut, ein Kopf, der die Qualen des Kreises in meinen Schritten büßt, sie haben ihren Kopf, ihren Rumpf, ihre Gliedmaßen, sie haben ihre Hose, ihre Mittelhandfinger und einen Zahnstocher, im konkaven Kopf ihr Fasten mitführend. Und hat die Migräne soviel Stirn der Stirn entrissen, so hat er keine Stirn und denkt nach und versinkt in sich, an die Stirn gelehnt, dies da ist ein Auge, jenes eine Stirn, das ist der ferne Staat der Stirn, die Bretter der Stirn, einen Augenblick schlägt deine Stirn den Takt, unbekümmert vor der gesetzgebenden Stirn. Unglücklicher Gott, nimm deine Stirne ab! Eine Laterne, an die Schläfe gehängt, Hörnerpochen in den Schläfen, sich gürten, sich die Unterweisung gürten, die Schläfe. / Ein Mann kommt vorbei, ein Brot auf der Schulter. / Dies sind meine heiligen Schriften, dies meine bestürzten Hoden, Zeiten lorbeerhaften Bissens mit Sinnbildern, Tabak, Welt und Fleisch, übertragendes Verschlingen unter einem Baldachin, zum Klang der Sängerhoden. Das Unendliche zwischen deinen Schenkeln treibend. Das gute Organ, das mit drei Griffen, geht vorüber, Monat für Monat blättere ich in deinem einstimmigen Haar. Haut, innerliches Fingergefunkel, in dem ich ganz bin, schlüpfrig, ein proparoxytonischer Schlupfwinkel, diese Haut. Unten ihren leisen Laut, den ihres Beckens, du zitterst in deiner Scheide, cholerisch, alkalisch, ich mit einem Stein in den Lenden, der Hüfthalter hat ihr weh getan, ihr Durst verursacht. All das gerät gerade jetzt in meinem männlichen Bauch sonderbar in Bewegung. Du und er und sie und alle, drangen gleichzeitig in mein Hemd ein, in meine Holzschultern, zwischen meine Schenkelknochen, Stöckchen. Wie schmerzt mich mein Haar beim Erspähen der wöchentlichen Jahrhunderte, mein Mikrobenkreis, will sagen, meine zitternde, patriotische Haartracht! Es gibt Leute, so unglücklich, die nicht einmal einen Körper besitzen; ihr Haar ist quantitativ, niedrig an Zöllen der geniale Kummer, ihre Wesensart hoch. Nichts, als dass mein Haar nicht mehr wächst, doch dem, der zu mir spricht, seine Flechten ordnen, dem Soldaten sein Haar, bis zu den Haarspitzen im Jahr achtunddreißig. / Los, stillen wir unsren Hunger jetzt mit Gras, lasst Wimmerfleisch uns essen, Seufzerfrüchte, die Schwermutseeele dich als Muse erlabe. / Verscheucht von meinen Schneidezähnen eine ansehnliche Zahl anorganischer Körper, aus meinen eigenen Zähnen trete ich rauchend, schreiend, stoßend, und lasse die Hosen herunter, das Elend zerrt mich aus meinen eigenen Zähnen, aufgespießt von einem Zahnstocher auf die Manschette. Überlege, bevor du meditierst, denn es ist schrecklich, wenn das Unglück einen anspringt und einem der Zahn ganz ausfällt. Der Backenzahn des Vergessens. Der Hotelbesitzer ist eine Bestie, seine Zähne, fabelhaft. / Die Bäckerin denkt an dich, der Schlachter denkt an dich und packt das Beil, in dem der Stahl gefangen ist und das Eisen und das Metall. / Auf die Fingerknochen trommeln, fünf untergebene Knöchlein abgeben, Knöchel ohne Umfang, weinen und Knöchelchen aus den Fingern bilden, dreizehn Knochen, die sich schräg zu den Kloaken stellen, ich esse deinen Knochen im Hinblick auf Christus, den Weichen, du reckst deine hervorstehenden Knochen aus und rückst deinen Kragen zurecht. Das Schrillen des Motors im Fußknöchel, der Tag des Fußknöchels, die Nacht der Flanke, das Jahrhundert des Keuchens. Im Doppelschritt des Gerippes, meine riesige, weiße, beharrliche Rippe. Wascht täglich euer Gerippe. Vom eigenen Blut besprüht mit weiblichen Linien, die verweigerte Blutausscheidung einwärts schwitzen, ich trinke dein Blut im Hinblick auf Christus, den Harten, Milch soll im Blut sein, traurige Blutgefäße roter Richter. Die Ärmsten, ihre Leber durchstöbernd. Leer mein Magen, leer mein Dünndarm, ein Magen, in dem meine zerborstene Lampe Platz fand. Das Herz mit Mut füllen, Würmer, die das Herz nach Einheiten zählt. Ein sterbliches, figuratives, tollkühnes Zwerchfell. Den Nabel befragen: Wohin? Wie? Dies muss mein Nabel sein, in dem ich meine geborenen Läuse tötete. / Im Gedächtnis gutes Fleisch essen, Schinken, wenn Fleisch fehlt, und ein Stück Käse mit weiblichen Würmern, männlichen Würmern und toten Würmern. / Beine eines Geliebten, ohne Beine, ohne erwachsenen Lehm, ohne Waffen. Vertrauen in die Hose, nicht in die Beine. Auf Zehenspitzen gehend, mit einem Brot in der Hand, einem Weg im Fuß. Auf Zehenspitzen vor uns fliehen. Lässt die Tat von einst in der Hand Haare wachsen, halte deinen Dickdarm fest in der Hand, in der Hand verwoben, weine in meine Hand, drücke eine Träne in meinen Backenknochen, eine Hand, an einen einsamen Schuh geklammert, auf Befehl seiner Hände ins Kino gehen, die Krone in der Hand, die Seele an der Hand führen, führe deine süße Gestalt an der Hand, führe deinen Körper an der Hand, eilends die Linke mit dem Hunger fassen und die Rechte mit dem Durst, dieser Zeigefinger, dieses Bett, diese Fahrkarten. Mit welcher Hand erwachen? Hand in Hand mit meinem Schatten. Ellbogen eines Gerechten, ein Arm, der es ablehnte, Flügel zu sein, kurble deinen Arm an, such dich unter der Matratze, das Böse mit den Armen hochhebend. In den Armen eines Blinden unseren Stern wiegen, sich stützen mit dem Arm der Begräbnisehre. Eine fixe Idee, unter meinen Fingernagel geraten, ein abscheuliches System der Luftröhren und der Bergschlucht, sauge des Nachts traurig an meinen Fingernägeln, jemand kommt vorbei und zählt mit den Fingern. Die Haut verlassen, sich kratzen am Steinsarg, in dem wir geboren werden. In welchem Zustand sind deine Poren? Auf den Knien niemals “Nie” sagen, auf den Knien mein Schrecken. Rennen, schreiten, fliehen vor seinen Füßen, um zu fliehen, fliehen und fliehen und fliehen vor seinen Füßen, stillstehend vor lauter Fliehen. Einem Lahmen den Fuß waschen. Mit welchem Fuß sterben? Am Fuß entzünd ich meine Sicheln nur. Vierteiliger Mais mit entgegengesetzten Geburtstagen. Durch die Füße höre ich wie sie sich entfernen. Fern von holprigen, bissigen Fersen. Welchen Sprung spürt der Abgebildete in seinen Fersen. Mit einem Gewissensgeschwür allein gelassen werden, mit empfindlich gespreizten Lepraknoten. Du leidest an einer Endokrindrüse, das sieht man, oder vielleicht leidest du an mir, an meinem schlichten, stillen Scharfsinn. Wie der entwendete Gegenstand sein gleichgültiges Gewicht besitzt, so das operierte Organ sein trauriges Fett. Zieh den Leib an. Da ist eine aus meinen Teilen zusammengesetzte Person, die ich ausfülle, wenn meine Gestalt auf ihrem richtigen Steinchen davongaloppiert, dann der Zorn, der die Seele in Körper zerbricht, den Körper in unähnliche Organe und das Organ in Achtelgedanken.
César Vallejo ( 1892-1938 ) , einer der bedeutendsten Lyriker der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde im März 1938, sechsundvierzigjährig, halbverhungert in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er am Karfreitag desselben Jahres an den Folgen seiner Unterernährung starb. Eine vierbändige Ausgabe der Gedichte ( Spanisch | Deutsch von Curt Meyer-Clason ) ist im Rimbaud- Verlag erschienen .
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- Bernhard Kathan
- HUNGERKÜNSTLER I , Nikolaj Gogol
- HUNGERKÜNSTLER II , Daniil Charms
- HUNGERKÜNSTLER III , Paul Scheerbart
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See also : Maud Ellmann : The Hunger Artists – Starving, Writing and Imprisonment ( czz )
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