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Salon Littéraire | Angelika Reitzer :
Über das Ausmessen meiner Schritte 1
immer darüber schreiben können, was man kennt. (Ach, nur!)
Drüben singt Lotte Lenya, und ich muss an Ernst Busch denken, an unsere Abende in der Fehre, Jot spielte halbe Nächte Busch und Lenya und Brecht und wir servierten B52 (aber auch White Russian), und einmal brannte auch wirklich eine Straße weiter ein Supermarkt und ein anderes Mal fuhr ich in der Nacht nach Weimar, ich hatte an dem Abend nicht so viel getrunken, aber auch nicht nichts, am Beifahrersitz Peter, was auch immer referierend, es fiel der Schnee, um uns große Wolken, gar nichts mehr war zu erkennen, nur zu ahnen die Strecke, eine Autobahn mit wenig Autos, und die Limousine drehte sich einmal um sich selber und uns war nichts passiert, nur nüchtern war ich mit einem Mal und ernüchtert und am nächsten Tag ging ich zur Arbeit ins Palais, als eine persona non grata, die ich da bereits war aus diplomatisch-intriganten Gründen, die sich mir eigentlich nie wirklich erschlossen. Wir (Jot und ich und Martina und ein paar andere) gaben unsere Einnahmen (von den B52s und den White Russians, von dem Bier und was wir sonst noch ausschenkten) denen, die es akut brauchten, weil Handys noch teurer und noch nicht ganz so üblich waren wie heute und Demo-Organisation zum Beispiel mit einem Mobiltelefon leichter ging, oder es wurden ein paar Anwaltsstunden bezahlt, solche Sachen. Viel verdienten wir nicht. Aber mit dem braun gestrichenen Raum gab es einmal in der Woche einen Ort, an dem viele von uns gerne zusammenkamen, oft bis frühmorgens blieben, Ausstellungen wurden organisiert und Lesungen und natürlich eine Art von Kino. Auseinandersetzung wie an vielen Ecken und Enden der Stadt. Heute ist das alles schick und die Besetzer von damals haben Kinder oder sie wohnen schon lange nicht mehr dort, die Besetzer von ehemals (die auch damals schon geduldet waren) sind eben Besitzer jetzt, aber das sage ich in diesem Zusammenhang ohne Vorwurf.
Jot erklärte mir jedenfalls den Unterschied zwischen Fordismus bzw. Postfordismus und Keynesianismus, wir zogen während meiner unseligen Weimarer Zeit in eine Wohngemeinschaft beim Zionskirchplatz. Wochenende für Wochenende renovierten wir daran ein bisschen weiter. Es dauerte ziemlich lange, bis die Wohnung ungefähr so aussah wie wir das wollten und bis sie bewohnbar war. Im Badezimmer behielten wir den Badeofen, was bedeutete, dass wir kalt duschen mussten oder mit Holz einheizen, Kachelöfen in den Zimmern versteht sich von selbst. Oft gingen wir schon am frühen Samstagnachmittag in die Kapelle (oder so ähnlich, ein kleines Lokal gegenüber von der Zionskirche) und tranken zum Feierabend Sekt auf Eis oder wir arbeiteten länger und gingen dann in ein indisches Restaurant nahe der Eberswalder Straße. Jot studierte damals nicht besonders intensiv, es war ihm auch die Perspektive abhanden gekommen, sein vor 1990 begonnenes Afrikanistik-Studium wurde von ihm lange Zeit vernachlässigt und er selber auch, aber das war mir nicht so deutlich und nicht so klar wie heute. (Aber ach, das ist nicht wahr. Natürlich war es mir bewusst, war ja auch gar nicht zu übersehen und worüber man nicht genau Bescheid wusste, darüber sprach man mit Vertrauensleuten. Also Jot hatte einen besonderen Hang zu klugen Frauen, die mochte ich dann meistens auch, was ja nicht so schwierig war. Es wurde ja aus diesem Hang meistens nichts weiteres, es entstanden daraus nicht eine Reihe oder Menge hintereinander folgender oder nebeneinander herlaufender Beziehungen, Affären o.ä. Was eben auch daran lag, dass Jot sich scheute vor allem oder allen, was oder wer gut für ihn hätte sein können. Klingt jetzt schlicht, war damals aber nicht immer komplett überschaubar. Und es war schon eher schwierig, über ein so ewig hingezogenes Studium konkret zu werden. Ich meine, so spießig zu sagen, jetzt mach doch endlich dein Studium fertig!, wollte dann niemand sein, auch wenn viele oder eigentlich die meisten unserer Freunde ihr Studium abschlossen oder sich zumindest sichtlich in diese Richtung bewegten. Die anderen waren eh nur manchmal da, zum Auftanken oder was weiß ich, die Eltern besuchen oder eben mal vorbeischauen, dann ging es weiter im riesigen Camper nach Spanien.)
immer nur vom Bekannten kann ich reden, von dem, was ich gesehen und verspürt habe, das meiste später erst verstehend, und auch nicht alles.
Und wie kann denn das gehen : immer nur prekär, das sei doch schon hinlänglich bekannt und gekaut und verdaut und Herkunft, na, das ginge doch noch, oder Stummheit einer Herkunftsfamilie oder Angst vor der Stumpfheit und dass die ausbricht oder sich ausbreitet, na ja. Immer nur dieser Gegensatz Provinz/Großstadt (müsse dann natürlich Berlin sein, gähn), und diese ersten Schritte, vor allem immer dieser Anfang von Zukunft, der sei wirklich enervierend und postpubertär und dafür sei die Autorin ja nun wirklich schon zu alt. Wie überhaupt immer nur die paar Topics angeworfen werden (ich weiß schon, sagt man nicht mehr. Das ist eher so ein Eighties-Wort [das auch, ja eh], mir aber egal; ich will gar nicht darüber nachdenken müssen, wie das jetzt heißt, weil schon das Herzeigen eines solchen Gedankengangs ja beweist, dass man nicht ganz auf der begrifflichen Höhe ist und so – also wozu dann noch aus dem Fenster hängen, wenns eh schon keiner mehr glaubt), immer eigentlich eine Auseinandersetzung mit ein paar Geschichten, die als immergleicher Horizont und Personalbüro wahrgenommen, einmal zeitgenössisch treffend und dann wieder abgegriffen, fad, schillernd usw. usf. gelten. Beisatz. Aber was sie wirklich ausmacht, ist ihre Sprache. Brösel brösel, hier ein bisschen Inhalt, brösel, da ein schwebender Doppelpunkt brösel knick Sprache und Sprechen, Strich, Summe, aus.
also : heute schreibe ich. Zuerst war ich im Stiegenhaus, hab zum Kaffee eine Zigarette geraucht, die Freundin des jungen Nachbarn kam die Treppen herauf und begrüßte ihn von weitem mit den Worten “ich hab so einen Hunger”, und erschrak, als sie mich sah (ich dagegen hatte ja gerade gegessen, hatte mir ein kleines Mittagessen zubereitet aus dem, was da war, bin für die Reste zuständig in dieser Familie, die meine ist und gar nicht aus Resten, sondern Originalen besteht), eine halbe Zigarette später verlassen sie zusammen das Haus; heute schreib ich : ich räume einen Luftballon zur Seite und setze mich in den Lesesessel, den We mit in unseren Haushalt gebracht hat, ein in seiner letzten WG geerbtes Monster von einem Sessel, wir können uns nicht überwinden und es durch ein moderneres Möbel ersetzen, ärgern uns manchmal über seine Hässlichkeit, die auch nicht durch seine potenzielle Herkunft (es sei ein Holzmeister-Stuhl, behauptet ein Architektenfreund, was weiß ich) wettgemacht wird. Mir bleiben ein paar Stunden, bis ich meinen Sohn aus dem Kindergarten abhole, ich bin in dem Text, den ich schreiben möchte, aber noch nicht angekommen. Immer wieder schleiche ich um ihn herum, denke an ihn wie an etwas, das zu bewältigen ist. Ich will weiterhin “erzählerische Texte, wie ich sie verstanden habe” (Thomas Kling) schreiben, aber ich verstehe nicht immer auf Anhieb alles, im Gegenteil. Und es ist auch so oft ein neuer Anfang zu machen, einiges hat sich doch schon als möglich erwiesen. Also wieder an den Beginn, an einen.
Ich will schon längst zu Jot wieder Kontakt aufnehmen, der sein tiefes Tal vielleicht überwunden hat, seine Studien fortsetzt und, das hoffe ich jedenfalls, in seiner Gegenwart angekommen ist. Nicht nur, weil ich mit ihm über John Maynard Keynes sprechen will, aber ja, auch deshalb. In Wirklichkeit war die Freundschaft mit Jot auch eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit dem, was heute eh immer nur als Neoliberalismus und Globalisierung beschlagwortet wird. Waren Begriffe nicht nur Schlagwörter oder Zwischentitel in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die man maximal überflog, sondern wurde über Inhalte diskutiert, für mich war das oft eine Herausforderung, der ich mich aber stellte.
Das meiste aus meiner Jetzt-Zeit hilft mir gut durch den Tag, strukturiert ihn naturgemäß, und diese Struktur zu füllen, ist auch immer wieder eine Herausforderung, manchmal wieder hänge ich in einer Schleife meiner Herkunftsgeschichte, es stellt sich dann die Frage der Existenzberechtigung und alles, alles vermag ich hierbei in Frage zu stellen. Ob ich denn, so mein Vater bei meinem letzten Besuch, nicht wieder eine Anstellung anzunehmen gedenke. Er hatte kurz von der Zeitung aufgeschaut oder auch nicht, wir redeten nicht wirklich miteinander, saßen einander gegenüber, blätterten in lokalen Zeitungen, irgendwas. Nun, der Arbeitsmarkt kann eigentlich froh sein, dass ich als Schreibende mein Auslangen finde, eine weitere jobsuchende Akademikerin ist da nicht wirklich notwendig, aber so antwortete ich nicht, weil für meinen Vater die neoliberalen Zustände nicht durchblickbar sind, er kann zwar über Teuerung reden und wie wenig die seinen eigenen Bereich, ihn als Produzenten und Verkäufer betrifft (betraf), also immer nur passiv, da greift sie und wirkt sich aus, die Teuerung und das ist natürlich für ihn wie für viele andere Menschen nicht sehr positiv zu bewerten. Er kann über Politikverdrossenheit schwadronieren, aber wir meiden beide dieses Thema, das heißt wir nehmen uns vor, Tagespolitik nicht anzuschneiden, es gelingt aber meistens nicht und weil ich früher ihm und der Partei, in der er sich engagierte, immer Vorwürfe gemacht habe, macht er heute regelmäßig mir und der Partei, die ich meistens wähle, Vorwürfe. Mein Vater steht in einem permanenten Rechtfertigungszwang, aber seine Argumente sind nicht besonders gut und deshalb sitzen wir manchmal uns gegenüber, der eine isst eine Kleinigkeit oder beide blättern in der Lokalzeitung, je nachdem, was gerade herumliegt und dann fragt mich mein Vater, wie meine Zukunft ausschaut und ob ich wieder einmal arbeiten gehen werde und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm das alles nicht geheuer ist, zumindest nicht die Art, wie ich mein Leben verbringe.
und dann : wie die Gedanken entstehen, im Gehirn, das ist eine Frage, die weiterhin zu stellen ist. Welcher Widerspruch tut sich da auf am Weg, auf dem nicht zu übersehen ist, wie gedankenlos die einen (sind das alle?, sind das immer die anderen?, bin ich das?) ihren Weg gehen. Aber nein : ich kann ja immer nur, ich stolpere dabei doch über die, die längst schon (immer) auf der Strecke geblieben sind/wahrscheinlich, weil ich bei allem Glück (ach, Glück, das glaubst du doch selbst nicht), bei aller Mühe (ja, das ist immer noch die des Zur-Sprache-Kommens), aller Gleichgültigkeit (das bin nur ich), die ich da in die Sonne lege (weil es wieder ein Herbst ist, in dem nach dem Nebel die Sonne herauskommt/ist nicht vom Himmel gefallen), ich bin zur Strecke gebracht, ich bin gestolpert, ich mache mich weiter auf die Suche nach meinem Text : die Fragmentierung alles Lesbaren, das Fragment unseres Alltags, dieses fragmentarische Leben, das wir führen können (gerade noch), eint jene unspektakulären “prekarii” und mich auf der Suche nach meinem Text = Leben = das, was zu erzählen ist. Dieser kurze Priessnitz-Satz (“wie die Gedanken entstehen im Gehirn”) provoziert mich, die Frage über das Fragment hinaus aufs Neue zu stellen und die Erzählung voranzubringen, das Fragment eben nicht aus dem Auge zu verlieren, das Ich zusammenzusetzen – in Wahrheit sind auch die Vergleiche mit der Montage und dem Schnitt unzureichend, denn sie suggerieren, dass das Material überschaubar, nein, dass es als Ganzes verfügbar, vorhanden wäre, nun : es ist so nicht.
Die Lesbarkeit einzelner Biografien hat radikal abgenommen bzw. ist heute so nicht mehr gegeben. So Sennett in “Der flexible Mensche”, aber auch in “Die neue Kultur des Kapitalismus”. Muss manchmal an André Vladimir denken, der ja das “Handwerk” von Sennett liebt, aber behauptet, die Soziologie zu verabscheuen. Was dann? Reine Kunst? Den Intellektuellen ist das zwar auch einigermaßen klar (Was? Bourdieu hat das Wort “prekär” schon in den 80ern verwendet?! – Ja, hat er.), aber lieber wollen sie sich mit einer Form von Science Fiction beschäftigen, in der das alles nicht so offensichtlich rüberkommt und in eine spannende Story gepackt ist, ist ja wahr. Auch Schriftsteller vermeiden es doch eher, von der Fragmentierung ihrer Existenz zu sprechen. Es ist einfach – und ja, das hab ich auch schon mehrmals gesagt – unsexy über sich selbst als von einem erfolglosen Menschen zu berichten. Man darf schon den Gesetzen des Marktes widersprechen und zwar laut und deutlich. Aber nur, wenn man diese (Gesetze) gleichzeitig für sich nutzen kann und dies keinen Einbruch der Verkaufszahlen bedeutet.
Textzimmer, Räume aus Sprache oder Wahrnehmung – noch kann gar nicht über die “Zeit” gesprochen werden (ich kann es nicht), ich trete immer erst ein und beim Eintreten, naturgemäß, fällt die Vergewisserung über diesen Raum unwillkürlich gegen mich aus.
dann bleibt nur, alle Räume auszuleuchten, auszumessen/beneidenswert die Männer mit ihrer Lasermessgeräten, die gleich alle Maße im Kästchen haben, ein Knopfdruck genügt und sie wissen Höhe Breite Länge, auch wenn sie nicht zu erfassen vermögen, aus welchem Material die Wand oder welches Bild an der Stelle hing, wo jetzt ein dunkles Rechteck usw., aber so eine Laserliteratur kann ich nicht verfassen, ich kann nicht auf den Knopf drücken, ich schreite und hoffe ja nur, dass ich das Ausmaß meines eigenen Schrittes richtig einschätze, wenigstens einschätzen, muss eben immer im Vagen bleiben und nur natürlich, dass sich die Männer in zerknitterten Leinenanzügen oder die akkurat gekleideten darüber empören.
alles liegt vor mir, das Hinaustreten ins Freie, das auch ich für mich erhoffe, vielleicht ist das die Überwindung der Sprache, das Nichts hinter dem Alles und kein Zuviel, der Blick in die Weite, Ebene, eine, die nicht durchschritten werden muss, eine, die da ist auch für mich.
ich natürlich, zu kleinlich und zu klein in meiner Selbstwahrnehmung, gestehe mir das Nicht-Loskommen von meiner schweren Erde nicht zu (“Wir träumten grau und weiß und gelb, den wuchtig bewölkten Himmel, die Ähren, die Stoppeln, die festen Sandwege.” – Selbst als er in der Weltstadt New York lebt, kennt Johnson nur eine Heimat : die Provinz.), ich lasse mir etwas sagen, auch wenn ich es dann, wenn ich mich überwunden habe, von mir weise/zu leise wohl und es will auch im Übrigen niemand hören, es sind auch die Urteile schon gefällt und ein Buch zum Beispiel liegt doch längst schon ganz unten im Stapel und alles, was darauf zu liegen kommt, wie leichtfüßig oder oberflächenglatt, wie verspielt oder wie überhaupt auch es daherkommen mag, darf beschweren und ich lasse mich beschweren, ich wieder, ich.
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- | espace d’essays | Valerie Besl : “ein rascheln ist dort wo ich glaube zu sein” oder “Wie kann man überhaupt (noch) erzählen ?” – Laudatio zur Verleihung des Reinhard Priessnitz-Preises 2008 an Angelika Reitzer
- weblog angelika express
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