Salon Littéraire | Dieter Sperl : FACEMISSION

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Salon Littéraire | Dieter Sperl :

FACEMISSION

mit Grafiken von Gerhard Kepplinger

Zwei Schauspieler, A (ein Mann) und B (eine Frau), sitzen sich auf der Bühne gegenüber. Die beiden beginnen schon mit ihrem ersten Satz über das Theater, ihre Arbeit und das Publikum zu sprechen, indem sie, wie sie behaupten, Sätze formulieren, die ihnen vom Schriftsteller und dem Regisseur untergejubelt worden sind. Beide versuchen sich in quasi erkenntnistheoretischen Standortbestimmungen. Unterbrochen wird dieser Diskurs über die Bedingungen des Erlebens von Unmittelbarkeit anfänglich nur durch den Dialog ihrer beiden Handpuppen: Fini und Hermann, Königin und König von Kritzendorf, operieren sozusagen als die miniaturisierten Befehls(in)haber des Theaters. Fini sagt dann auch irgendwann und gleichsam richtungsweisend: “Schauspieler, die wir eingekauft haben, spielen, was wir von ihnen wünschen, damit sie unserem Volk den Spiegel vorsetzen, der uns gefällt und uns gut aussehen lässt.”
Aber mittendrin beginnt noch eine andere Geschichte, nämlich jene, die B immer schon erzählen wollte: Eine Journalistin (Valerie), die einem Kunstdiebstahl auf der Spur ist, verliebt sich in jenen Killer (Bruno), welcher aus gerade diesem Grund auf sie angesetzt worden ist. A und B beginnen diese Geschichte gemeinsam herzustellen, indem sie sie – einander dabei immer wieder abwechselnd und ergänzend – erzählen. Aber die beiden werden auch, worüber sie sprechen: Bruno und Valerie. In rasanten Bewusstseinsschüben geht es vor- und rückwärts: Als “Kinder” erzeugen sie (mit ihren fünf Fingern) ihr eigenes (Meta) Theater; eine Art Schaukampf findet im Repräsentanztheater statt: Mann-Frau, Killer-Cop, zwei Betriebstsysteme in Hochform, zwei Schiesseisen im maxican standoff, ein gelassenes Lächeln, um mit einem darauf folgenden augenblicklichen Bewusstseins-Wechsel wieder in eine gleichsam diskursive Duellsituation zu gelangen. Dieses permanente Hin und Her zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen mündet zuletzt (und beinahe vollständig) in einer finalen Szene, in welcher sich ein Killer und ein Cop, als solche stellt sich die Journalistin am Schluss heraus, gegenübersitzen. Beide, kühl-erregt und zugleich hell-wach, auf der Spur nach einem Muster (in diesem Fall ist dies quasi ihr Double), in welchem der andere den letzten noch ausständigen Baustein desselben darstellt, in einem Kampf auf Leben und Tod. “Aber eine Kugel bleibt immer im Lauf für den möglichen letzten Fall, der akut mein Schicksal betrifft”, wird Bruno einmal sagen…
Fini: “Schauspieler spielen sich die Seele wund, und damit begehren sie das Herz der Zuschauer – am Rande möglicher Verwandlungen.”

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FACEMISSION

Personen : Bruno, Hermann,
Valerie, Fini

Gewidmet allen müden Kriegerinnen und Kriegern der leeren und
sprachlosen Sommertage

Valerie: Wieso fragst du mich das? Wir kommen, wie jeden Abend, ganz normal zur Tür dieses altehrwürdigen Hauses herein und bewegen uns schnurstracks hinter die uns zugewiesene Glaswand, und wenn wir dahinter endlich zu spielen angefangen haben, geht’s auch schon mit der Aufmerksamkeit und der Langeweile im Publikum los, wie wir an dieser Stelle zu wissen behaupten müssen. Und üblicherweise wird auch irgendjemand der erste sein, der sich erträglich mit uns langweilt, ein anderer der zweite, der uns aufmerksam in all unseren Darbietungen und Wendungen beiwohnt, schließlich noch ein sicherer dritter, der vermutlich parteilos in einer Mitte sitzt. Manche werden auch heute wieder denken, für was sich da zwei affektierte Schauspieler auf der Bühne zu operieren gezwungen fühlen, die bloß, wenn wir ehrlich sind, wirklich gute Schauspieler, so wie sie halt sein sollen, und wir sie auch kennen, in ihren unnachahmlichen Bewegungen, aus welchen heraus sie in uns ihre Geschichten erzählen, nachzuahmen versuchen. Daneben wird’s zugleich welche geben, die, kaum sind sie bei der Tür hinaus, schon zu toben beginnen, weil sie sich gern an ihren scheinbar selbsterfundenen Beurteilungen delektieren. Und ganz weit hinten höre ich auch, rechtzeitig, eine alte Frau, die mit ihrem anhänglichen Hut in unsere Richtung fuchtelt, lauthals rufen: Was macht ihr beiden Landeier denn hier? Geht gescheiter Kühe melken! Oder die Schafe eintreiben, wie es euch halt beliebt, aber verschwindet endlich!

Bruno: Was machen wir hier eigentlich wirklich?

FACEMISSION_Grafik_Copyright_Gerhard_Kepplinger

Valerie: Was wir hier machen? – Bist du mühsam! Du warst gestern schon so mühsam. Und heute detto. Wir arbeiten auf dem ehemalig unsterblich berühmten Silbertablett, was sonst!

Bruno: Und wieso geben wir uns mit unserer hausgemachten Situation zufrieden, wenn wir die Zuschauer auch komplex handhaben und beispielsweise für einige unserer befreundeten Zwecke nützen könnten?

Valerie: Warum musst du dir eigentlich in Permanenz ein Publikum ausdenken für deine auswendig gelernten Hausübungssätze?

Bruno: Wir wissen beide, dass es kein Zufall ist, dass wir hier vor einem schweigenden Publikum spielen, das durch eine vertraglich gesicherte Glaswand von uns getrennt in ihren eigenen Erwartungen sitzt. Ich habe kein Netz mehr. Geht dein Handy noch?

Valerie: Ich verstehe definitiv nicht, hab es im Übrigen nie getan, warum du fortwährend diese Zuhörerschaft brauchst, und jede Nacht, wenn wir uns hierher, hinter die Glaswand begeben, ist das Publikum schon da, und dann noch das ohne Unterlass immer nach den unglaublichsten und betörendsten Sensationen lechzende in deinem Hirn, das, scheint’s, nie aufhört. Gehen wir abends was trinken, immer deine maßlose Öffentlichkeit, im Grunde bei jedem Satz, den du mir vorführst aus deinem Leben. Wir alle existieren gewissermaßen in dieser deiner selbstgewählten Vorstellungskraft und Schwärmerei. Ich frage mich oft, wo deine Wirklichkeit wirklich an fängt? Oder wo dein ausuferndes Publikum greifbar wird? Weißt du überhaupt, wie dein Nachhauseweg eigentlich aussieht? Könntest du ihn gewissenhaft beschreiben? Kannst du ihn in dir sehen? Allen Windungen und Wendungen nachspüren? Kannst du ihn riechen, wenn es Sommer ist, wenn es Winter ist, die verschiendensten Teilabschnitte, wenn es regnet, im März, auch den Geruch der Automobile, oder wenn du das Fenster zur Strasse hin öffnest, an einem beliebigen Tag im Jahr? Weißt du, ob deine Frau heute Nacht zuhause auf dich wartet? Und welches Kleid sie tragen wird, falls sie eins trägt? Welchen Schmuck, falls sie welchen trägt? Was deine Kinder machen? An was sie den ganzen Tag gedacht oder was sie gehofft haben? Dein Hund? Steht er nicht schon an der Tür, wenn du die Wohnungsschlüssel aus deiner Hosentasche ziehst? Wenn ich ehrlich bin: Du bist eigentlich nie vor dieser Glaswand vorherrschend geworden, bist ständig ganz woanders. Niemals eine Ruhe zu haben, für was soll das gut sein? Sag!

Bruno: Und du? Was ist mit dir? Du erlebst, wenn ich das bisher recht kapiert habe, ununterbrochen das, was du dir selbst entscheidend willst! Dir begegnet unbeirrt das von dir gewissermaßen Eingeweihte auf deinem chronischen Weg in die Ich-Aufgabe? Dein Weg? Dein kapitaler Applaus, wenn die Stunde vorbei ist, in welcher wir uns wieder mal so richtig aufgeführt haben durften, ist schmerzhaft für mich. Bist nicht du mit jedem Augenblick, so unendlich, eins, dass es fast schon unerträglich ist? Selbst für dich! Wie kann es überhaupt irgendetwas geben, frage ich dich in deine Wirklichkeit hinein, das dich tatsächlich noch überraschen könnte? Du willst auch keinem Augenblick mehr davon laufen, wie du das früher so gerne gemacht hast. Deine Urlaube buchen jetzt andere. Im Grunde kannst du niemals mehr einschlafen, niemals mehr leibhaftig müde sein, das ist beinah unmenschlich. Ich hielte das nicht aus.

Valerie: Unsinn. Irgendwann hörst auch du auf, mit deinen Phantasien, deinen Träumen oder jenen zielorientierten Verhaltensprogrammen, die sich vor die Wirklichkeit drängen und die diese Lücken schaffen, aus denen heraus unsere grotesk luxuriösen Ängste erwachsen, dein Leben zu beschwichtigen. Diese Lücken, die unaufhörlich mehr werden, und die uns in Wahrheit in absolut nutzloser Weise rastlos werden lassen. Wozu brauchst du deine vielen emsigen und friedlosen Gedanken? Ist deine selbst- und fremderwählte Umwelt, in welcher du dich nun eingefunden hast, wirklich dermaßen komplex, dass du ununterbrochen nachzudenken gezwungen bist, wie du dein Erdentreiben modellieren und parallel dazu deine Lebenssäfte regulieren sollst? Oder fühlst du dich im Gegenteil durch jene dir fortwährend entgegenkommenden Lebensflammen so gelangweilt, dass du die Wirklichkeit, die dich eben umgibt, und die du ja in Wahrheit mit eingeschlossen oder offen bist, mit deinen außergewöhnlich tollkühnen Phantasien auffüllen musst? Beides nein, schätze ich. Sag deinen unaufhörlichen Gedanken einmal, dass sie sich für eine Zeit lang vertschüssen sollen, damit du deren Abwesenheit auch empfinden kannst. In allen Kulturen, soweit ich weiß und sehen kann, wird das Kontrollieren der Gedankenströme als etwas Wichtiges und Anzustrebendes und die zeitweise Abwesenheit derselben als etwas uneingeschränkt Wohltuendes und Notwendiges erachtet. Aber faktisch wird hier bei uns, in diesem unseren Land und auf diesen unseren Strassen, das von mir so besagte neurotische Bewusstsein, nämlich jenes, das sich scheinbar mit allem entgegenkommenden Geschwätzigen so lange zu beschäftigen hat, bis ihm die Zunge heraushängt und es absolut nichts mehr wahrzunehmen imstande ist – außer seiner eigenen Depression natürlich, in beinahe schon grotesker Ausschließlichkeit praktiziert und veröffentlicht. Stell dir vor, ich gäbe dir jetzt die Möglichkeit, eine Minute lang nichts zu denken. Oder gar zehn Minuten! Du bräuchtest dir nichts vorzustellen? Auf nichts hin wollen. Du wärest einfach bloß da. Eine ganze Minute lang. Verstehst du? Einfach bloß da. Aber stattdessen musst du zum Telefonhörer greifen, um bei einem Publikumusvoting möglicherweise ein gnadenlos neues Hundert-Euro-Handy zu gewinnen versuchen, und dieser Anruf kostet dich lediglich 97 Cent.

Bruno: Der Triumpfmarsch aus Aida! Der Donauwalzer! Oder das Lesen der Sonntagszeitung in ihrem kleinen Format, das sind alles Minuten, wie ich sie preferier und mag. Dann noch weitere: Ein Stück Sachertorte zum Nachmittags-Kaffee oder eine unschuldige Zigarette für den grandios fertig gelebten Koitus. Oder auch: Zwei Sätze in meinem Kopf, vier Sätze, aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest zwanzig oder dreißig, um eine Minute überstanden gelebt zu haben. Na, und!? Soweit ich sehen kann, sind’s immer nur Befehle, die auftauchen, um in jenen mich umgebenden und durchdringenden Gesellschaftsverbänden und in den von mir gezüchteten eigenen Schrebergärtchen um die Vorherrschaft zu kämpfen. Jedes Kommando, das mich ausgesucht antreibt, hat mein Bewusstsein – zumindest für das Tausendstel einer Sekunde – in Beschlag genommen. Einmal im vorüberziehenden Motivationsranking die Nummer Eins sein, um mich zu veranlassen, beispielsweise den Werner morgen anzurufen in seinem Himmel.

FACEMISSION_Grafik_Copyright_Gerhard_Kepplinger

Valerie: Unsere in tausendstel Sekunden denkende Gesellschaft hat den Übergang in eine Ewigkeit, die auf sie selbst und folglich auch auf dich zutreffen könnte, längst noch nicht in jenem uns versprechenden Verkehr vollzogen. Erst wenn du ganz in der Wirklichkeit angekommen bist, sich deine dualistischen Vorstellungen – hier bin ich und dort ist die Welt – aufgehört haben, ist dir umfassend warm. Wenn die Lücken geschlossen sind, dann hast du keine Vorstellung mehr davon, dass du dich zwanghaft arrangieren solltest mit deinen Verhaltensaufführungen. Und dieser Nachbarshund, der nächtens manchmal so laut bellt, dass du aufgrund deiner angeworbenen Schlafdefizite nicht das Angemessene zum Bruttosozialprodukt beitragen kannst, wie du es dir am Jahresanfang so schön vorgenommen hattest, ist auch irgendwie dein Freund geworden. Und erst dein schon seit Jahren unaufgeräumter und unaufgeklärter Keller, der bis oben voll ist und zu überzeugen droht, wenn das die Nachbarin wüsste, oder gar Tante Trude! Er ist und bleibt dann einfach dein unaufgeräumter Keller, das ist alles. So schließt du deine Lücken!

Bruno: Was machen wir hier eigentlich beglaubigt?

Valerie: Wir sind gerade eben arbeitende Schauspieler, und hinter dieser Glaswand ist unser Publikum.

Bruno: Wenn ich ehrlich bin: Ich habe es im Grunde schon seit langem satt, meine exzentrischen Lebensportionen und Lebenspositionen Abend für Abend irgendwohin zu tragen, um sie sodann mit den von Dichtern und Regisseuren für uns und das Publikum bereitgestellten Geschichten zu vermischen, sie schließlich in einem vorsätzlich dafür zurechtgeschneiderten Operettengewand aufzusagen. Um wieder einmal eine aufgeregte und Aufsehen erregende Angelegenheit darzustellen, mit anderen Worten ein besonders spektakuläres Mitleid heraufzubeschwören, ein überspanntes Gefühl, das uns beispielsweise eine müde gewordene Traurigkeit ist oder ein plötzlicher Wutanfall, diese ungezählten Verzweiflungen, dieser überschäumende Hass, nur weil die Menschen so gerne vornehmlich ausgefallene oder scheinbar abscheulich banale Geschichten hören, immer schon gerne gehört haben, weil sie sich diese Geschichten offenbar reinziehen müssen, ihre Selbstwerte damit modellierend, geil werdend, Trauer abbauend und Glück aufbauend, was weiß ich. Ich will eigentlich nichts mehr Besonderes empfinden, und ich habe es satt, etwas Besonderes zu sein. Jeder Hamster, der im Fernsehen auftritt, darf seine großartige Einmaligkeit für ein paar Sekunden umwerfend behaupten, und draußen wartet schon der nächste, der seine ausgesucht überwältigende Individualität zum Besten geben will. Es ist zum Speiben.

Valerie: Jede Situation bleibt aber trotzdem – in ihrer scheinbar extra für dich auserkorenen Glaubwürdigkeit – immer als etwas Besonderes in deiner Wirklichkeitsargumentation bestehen.

Bruno: Wenn wir aber jetzt durch die rund um uns und gleichzeitig treuherzig in uns existierende Gewissheit hindurch gingen, sie quasi mit unseren eingemachten Körpern durchschneiden könnten, wie mit einem Surfbrett oder einem Samuraischwert, das in einem Guss angeblich die Leere durchmisst, hörte diese von dir proklamierte Eigenheit auf, und wir wären einfach da und eins mit meiner Überzeugungskraft, und das Publikum wäre ebenfalls da? Vielleicht regnete es sogar? Aber um unsere Besonderheit auch anständig anzutörnen, wurde eigens eine Wand sogar aus Glas errichtet, hinter der wir diese unsere Besonderheiten als Einmaligkeiten apart empfinden können, wie der Werner das letzte Mal so schön gesagt hat.

Valerie: So fahren wir fort, die uns eben einfallenden und jene uns vom Regisseur zurechtgescheiderten Verhaltensprogramme hier hinauszuposaunen, weil wir dafür anständig bezahlt werden. Darf ich dich mal etwas fragen?

Bruno: Ja, doch.

Valerie: Wann warst du eigentlich das letzte Mal definitiv glücklich, durch und durch, mein ich, und sag mir, was dich so glücklich gemacht, und wie sich dieses Glück hat aufgeführt in dir und deinen Händen, in deinen Augen und auf deiner Zunge, in deiner Nase, damit ich es empfinden kann, wenn es mir beizeiten entgegen kommt auf irgendeiner Hochschaubahn.

Bruno: Es war der Geburtstag von Ingrid, meiner Frau. Und ich hatte am Tag zuvor eine sogenannte Lebensauszeichnung bekommen und wurde gleichzeitig -.

Valerie: Und du warst zwei Tage später beim Casting für dieses Stück von allen, die um deine Rolle ebenfalls mit ihren unterschiedlich wirkungsvollen Überlebensmitteln kämpften, der für eine bestimmte, aber bestimmt nicht offen artikulierte Bedürfnislage aufregendste Typ? Der mit den ausdrucksstärksten Augen, und gerade noch unter vierzig.

Bruno: Ich habe eigentlich keine Lust mehr, hier weiter zu reden, ich gehe jetzt nachhause.

Valerie: Das Zuhause ist deine zu Mauern gewordene und in präferierten Verhaltensauslesen sich erschöpfende Beschwichtigung, wo alles endlich zu Gedanken Gewordene seinen Weg weiter geht, wie er immer gegangen werden musste in seiner vermutlich sogar großzügig angelegten Ewigkeit. Der Augenblick jetzt jedoch kennt keine Zeit.

Bruno: Scheiß auf deinen Augenblick! Was, wenn ich einfach müde bin? Oder hungrig? Oder gierig? Oder brutal und geistlos? Verstehst du! Sollte ich dann hier bleiben, um mit dir in deinem gegenwärtig unaufgeregten Moment darauf zu warten, bis jemand kommt und mir den Schädel einschlägt, weil er mich unerträglich fremd findet, oder mich auf den Mund küsst, weil ich so überschwängliche Augen besitze? Damit ich in dein eigens für mich erdachtes Konzept auch richtigungsweisend hineingepasst haben werde!

Valerie: Das hat er gekonnt, der Werner, bevor er hinweggeschieden ist aus diesem seinem österreichischen Leben, schön in der Vorzukunft denken und in einem Kreis gehen bis zum Abwinken. Niemand kann dir den Schädel einschlagen.

Bruno: Niemand kann mir den Schädel einschlagen? Soll ich also unwiderruflich hier mit dir warten, bis am Ende die angeworbenen Berufszuseher zu klatschen beginnen, damit schließlich das delektierende Gesamtpublikum in ein begeistertes und Hurra rufendendes oder uns schmähendes übergegangen ist? Und wir legen uns dann bedürfnislos hin und schlafen ganz elementar?

Valerie: Oder aber -, ja, das wäre etwas unverkennbar mich ansprechendes: Man muss zum Schluss fassbar allein sein. Das würde mir echt gefallen. Das Gefühl haben, ganz für sich zu sein. Wir legen uns hin, und die Lichter gehen einfach aus. Vielleicht eine Notbeleuchtung beim Ausgang. Niemand sagt dir, dass das Stück zu Ende ist. Niemand sagt dir den Stand der Dinge. Als ob man aus einem Raumschiff gefallen wäre. Und sie spielen eigens für dich den Donauwalzer. Vielleicht haben wir dann selbstverständlich Zeit? Was meinst du?

Bruno: Du warst immer schon ein Fan vom Werner wegen seiner Präferenz der Vorzukunft und seiner überartigen Adjektive, mit denen er das Publikum gerne zum Lachen oder zum Speiben gebracht hat. Die NLP-Profis hätten mit dem Werner bestimmt ihre Freude gehabt. Die täten sich halb tot lachen, aber die kennen den Werner ja nicht, weil er in ihren Literaturverzeichnissen nicht vorkommt.

Valerie: Weil ihnen schlecht werden würde von seinen Verhaltensverführungen.

Bruno: Unsere Lust aussterbenden Paradigmen gegenüber ist doch auch ein merkwürdiges Faszinosum, nicht wahr? Wir betreiben ja hier nichts anderes als eine Hommage an auffällige und aussterbende Verhaltensmuster.

Valerie: Die meisten unserer auf der Bühne zum Ausdruck gelebten oder gesehenen Geschichten handeln erfahrungsgemäß von Irrtümern und Verzweiflungen, von falschen Anschlüssen, abstrusem Motivationsdrang oder grotesk empfundenem Scheitern, handeln vom Mit-dem-Leben-nicht-Zurandekommen, von Aufopferung und Rettung der Zivilisation, das sind auch alles für unser, wie ich meine, stets hochdekoriertes Bewusstsein extra garnierte Betragensformen.

Bruno: Wenn ich so darüber nachsinne: Es hat schon etwas umwerfend Lächerliches an sich, dass wir uns noch immer geradezu freiwillig damit zu unterhalten gezwungen fühlen.

Valerie: Zum Glück sind wir beide Kunstfiguren und müssen nicht so tun, als wären wir hochkarätig echte Menschen. Gleichzeitig finde ich das, was wir hier machen, auch unangenehm. Mir wäre ein empathisches Mitschwingen mit der Evolution lieber.

Bruno: Im Luxus vorherrschende Neurosen, die in ihren Ansprüchen immer exzentrischer werden, daraus bestehen wir grundlegend. Stell dir das vor: Ich fühle mich verfolgt wegen meiner widerspenstigen Haare! Und stell dir erst das vor: Morgen kommt der Schauspieler-Killer mit seiner 45er Automatic und erledigt uns beide als Auswüchse neurotischer Gefallsucht aus dem Handgelenk heraus. Wir fallen auch schon tot um und bleiben am Boden liegen. Das wäre eine zu diskutierende Alternative zu deinem: Wir-legen-uns-auf-den-Boden-und-bleiben-einfach-liegen-Kitsch.

Valerie: Der Schauspieler-Killer beginnt in seiner tot gewordenen Einsamkeit eine melancholische Suada, bis es ihm zu fad wird, dann stehen wir beide wieder auf und mischen uns ein, um unsere von uns selbst hofierten und gewissermaßen auch hier publizierten Biografien eingermaßen lückenlos fortzuführen.

FACEMISSION_Grafik_Copyright_Gerhard_Kepplinger

Bruno: Der Prinz und die Prinzessin von Kritzendorf, Hermann und Fini, kommen bei der Tür herein und man hört das dazugehörige johlende Dorf, das sich ganz in ohrenbetäubenden Huldigungsrufen ergeht. Wir setzen uns gemeinsam an einen Tisch und beginnen – während des Essens – über die menschliche Existenz, über das Erdendasein und Erdentreiben nachzudenken. Mein Vater hat zu mir im Übrigen einmal gesagt, da war ich noch ein echter Jugendlicher, und er brachte mich zu einem Ball, in der Erwartung, ich würde dort bestimmt viel tanzen und den Mädchen hinterher laufen mit meinen fordernden Augen, aber ich kündigte ihm bei der Autofahrt an, ich würde gewiss mit meinen Freunden gemeinsam irgendwelche Probleme durchdenken und ein bisschen was trinken, da sagte mein Vater zu mir: Während du denkst, handeln die anderen. Dieser Satz ist mir erst viele Jahre später wieder eingefallen. Während du denkst, handeln die anderen. Du also sprichst über das Nicht-Handeln, über die grenzenlose Freiheit von Kräften, würden wir unseren Ego-Staat, wie das unserer ausgeprägten Natur entspricht, nicht ununterbrochen in alles, was uns begegnet, hineinmischen müssen quasi.

Fini: Jeden Abend das gleiche, für was wir uns das immer wieder antun müssen, versteht eigentlich niemand so recht. Schauspieler, die wir eingekauft haben, spielen, was wir von ihnen wünschen, damit sie unserem Volk den Spiegel vorsetzen, der uns gefällt und uns gut aussehen lässt. Deshalb muss jede Wendung der Schauspieler absolut stimmen, muss mit sich selbst angefüllt sein und Zeit und Ort vollständig ausfüllen. Darauf muss folglich ein besonders Wert gelegt werden.

Hermann: Alles drückt sich jederzeit vollständig und klar aus: in sich und durch sich selbst. Ich habe ein absolut ungetrübtes Bewusstsein, wenn dich anseh oder meine Freunde, den unseren Hund, irgendjemanden auf der Strasse, jeder ist für sich und ist es gleichzeitig nicht. Du bist vollständig mit dir selbst, aber du bist auch meine Frau, die Königin von Kritzendorf. Jeder Moment des Lebens drückt alles aus, was er auszudrücken imstande ist. Nichts fehlt, und nichts ist zuviel. Es ist im Gunde egal, was auf der Bühne des Lebens zusammen gespielt wird, wenn wir es nur vorher zum Lesen und Korrigieren bekommen. Und die geeignete Sprache wird hinzutreten und sie wird hinwegfegen das Leid, das die Menschen sich selbständig erfunden haben.

Fini: Ich habe dich genau so erkannt, wie du bist und nicht anders, so wie du mich. Gerade eben rieche ich einen herbstgewordenen Betonboden in seinem unverkennbar weitsichtigen Licht, aber meine Erinnerung daran ist bloß ein unbewegliches sentimentales Geschwätz, solange ich es nicht in eine zweckbringende Vorwärtsbewegung überführen kann.

Valerie: Die Geschichte mit dem Killer finde ich eigentlich weitaus interessanter. Obwohl ich nicht weiß, was er da allein so vor sich hinsprechen soll. Ich wollte auch immer eine Geschichte über einen Killer schreiben, habe ich das schon mal erwähnt?

Bruno: Nicht dass ich mich erinnere.

Valerie: Den Auftakt hab’ ich schon. In meiner Geschichte hat ein Killer den Auftrag übernommen, jene Journalistin umzulegen, die einem spektakulären Kunstdiebstahl eher zufällig auf die Spur gekommen ist.

Bruno: Aber er verliebt sich in die Journalistin, nicht wahr?

Valerie: Ja, das tut er, er verliebt sich in sie.

Bruno: Und wir fragen uns alle, ob sie wirklich sterben muss.

Valerie: Auch das tun wir. Nachdem sie sich scheinbar auf einer Party kennengelernt haben, und sie ihn zu sich eingeladen hat, sind sie schon bei ihr zuhause und haben sich offenbar gerade geliebt. Beide liegen sie erschöpft und vermeintlich entspannt nebeneinander, sie raucht eine Zigarette, gibt ihm diese dann und fragt fast beiläufig, was er denn beruflich so macht.

Bruno: Und er antwortet: Nichts Besonderes.

Valerie: Ja, nichts Besonderes, das ist gut.

Bruno: Er arbeitet für verschiedene Auftraggeber und muss deshalb immer wieder die Stadt wechseln.

Valerie: Sie fragt ihn: In welchem Metier arbeitest du?

Bruno: Er sagt ihr, dass seine Arbeitgeber ihn gut bezahlen.

Valerie: Vielleicht machen sie auch eine Art Spiel. Sie hat zehn Fragen zur Verfügung, um zu erraten, welchen Beruf er ausübt.

Bruno: Er darf bloß mit ja oder nein antworten.

Valerie: Bei der achten Frage ist es dann soweit.

Bruno: Nein, die achte Frage lautet in etwa: Kennst du deine Arbeitgeber eigentlich persönlich? Kennen sie dich?

Valerie: Niemand kennt mich verfügbar persönlich. Ich werde auch normalerweise nicht auf Partys eingeladen, alle meine Namen sind alle falsch, sie sind ausschließlich der jeweiligen Situation entsprechend.

Bruno: Dann sagt sie nach einer langen Pause: Du bist hier, um mich zu töten, nicht wahr?

Valerie: Und man merkt es ihr nun an, dass sie mit diesem und den vohergehenden Gedanken auf einen tatsächlich schlimmen Verdacht gekommen ist, und dass dieser richtungsweisend und unberührt real ist.

Bruno: Dennoch tut sie ganz tough und sagt: Du bist angeheuert worden, weil ich dieser Sache, sie sagt, dieser Sache, auf der Spur bin.

Valerie: Er lächelt, und das ist ein verzweifeltes Lächeln.

Bruno: Und wo ist seine Waffe?

Valerie: Das kommt erst später.

Bruno: Nein, sag’ schon, wo hat er die Waffe versteckt?

Valerie: Die Frau steht vom Bett auf, geht zur Tür, dort wo sein Mantel und auch sein weißer Schal hängen, nimmt die Waffe heraus, betrachtet sie eingehend im Stehen, geht schließlich langsam auf ihn zu und richtet dieselbe nun auf ihn.

Bruno: Er verzieht keine Miene, sagt nichts. Er sitzt auf dem Bett, sie steht nun neben ihm, die Waffe an seiner Schläfe.

Valerie: Er ist müde, aber man weiß nicht genau, warum er so müde ist.

Bruno: Wegen seiner vielen Lücken, in die er sich flüchten konnte, wenn sie hinter ihm her waren.

Valerie: Sie sagt: Wenn ich jetzt abdrücke, bist du tot. Er lächelt wieder.

Bruno: Dann reißt sie ihre Hand herum, zielt auf den Kleiderkasten, drückt ab, und man hört einen ohrenbetäubenden Schuss, der zugleich deren gemeinsamen Raum durchtrennt.

Valerie: Er lächelt weiterhin sein müdes Lächeln.

Bruno: Auch deine Namen entsprechen der jeweiligen Situation auf das gleichsam unauffälligste, wenn ich das so sagen darf.

Valerie: Du bist hier, um mich zu töten, nicht wahr?

Bruno: Kannst du mir sagen, wovor du eigentlich Angst hast, wenn du deinen schrillen Mund auftust? Weil dir für deine in die Höhe geschraubte Einsamkeitspolitk noch keine vertraute Lösung eingefallen ist? Oder weil du zu feige bist, mit den Träumen der Zuschauer fortzufliegen?

Valerie: Was wenn sämtliche meiner Lebenslücken plötzlich geschlossen wären, und mir alle Menschen, Tiere und Pflanzen, wenn mir alles nah geworden ist, ich mich wohl und geborgen fühle auf dieser Welt, die ich bin, was wenn dies Erleben für die anderen vollzähligen Erdenbürger immer schon der Fall gewesen sein würde. Verstehst du, und flugs wäre ich der einzige Ausgeschlossene! Dann jagen kalte Schauer durch mich hindurch, und ich schäme mich auch wirklich. Aber beim Wirt um die Ecke schon ändert sich meine Vorstellung schlagartig und ich kann wieder froh sein. Außerdem weiß ich ja, dass diese Lücken selbst schon vor tausenden von Jahren bestanden haben. Worauf wartest eigentlich du noch?

Bruno: Wie deine Geschichte mit dem Killer ausgeht. Ob er sie umbringt, oder sie ihn tötet? Obwohl mir das, wenn ich ehrlich bin, im Grunde genommen völlig egal ist. Sollten sie auch einen herzeigbaren Doppelselbstmord begehen, um am folgenden Tag noch als Tote sich zu ehelichen, was soll’s? Mich vermag dies nicht mehr zu fesseln.

Valerie: Manchmal, wenn ich so für mich spazieren geh, denke ich über dieses und jenes nach, dass mir Freude hochkommt, und unvermittelt kann ich freier atmen. Tiefe Einsichten in das Leben hege ich, dann bleibt aber überraschend ein Jogger neben mir stehen, und ich erkenne ihn erst auf den zweiten Blick als einen entfernt Bekannten. Der kommt dann obendrein bekennend auf mich zu und fragt mich dies und das. Und ich? Ich spreche fassungslos und schamhaft bloß, um von mir abzulenken. Nur um ihn fortzukriegen, damit sein Antlitz ich nicht sehen muss. Und gleichzeitig sind auch schon all meine Einsichten hinübergegangen in eine rasende Wut, die mit einem gierigen und scharfen Messer dem überall zu wuchern scheinenden Stumpfsinn die Kehle durchschneiden möchte. Und in meinem Hiersein, das, so schien’s noch ein paar Sekunden zuvor, getragen war von teilnehmenden und mitschwingenden Erkenntnissen, wechseln sich sentimentale Erbitterung und fratzenhafter Zorn nun ständig ab. Meine alte Angst vor Hornissen, auch die warf weg ich bereits vor vielen, vielen Jahren, ist jetzt wieder da. Mit beiden Händen wehre ich mich gegen faustgroße rote Spinnen, die im Traum mit ihren haarigen Füssen in Zeitlupe über meinen Körper rennen. Und Speichel tropft mir aus dem Mund.

Bruno: Ja, die Lücken, von denen du sprachst, sofern ich es richtig verstand, waren für eine bestimmte Zeit geschlossen, und dir war warm zumut. Aber der Rausch lässt die Lücken anschließend nur noch heftiger auftreten, welch’ alte Binsenweisheit!

Valerie: Oder der Killer kehrt, schon auf seinem Fluchtweg sich befindend, um, weil er noch etwas in eine zwanghafte Ordnung bringen muss, um dabei aber nur auf jenen finalen Cop zu treffen, der sein Double ist, und der folglich am gleichen Muster arbeitet wie er selber, ebenso isoliert, ebenso perfektionistisch. Wobei der Cop das Muster des Killers ausfindig gemacht hat, so wie ich das deinige. Ein tief eingebranntes, das letztlich wichtiger erscheint, als ein mögliches sorgenfreies Leben, Tauben in einer Kirche, Sirenen am Flughafen, man hört Schüsse, Menschen hasten, sterben sinnlos, Neonreklame, so funktioniert in etwa das unterhaltsame Ende.

Bruno: Was ist das für ein Muster?

Valerie: Du würdest es mir nicht glauben.

Bruno: Wie du weißt, ist das egal. Wir wurden eigens zu dem Zweck hier vorgeführt, den das Publikum uns augenblicklich jetzt beimisst.

Fini: Unsere Schauspieler spielen sich die Seele wund, und damit begehren sie das Herz der Zuschauer – am Rande möglicher Verwandlungen.

Hermann: Aber die extra für dieses Stück zusammengekauften Helden überleben nur, wenn sie ihr Handwerk auch tatsächlich vierundzwanzig Stunden am Tag absolut beherrschen.

FACEMISSION_Grafik_Copyright_Gerhard_Kepplinger

Valerie: Die ganze Zeit über passiert fast nichts, dann zerreißen dir plötzlich fünf bis zehn Kugeln das Herz oder die Lunge, irgendwo in einer Küche, um zwei Uhr in der Früh, so spielt das Leben halt.

Publikumsvoting

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Dieter Sperl

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