Salon Littéraire | Bernhard Kathan : HUNGERKÜNSTLER VII , Simone Weil

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Salon Littéraire | Bernhard Kathan :

HUNGERKÜNSTLER VII , Simone Weil

VORBEMERKUNG. Nikolaj Gogol starb 1852 zu Beginn der Fastenzeit an den Folgen seines Hungerns, César Vallejo am Karfreitag des Jahres 1938 an Unterernährung. An selbst auferlegtem oder aufgezwungenem Hungern starben Simone Weil, Paul Scheerbart, Daniil Charms und andere. Es gibt keinen Grund, das Leben von Menschen, die sich zu Tode gehungert haben, zu verklären. Aber angesichts des heutigen Kunst- und Kulturbetriebes, in dem sich Kunst und Werbung wechselseitig durchdringen, sich oft genug das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden lässt, lohnt sich die Beschäftigung mit Künstlern und Schriftstellern, die verhungert, wenn man so will, gescheitert sind, die sich alles andere als marktkonform verhielten, auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen oder daran zugrunde zu gehen. Mir scheint dies Grund genug, mich mit solchen Schriftstellern und Künstlern zu befassen. Es wird sich eine seltsame Gesellschaft bilden. Überraschend: Nicht die humorloseste. ( Bernhard Kathan )

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Obsttafell Feige ad Simone Weil

Zum Ende der Ernte ein mit Bändern, Blüten und Ähren geschmücktes Rind um das Feld herumführen. Tanzend folgen ihm die Schnitter. Ein als Teufel verkleideter Mann schneidet die letzten Ähren. Gleich darauf tötet er das Rind. Blut fließt auf die Ackerkrume. Ein Teil des Fleisches wird am Abend desselben Tages verzehrt, ein Teil für die Aussaat im Frühjahr aufbewahrt. Zu Weihnachten ein Schwein in einer Teighülle, manchmal mit Mehl aus der letzten Garbe. Doch man stellt es nur auf den Tisch und isst es erst im Frühjahr, zur Zeit der Saat. Gott in Gestalt eines Maisteiges, der nach dem Bilde eines Gottes geformt ist und in einer Zeremonie geweiht wird, die ihn in das Fleisch des Gottes verwandelt. Und wenn der Gott ein Korngott ist, dann ist das Korn sein wahrer Leib. Ist er ein Weingott, dann ist der Saft der Traube sein Blut. Und so genießt der Gläubige, indem er das Brot isst und den Wein trinkt, den wahren Leib und das Blut seines Gottes. Brot und Fische. Das wahre Brot des Himmels. Das Brot des Lebens. Das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wenn einer von diesem Brot isst, wird er für immer leben, und das Brot, das ich gebe, ist mein Fleisch für das Leben der Welt. Mein Fleisch ist eine wahre Nahrung, und mein Blut ist ein wahres Getränk. Gott, der in der Nahrung wohnt. Lamm, Brot. In der Materie, die durch menschliche Arbeit hergestellt worden ist, Brot, Wein. Durch seine Arbeit gibt der Bauer, wenn er diese Absicht hat, ein wenig von seinem Fleisch, damit es Fleisch Christi werde. Wenn die Feldarbeit mich abmagern lässt, wird mein Fleisch wirklich zu Weizen. Wenn dieser Weizen für die Hostie dient, wird es Fleisch Christi.

Jeder, der mit dieser Absicht Feldarbeit leistet, muss ein Heiliger werden. Es genügt, mein Fleisch und mein Blut als tote, fühllose Materie anzusehen und als verzehrbar für die anderen. Die Welt ist von Gott aus der Leiche des Bösen gemacht. Der Teufel mag kein Salz in seinem Fleisch. Senfkorn, Perle, Hefe, Salz. Ein Hirte schlief auf dem nackten Boden, aß trockenes Brot, gesalzenen Fisch, wenn er konnte, und trank Wasser; er wusch sich im Fluss. Ein Eremit, der seit zehn Monaten keinen Menschen mehr gesehen hatte, trifft einen Hirten, der seit elf Monaten keinen Menschen mehr gesehen hat. Die Hochmut des Fleisches besteht darin zu glauben, dass es Zugriff auf die Zukunft hat, dass der Hunger ihm ein Recht gibt, bald zu essen, der Durst ein Recht, bald zu trinken. Die Entbehrung nimmt ihm die Täuschung und lässt es in Gestalt von Angst die Ungewissheit der Zukunft erfahren, das Fehlen von Zugriff, die völlige Machtlosigkeit des Menschen sogar gegenüber der nahen Zukunft. Mein Körper soll ein Instrument der Folter und des Todes für alles sein, was in meiner Seele mittelmäßig ist. Manchmal muss man seinem Denken Gewalt antun, manchmal den Körper festnageln und das Denken sich erschöpfen lassen. Aber man muss den Körper abrichten, dass er nur auf den höherstehenden Teil der Seele hört. Wie ? Ich verlange danach, Gewalt von den Menschen zu erleiden und gezwungen zu sein, mir um ihretwillen Gewalt anzutun; doch für Gott möchte ich nur einfache Dinge tun.

Diese Tiere in mir, die schreien und Gott daran hindern, mich zu hören und zu mir zu sprechen, zum Schweigen bringen. Um Schweigen zu erzwingen, ist es das beste, so zu tun, als ob man nicht hört. Wer feststellt, dass man ihn nicht hört, wird schließlich müde und ruhig. Diese Tiere in mir werden von niemandem gehört werden, wenn ich ihnen nicht meine Stimme leihe. Außerdem darf ich sie selber nicht hören, oder zumindest darf ich es nicht zeigen. Diese Tiere sind das in mir, was mit unterschiedlichen Akzenten von Traurigkeit, Jubel, Triumph, Angst, Furcht, Schmerz und jeder anderen Gefühlsregung – ohne Unterbrechung “ich, ich, ich, ich, ich” schreit. Diese Tiere sind sehr gerissen, wenn es darum geht, dass der Körper ihnen gehorcht, und erfinden viele Vorwände, die nicht von ihnen zu kommen scheinen. Um sicher zu sein, dass der Körper ihnen nicht gehorcht, muss man sich ohne Bedingungen, für eine lange Dauer oder mit häufigen Wiederholungen bestimmte Dinge vorschreiben. Denn man kann sicher sein, dass diese unbeständigen und launenhaften Tiere eines Tages nicht mehr weiter wollen. So dass man mit genügend großer Ausdauer sicher sein kann, sich schließlich gegen sie durchzusetzen. Wenn man Hunger hat, isst man nicht aus Liebe zu Gott, sondern weil man Hunger hat. Wenn ein Unbekannter, der am Straßenrand liegt, Hunger hat, muss man ihm zu essen geben, auch wenn man nicht genug für sich selber hätte, nicht aus Liebe zu Gott, sondern weil er Hunger hat. “Warum ist es erlaubt worden, dass er Hunger hat ?” Während das Denken mit dieser Frage beschäftigt ist, geht man automatisch Brot holen. Wenn man einen Hungrigen sieht, verlangt man nicht danach, dass er Nahrung empfängt, sondern man tut alles, was man kann, um sie ihm zu verschaffen, und wenn man selbst das Notwendigste entbehren müsste. Dieser Unglückliche liegt auf der Strasse, halbtot vor Hunger. Gott hat Erbarmen mit ihm, kann ihm aber kein Brot schicken. Ich aber, der ich da bin, bin glücklicherweise nicht Gott; ich kann ihm ein Stück Brot geben. Das ist meine einzige Überlegenheit gegenüber Gott.

Ist einmal das ganze Verlangen auf Gott gerichtet, verlangt man nicht mehr nach Essen, wenn man Hunger hat. Dennoch tut man alles, was man kann, um sich Essen zu beschaffen. Die Nächstenliebe, die man einem hungrigen Armen zuwenden muss, ist, ihm ein Stück Brot zu geben. Die Nächstenliebe, die man einem vollgestopften Reichen zuwenden muss, ist, ihn um ein Stück Brot zu bitten. Am besten ist es, ein hungriger Bettler zu sein, zu betteln, und einen Teil dessen, was man bekommt, weiterzugeben. Tantalus, von Nahrungsmitteln und Getränken umgeben, doch alle seine Anstrengungen, die hartnäckigsten, die verzweifeltsten, erlauben es ihm nicht, sie zu fassen. Hätte Tantalus vollkommen reglos inmitten der Früchte und des fließenden Wassers verharrt, dann wäre Zeus am Ende von Mitleid ergriffen worden und hätte ihm zu essen und zu trinken gegeben. Mit Geduld die Geduld Gottes erschöpfen. Tantalus ist zu dumm, um selbst in der Ewigkeit der Zeit zu lernen, dass seine Anstrengungen ganz bestimmt nutzlos sind und er deshalb besser in Reglosigkeit verharren sollte. Tantalus, von der Erfahrung belehrt, wendet den Blick ab, schließt den Mund, beißt sich auf die Lippen, wenn sich die fruchtbeladenen Äste zu ihm neigen. Aber wenn die Früchte seine Lippen berühren, kann er nicht anders und muss versuchen sie zu fassen. Dann gehen die Äste bis zum Himmel hoch; er wird von Wut und verzehrendem Durst gepackt, trinkt aus dem Fluss, in dem er sich befindet, und schluckt nur Staub.

In unserem Körper ist ein Mechanismus, der uns, wenn er ausgelöst wird, Gutes in den Dingen hier unten sehen lässt. Man muss diesen Mechanismus verrosten lassen, bis er zerstört ist. Obwohl ich weiß, dass die Dinge mein Verlangen nicht verdienen, finde ich mein Verlangen trotzdem an sie geheftet, und mir fehlt die Energie, sie davon loszureißen. Die im Samen enthaltene Energie ist eine Nahrung für die Geschlechtsorgane und ihr Funktionieren, aber genauso für andere Organe und ihr Funktionieren. Wenn andere Organe diese Energie essen, verhungert die Sexualität. Man kann die Sexualität auf irgendwelche anderen Gegenstände verlegen: eine Sammlung, Gold, Macht, Partei, Katze, Kanarienvogel, Gott (das ist dann aber nicht der wahre Gott). Oder man kann die Sexualität abtöten und eine Umwandlung der Energie, die ihr zugeteilt war, bewirken. Das Brot ist ganz und gar mit Samen gemacht. Nicht mit Leben, sondern mit lebensspendendem Prinzip. Dasselbe gilt für den Wein und die Trauben. (Es gibt tatsächlich eine chemische Ähnlichkeit zwischen dem Alkohol und den Geschlechtshormonen.) Das Fleisch Christi und sein Blut waren nicht aus lebendiger, sondern aus lebensspendender Substanz. Der Samen, der in die Jungfrau eingedrungen ist, war der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist auch der Samen, der auf jede Seele fällt. Um ihn zu empfangen, muss die Seele zu einer bloßen Gebärmutter, einem Auffangbecken geworden sein; etwas Flüssiges, Passives; Wasser. So wird aus dem Samen ein Embryo, dann ein Kind; Christus wird in der Seele gezeugt. Was ich ICH nannte wird zerstört, verflüssigt; an seiner Stelle gibt es ein neues Wesen, gewachsen aus dem Samen, der von Gott in die Seele gefallen ist: Das bedeutet, von neuem gezeugt werden; von oben gezeugt werden; aus Wasser und Geist gezeugt werden; aus Gott gezeugt werden und nicht aus dem Willen des Mannes oder dem Willen des Fleisches. Am Ende dieses Prozesses “lebe ich nicht mehr, sondern Christus lebt in mir”. Es ist ein anderes Wesen, das von Gott gezeugt wird, ein anderes “ich”, das kaum “ich” ist, weil es der Sohn Gottes ist.

Es gibt keine “Adoptivkinder”. Die einzige Adoption besteht darin, dass, so wie ein Parasit seine Eier in das Fleisch eines Tieres legt, Gott in unsere Seele ein Sperma hineinlegt, das, wenn es zur Reife gelangt ist, sein Sohn sein wird. Auf diese Weise entsteigt die himmlische Aphrodite, die die Weisheit ist, dem Meer. Unsere Seele muss ausschließlich ein Ort der Aufnahme und Nahrung für diesen göttlichen Keim sein. Wir dürfen unserer Seele nichts zu essen geben. Wir müssen diesem Keim unsere Seele zu essen geben. Danach isst er von selbst, unmittelbar, alles, was zuvor unsere Seele aß. Unsere Seele ist ein Ei, in dem dieser göttliche Keim zum Vogel wird. Der Vogelembryo ernährt sich vom Ei; zum Vogel geworden, bricht er die Schale auf, schlüpft aus und pickt Körner. Unsere Seele ist durch eine Haut aus Egoismus, Subjektivität, Täuschung von jeder Wirklichkeit getrennt; der von Gott in unsere Seele gelegte Keim Christi ernährt sich von ihr; wenn er ausreichend entwickelt ist, bricht er die Seele auf, sprengt sie und tritt mit der Wirklichkeit in Berührung. Das ist die Liebe im Mikrokosmos. Jene des Makrokosmos bricht, sobald ihre goldenen Flügel gewachsen sind, das Wetter auf und tritt auf die andere Seite des Himmels. Diese Symbole müssten den Bäuerinnen, die Hühner züchten, erzählt und erklärt werden. Vollkommene Jungfräulichkeit, die in den Adern eine farblose Flüssigkeit strömen lässt. Ist das Vorhandensein von normalem Blut bei einem vollkommen jungfräulichen Menschen das Zeichen der Liebesvereinigung mit Gott? Und bleibt das Wasser neben dem Blut als ein Zeugnis vollkommener Jungfräulichkeit ? “… kostbarer den Geiern als ihren Frauen.”

So ist die menschliche Liebe. Man liebt nur, was man essen kann. Wenn etwas aufhört, essbar zu sein, liebt man es nicht mehr und überlässt es jedem Beliebigen, der darin seinerseits Nahrung finden kann. Die menschliche Liebe wird von Verwandlungen begrenzt. Es könnte mir etwas geschehen, was bewirkt, dass keiner von denen, die mich lieben, mir noch die geringste Aufmerksamkeit schenkt. Für die, die mich lieben, bin ich nichts Gutes; ich biete ihnen die Gelegenheit, etwas zu genießen, was nicht ich bin. Es liegt nur an meinem Verlangen, ob dieses Etwas Schlamm ist oder Gott. Die menschliche Liebe ist nicht bedingungslos. Ich liebe eine Frucht, aber sobald sie verfault ist, liebe ich sie nicht mehr. Ich kann für die Geier sehr viel kostbarer werden als für irgendeinen beliebigen Menschen, und irgendein beliebiger Mensch, der am meisten geliebte Mensch, kann für die Geier viel kostbarer werden als für mich: “am Boden lagen sie, kostbarer den Geiern als ihren Frauen”. Es ist nicht wahr, dass die menschliche Liebe stärker ist als der Tod. Der Tod ist sehr viel stärker. Sie ist dem Tod unterworfen. Lieben, was lebendig ist, ist einfach. Schwierig ist es zu lieben, was tot ist. Die Liebe zu einem Toten ist dem Tod nicht unterworfen; ihr Gegenstand kann nicht sterben. Aber eine solche Liebe, wenn sie Liebe ist und kein Traum, ist übernatürlich. Die Liebe der Niobe ist menschliche Liebe, die Liebe der Elektra ist übernatürliche Liebe. Und dennoch musste Elektra ans Essen denken. Man müsste für die Bauern einen geistlichen Kalender, ein jährliches Thema des Nachdenkens zusammenstellen. Zur Zeit der Saat, der Sämann, dessen Korn auf Stein fällt oder in schlechte Erde oder gute Erde. Die Feldarbeit ist die Vorbereitung einer Beerdigung. Die Bauern müssten etwas Korn behalten, um es selbst zu mahlen und das ganze Jahr über selber Hostien daraus zu machen. Ihnen erklären, dass die Arbeit im wörtlichen Sinne Fleisch verbrennt und dass in gewissem Sinne ihr eigenes Fleisch in dieses Brot verwandelt worden ist. Die Konsekration macht aus diesem Brot das Fleisch Christi. Sie essen es, und durch die Verdauung wird das Fleisch Christi zu ihrem Fleisch. Der Kreis ist geschlossen.

Bitten, dass Gott aus unserem Fleisch das Fleisch Christi macht, damit wir für alle Unglücklichen essbar werden. Die Seele des Menschen ist durch seine eigenen Anstrengungen und durch die Schicksalsschläge auf sich selbst gerichtet. Sie ist bearbeitet. Ein unendlich kleines Gutes fällt in sie, ohne dass man es weiß; man merkt es erst nachträglich. Es wächst von allein. Wenn es reif geworden ist, sendet Gott den geistigen Tod. Das Korn liegt also in der Erde, ist beerdigt, dann trägt es Früchte. Oder die Ähre wird gemahlen und in Brot verwandelt. Der Mensch lebt nicht mehr in sich, sondern Christus lebt in ihm; sein Fleisch ist Christi Fleisch geworden, und die Unglücklichen essen es. So ist ein Menschenleben wie ein Jahr. Alles, was der Saat vorausgeht, ist Feldarbeit. Bei jedem Schicksalsschlag sich selber sagen: “Ich werde bearbeitet.” Bei jedem kleinen oder großen Leid. Man kann pflügen und säen und vor Hunger sterben. Es gibt keinerlei Garantie. Man muss pflügen und säen, nicht um zu ernten, sondern aus reinem Gehorsam. Handeln und zugleich auf die Früchte des Handelns verzichten. Für die Mädchen das Gleichnis von den klugen Jungfrauen. Jedes Mädchen lebt in der Vorläufigkeit, in der Erwartung, bereit für einen Augenblick, in dem es das väterliche Haus verlassen wird, um ein neues und unbekanntes Leben zu beginnen. Dasselbe gilt für jede menschliche Seele. Die Ankunft des Bräutigams ist entweder die Gnade oder der Tod. Es ist eher die Gnade. Wir lieben einen Menschen nicht wie Hunger, sondern wie Nahrung. Wir lieben als Menschenfresser. Auf reine Weise lieben bedeutet, in einem Menschen seinen Hunger lieben. Da alle Menschen immer Hunger haben, liebt man also immer alle Menschen. Manche sind teilweise gesättigt, man muss in ihnen ihren Hunger und ihre Sättigung lieben. Aber wir lieben ganz anders. Die geliebten Menschen liefern uns durch ihre Gegenwart, ihre Worte, ihre Briefe Stärkung, Energie, einen Antrieb. Sie haben auf uns dieselbe Wirkung wie ein gutes Essen nach einem kräftezehrenden Arbeitstag. Wir lieben sie also wie Nahrung. Es ist also eine Kannibalenliebe.

Unser Hass, unsere Gleichgültigkeit sind ebenfalls kannibalisch. Menschliche Zuneigungen sind Zuneigungen von Vampiren. Wir lieben jemanden, das heißt, wir lieben es, sein Blut zu trinken. Ihr hattet Hunger, und ihr habt mich gegessen. Es stimmt, dass man ihn essen muss. Eine Frucht nicht essen – eine Tür nicht öffnen – nicht an den weißen Bären denken: “Von diesem Universum ernähre dich durch Verzicht.” Im Nächsten den Hunger lieben, der ihn quält, und nicht die Nahrung, die sich uns in ihm anbietet, um unseren Hunger zu stillen. Das setzt voraus, dass man darauf verzichtet, vom Menschen zu essen, dass man nur mehr Gott essen will. Aber die Substanz Gottes ernährt, zumindest am Anfang, nur einen Punkt der Seele, der so sehr in der Mitte liegt, dass wir von seiner Existenz nichts wissen. Die übrige Seele hat Hunger und möchte gern vom Menschen essen. Nur jene können gerettet werden, die etwas zwingt innezuhalten, wenn sie sich von dem, was sie lieben, nähren möchten. Jene, in die das Gefühl für das Schöne die Betrachtung gelegt hat. Schauen und Essen sind zweierlei. Man muss sich für das eine oder andere entscheiden. Man nennt das eine wie das andere lieben. Nur diejenigen haben eine gewisse Hoffnung auf Heil, die hin und wieder einige Zeit damit verbringen, zu schauen anstatt zu essen: “Der eine isst die Früchte,- der andere schaut ihm zu.”

Der ewige Teil der Seele ernährt sich von Hunger. Wenn man nicht isst, verdaut der Organismus sein eigenes Fleisch und wandelt es in Energie um. Genauso die Seele. Die Seele, die nicht isst, verdaut sich selbst. Der ewige Teil verdaut den sterblichen Teil der Seele und wandelt ihn um. Der Hunger der Seele ist schwer zu ertragen, aber es gibt kein anderes Mittel gegen die Krankheit. Den vergänglichen Teil der Seele verhungern lassen, während der Körper noch lebendig ist. Auf diese Weise geht ein Körper aus Fleisch direkt in den Dienst Gottes über. Wer die Sonne isst, wird leben. Wer das Licht isst, wird leben. Wenn wir Chlorophyll besäßen, würden wir uns von Licht ernähren wie die Bäume. Christus ersetzt es. Ich teile dir mit, dass ich dich zu essen beabsichtige. Mögest du mir stets helfen emporzusteigen, dass ich immer die Höhe der Berge erklimmen kann, und möge ich niemals ungeschickt sein. Ich bitte dich darum, Sonnenblumenwurzel. Du bist das größte aller Geheimnisse. Mahlzeiten bei feierlichen Anlässen, Festen, Zusammenkünften innerhalb einer Familie oder unter Freunden – selbst von zwei Freunden – etc. Leckereien, Getränke. Besondere Speisen: Truthahn und kandierte Kastanien zu Weihnachten [ Christmas pudding ] – Navettes zu Mariä Lichtmess in Marseille – Ostereier – und tausend lokale oder regionale volkstümliche Bräuche (die beinahe verschwunden sind). Die Freude und die geistige Bedeutung des Festes liegt in der für das Fest typischen Leckerei. Wichtigster Teil des Unterrichts = lehren, was erkennen ist. Nurses.

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Simone Weil ( 1909-1943 )

Philosophin und Mystikerin, hungerte sich zu Tode, nachdem man ihr es untersagt hatte, mit dem Fallschirm über dem besetzten Frankreich abzuspringen, um dort als Partisanin zu kämpfen. Sie starb am 24. August 1943 in Ashford. Auf dem Totenschein stand: “Versagen des Herzens infolge Unterernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene tötete sich selbst durch ihre Weigerung zu essen, während ihr seelisches Gleichgewicht gestört war.”

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Bernhard Kathan

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