Salon Littéraire | Florian Neuner – Dérive VII: Walsum

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Salon Littéraire | Florian Neuner :

Dérive VII: Walsum

Das blaue Band des Frühlings in Hamborn. Fahrt mit der Straßenbahn in den Duisburger Norden. Unterwegs wird auf einer Hauswand die Frage gestellt: Wo sind wir? & auch gleich beantwortet: Im Ghetto. Andere Texte im Vorbeifahren: Berg und Hütten Apotheke, Mettwurst-Lothar. & noch eine Frage, mit der sich aber kein Individuum artikuliert, sondern eine Plakatkampagne: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In dieser ganz bestimmt nicht, möchte ich antworten. Aber was heißt hier eigentlich “wir”? Dieses ›wir‹ ist erschlichen & unterstellt eine in Wahrheit nicht existierende Gemeinschaft von Menschen, die sich im Duisburger Norden bewegen, & solchen, die Kampagnen im öffentlichen Raum gestalten können & bezahlen. & wie sagt Guy Debord? Von Anfang an habe er es für gut befunden, sich dem Sturz der Gesellschaft zu widmen & auch entsprechend gehandelt. Die gemächliche Straßenbahnfahrt in den Norden, über die Duisburger, die Weseler, schließlich die Friedrich-Ebert-Straße hat im Untergrund des Duisburger Hauptbahnhofs ihren Ausgang genommen, wo die kleine Straßenbahn nach Dinslaken in dem großen unterirdischen Bahnhof immer etwas verloren wirkt, dort zunächst als U-Bahn startet & zwischen den Stationen Duissern & Auf dem Damm immerhin durch den längsten deutschen Stadtbahntunnel fährt, den Hafen unterquerend. Eine überflüssige Information, zugegeben, die ich irgendwo gelesen & mir anscheinend gemerkt habe. Man vergißt zu wenig.

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Mit der Haltestelle Schwan ist Walsum erreicht. Ein merkwürdiger Name, der Assoziationen hervorruft, die ich mit Walsum nicht zusammenbringe. Dann die Station Sonnenstraße, das Rathaus Walsum, der Kometenplatz. Kosmisches, das einen Kontrast bildet zu diesem kleinstädtischen Subzentrum, den Zweckbauten an der Friedrich-Ebert-Straße, & sich fortsetzt in Mond- & Sternstraße, Meteorstraße, Kometenstraße. In den Vororten, die sich rasch ausdehnen, muß man den Straßen oft sehr schnell einen Namen geben. Sagt Michel Butor. Man wählt einen Bereich des Vokabulars, der dieser Stadtregion eine bestimmte Färbung verleiht. Merkur-, Jupiter-, Mars- & Uranusstraße, Orionstraße. Unweit der Planeten auch eine Kantstraße, der gestirnte Himmel usf. Alle diese Wörter setzen sich fort, vervielfachen sich, hallen wider in den Namen von Geschäften, Tankstellen, Hotels. Butor spricht von einer verblüffenden Fülle gelenkter Evokationen. & wenn hier auch das gesamte Sonnensystem mobilisiert wird, so wirkt die Geschäftswelt um den Kometenplatz doch reichlich banal. Top Trends für wenig Cents. Eine Geschenkboutique. Das Waldschlößchen & das Balkan Restaurant International. Viele LKWs auf dieser Nord-Süd-Achse, auf der die Straßenbahn weiterfährt bis Dinslaken. Ein Bus zum Allwetterbad. Eine Kurze Straße. Eine Gilde-Stube, in der auch Fremdenzimmer angeboten werden. Technischer Fachhandel; Werkzeuge, Maschinen, Eisenwaren. In der Stadtschänke steht ein Frühlingsfest bevor: Lassen Sie sich im bayerischen Stil überraschen & verwöhnen! Überraschen – nunja, es wird halt Bier geben, Weißwürste & weiß-blau gemusterte Tischdecken. Am 4. Mai ist dann “Deckel-Day”, was immer das heißen mag. Achtung! Ein in Tarnfarben lackierter Geländewagen fällt mir auf, ein riesiger Bundesadler auf der Fassade eines Postamts, weiters die Aufschriften Kinki Moden, Treffpunkt “bei Maria”. Der offen zutageliegende Text wird durch das Lesen wiederbelebt. So Butor. Etwa durch einen durch Städte streifenden Leser. Aber der in den Kellerräumen schlafende Text ist von nicht geringerer Bedeutung. Entscheidend ist, daß man ihn eines Tages wird konsultieren können. Wie aber vorstoßen in die Keller, zu den verborgenen Texten? Nichts geht mehr, sollten sie vollständig verschwunden sein. Befürchtet Butor.

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Einstweilen weiter, an den Oberflächen entlang, notgedrungen: Pferdewetten & Trinken. Bier Zack. Arzneimittelberatung, Impfberatung usf. in der Engel-Apotheke. Wir in Walsum: Wo “große” Mode wenig kostet. Soft zur Haut, aber Power in der Bräune. Die Buchhandlung Lesenswert, in deren Sortiment ich mir aber nichts Lesenswertes vorstellen kann – es sei denn, es gibt eine brauchbare Abteilung mit Regionalia oder ein paar Reclam-Heftchen für Schüler. Friseursalon Istanbul, Brunnenstube usf. Dienet dem Herrn mit Freuden! Danket dem Herrn! Eine kleine evangelische Kirche an der Schulstraße, wo die Bäume in Blüte stehen. Ein Junge kehrt am Pfarrhaus mit einem Besen die herabgefallenen Blüten zusammen. Die Gaststätte des TV Aldenrade verspricht gute Küche, eine Gartenwirtschaft. Jetzt schlägt eine andere Kirche, wohl die katholische. Ich meine, das Rauschen eines Güterzuges zu hören, der vielleicht unterwegs ist zum Bergwerk Walsum. In einem Schaufenster Urnen, Tischlerei & Bestattungen, Meisterbetrieb. Parken nur für Mieter der Wohnbau Dinslaken. Auf der Dittfeldstraße kommt mir ein Pferdefuhrwerk entgegen, ein mit zwei Pferden bespannter sogenannter Partywagen. Die Gruppe auf dem mit einer Plane überdachten Wagen scheint entschlossen zum Feiern & zum Saufen. Ein altes Ehepaar hat der vorbeifahrende Wagen sogar an den Gartenzaun gelockt. Ein Ereignis in der Vorstadt. Dann eine LKW-Einfahrt, Industrie-Service. Das Pumpwerk Duisburg-Kleine Emscher. Plätschern ist zu hören. Das Wasser ist braunrot. Diese Anlage wird durch Video überwacht! Ja, wo ich auch halt mache, bin ich umgeben, eingekreist von Text. Beim Zurechtfinden könnten vielleicht bestimmte Bücher helfen, meint Butor. Lektüren über die Emschergenossenschaft, Studien über die Renaturierung des Emscher-Systems, Bergsenkungen usf. Davon vielleicht ein anderes Mal oder an anderer Stelle mehr.

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Auf dem Gelände des Pumpwerks steht wie verloren ein kleines Haus, heruntergelassene Fensterläden im Erdgeschoß. Ein merkwürdiger Standort für ein Wohnhaus, das inzwischen verlassen ist oder auch nicht. Schwarz- & Grautöne, Schmutz auf der ehemals weißen Fassade. Dann der Kleingartenverein Walsum 1941 e.V., einige Deutschland-Fahnen markieren das Gelände. Vor mir taucht der riesige in Bau befindliche Turm eines Heizkraftwerks auf. Ich laufe Richtung Bergwerk bzw. Rheinufer. Umgeben von Text, auch auf Plakaten: Wir feiern den “Walsumer-Frühling”. In dieser merkwürdigen Zeichensetzung. Angekündigt werden ein Festzelt auf dem Friedrich-Ebert-Platz & darin: Tanz in den Mai, Vater = Familientag!, die 1. Große Koch-Show, eine Ü. 40 Party. Eine Druckerei, die inzwischen anders heißt, war früher die Druckerei H. Wasserstrass, was in der Nähe des Rheins sowie zahlreicher Häfen & Kanäle nicht unpassend erscheint. Eine Römerstraße, die weiter nördlich gar in eine Heerstraße übergeht, sorgt für eine solide historische Verankerung mitten im Walsumer Siedlungsbrei. Färbt die Wahrnehmung. An der Ecke Theodor-Heuss-Straße der traurige Anblick einer aufgegebenen Kneipe. Auf der Getränkekarte, die weiterhin & zweckfrei in einer kleinen Vitrine aushängt, sind die Bier- & Schnapspreise noch in DM angegeben. Dazu kann das Walsumer Brauhaus Urfels keine ernsthafte Alternative sein – ein geschmackloser Neubau mit großem Biergarten, dessen Gestalter selbst vor Scheußlichkeiten wie künstlichen Wassserfällen nicht zurückschreckten. Gleichwohl reklamiert die unsympathische Institution niederrheinische Tradition für sich. Ich hoffe, die Walsumer Kneipengänger kümmern sich nicht um das Brauhaus-Hybrid, in dem ab & an auch noch Live-Jazz angedroht ist & überlassen es den über die Autobahn aus anderen Stadtteilen & Nachbarstädten anrauschenden Gästen! Vom Ursprung her vollkommen. Will das Wasser aus der Rheinfels-Quelle sein. Getränke- & Brunnenbetriebe. Hoch stapeln sich die Getränkekästen. Achtung Kraftfahrer! Bitte bis zur Schranke vorfahren & beim Pförtner einen Laufzettel holen! Die Versandleitung bedankt sich schon mal für die Einhaltung der Regeln. Natürlich geht’s uns gut! Mit Wasser aus der Rheinfels-Quelle. Behindern aber ausgedehnte Betriebsgelände das freie Umherschweifen.

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Dérive – man findet diese Definition in Anm. 150 eines Kleinen Organons – kann verstanden werden als antizipatorische Forschungs- & Lebensweise in Zeiten einer Windstille der Klassenkämpfe. Eine solche Zeit ist gewiß auch das beginnende 21. Jahrhundert. Die Frage aber muß gestellt werden, auf welche Grenzen ein so verstandener unitärer Urbanismus in Stadtlandschaften wie dem Duisburger Norden stößt. Denn Flaneure & Spaziergänger werden in der Zwischenstadt nicht erwartet. Zweckfreie Bewegungen sind nicht vorgesehen in diesen Räumen. & monofunktionale Einheiten haben deutlichere Grenzen als polyfunktionale oder funktional offene Strukturen. Es gibt bestimmte Gründe, sie aufzusuchen, & andere Besucher sind auch nicht erwünscht. So ist das Zechengelände eine “verbotene Stadt”, wie es oft mystifizierend heißt, oder deutlicher: eine No-go-Area. An das Gelände des Bergwerks Walsum direkt anschließend das des Heizkraftwerks, ein Gewirr von Kränen, der in Bau befindliche Block 10. Der erste Neubau eines Steinkohlenkraftwerks in Deutschland seit zehn Jahren. Eine Bürgerinitiative wendet sich gegen die “totale Verschandelung von Duisburg-Walsum”. Ästhetische oder schlimmer: Geschmacksurteile, über die man streiten kann. Ich empfinde den Anblick des plötzlich auftauchenden, gigantischen Kühlturms, etwa von den Wiesen am Rheinufer her kommend, durchaus als schön, meinetwegen: erhaben. Widersinnig aber erscheint die Aussicht, daß das Bergwerk nebenan stillgelegt sein wird, wenn das neue Steinkohlenkraftwerk in Betrieb gehen wird. Man wird die Kohle dann von sonstwoher heranschaffen müssen, über den Rhein. Errichtet wird auch eine Bekohlungsanlage für das Kraftwerk Walsum Block 10. Inspire the Next. Das Kraftwerk der Zukunft. Noch drehen sich die Seilscheiben auf den beiden Fördertürmen über den beiden Schächten Franz Lenze & Wilhelm Roelen, wenn auch nicht mehr lange.

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Noch wird die Haltestelle Walsum Schacht von einem viel zu selten durch diese nördlichen Vorstädte kurvenden Bus bedient. Keine Kneipe vor dem Tor des Bergwerks Walsum, für dessen automatisierte Schrankenanlage eine Codekarte erforderlich ist, wie ich lese. Bloß der Glückauf-Getränkemarkt. Eine Bude ist zu vermieten & wirft wahrscheinlich nichts mehr ab. Zwei Fördergerüste vom später sogenannten Typ Walsum, der heute in vielen Kohlenrevieren anzutreffen sein soll. Auf einem steht in großen Lettern “WALSUM”, auf dem anderen: “KOHLE”. Grubenfelder zu beiden Seiten des Rheins. Niederrhein von unten: Blicke in die Tiefe & in die Vergangenheit auf Informationstafeln am “Standort Duisburg-Walsum”. Die Rückenansicht eines bulligen Bergarbeiters in einem ärmellosen Shirt. Das Bild ist rosarot eingefärbt. Wer von Duisburg sprach, dachte lange Zeit an Stahlindustrie & Steinkohle. Als Folge der Strukturkrise mußten in den sechziger & siebziger Jahren sechs Duisburger Zechenanlagen schließen. Allein die jüngste, das Bergwerk Walsum, überlebte. Das Ruhrgebiet vor 400 Millionen Jahren als sumpfige Uferzone eines tropischen Meeres. Abgestorbene Wurzelstöcke, Stämme & Äste sinken ins Wasser usf. Irgendwann setzt dann die “Inkohlung” ein. Bestimmte Bücher könnten dabei helfen, sich zurechtzufinden. Beispielsweise Die alten Zechen an der Ruhr von Wilhelm & Gertrude Hermann. Dem Buch ist zu entnehmen, daß mit dem Abteufen von Schacht I bereits 1909 begonnen wurde. Daß der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Arbeiten unterbrach; neuerliche Unterbrechung durch die französische Besetzung des Ruhrgebiets 1923. Daß das Steinkohlengebirge schließlich 1929 erreicht wurde. Aufnahme der Förderung 1939. Seit 1965 vollmechanisierte Kohlengewinnung; leistungsfähiger werkseigener Hafen usf.

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Hinter einer scharfen Kurve, von der Baustelle des Kraftwerks beinahe erdrückt, versteckt sich das Fischrestaurant Walsumer Hof. Ein altes Wirtshaus mit Gastgarten. Ein schmiedeeisernes Schild, an dem an einer Kette ein blecherner Fisch hängt, beansprucht eine immerhin bis ins Jahr 1838 zurückreichende Tradition. Zu dieser Nachmittagsstunde ist es nicht möglich, auf ein Pils einzukehren. Eine Straße führt hinunter zur Autofähre, mit der man nach Orsoy übersetzen kann. Kurz vor Erreichen des Ufers ein Warnschild mit einem stilisierten, in die Fluten stürzenden Auto. Zu den sprachlichen treten in den Städten unzählige Zeichen, die man wie die einer Sprache entziffern lernen muß. Sagt Butor. Zu dem offenkundigen, aus Wörtern gebildeten Text kommt ein großer Bereich von Halbtext, von nicht ausgeführter, im Entstehen begriffener Schrift, ein Ensemble von Signalen, Anhaltspunkten. Zum Rhein hin abfallende Wiesen, Flußpanorama. Blick auf vorbeifahrende Schiffe, Schwäne am Ufer. Am anderen Rheinufer Dorfsilhouetten mit Kirchtürmen. Schon zum wiederholten Mal begegnet mir ein photographierender junger Mann, der eine ähnliche Route zu absolvieren scheint wie ich. Dann sind Glocken zu hören, die ich der Kirche in Alt-Walsum zuordne. Alt-Walsum ist das Dorf auf der anderen Seite der Hubbrücke, die den Nordhafen überspannt, den Hafen des Bergwerks Walsum. Der letzte Zechenhafen am Rhein: ein langgestrecktes Stichhafenbecken von etwa 450 m Länge, dessen Kopf zu einem Wendebecken erweitert ist; kanalartige Verbindung zum Rhein; auf der gegen Hochwasser geschützten Kaianlage zwei Wippkräne für den Kohlenumschlag; Förderbänder für die Verladung der Asche aus dem Heizkraftwerk; die Hubbrücke ermöglicht, daß der Hafen auch bei Hochwasser angefahren werden kann.

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Auf der anderen Seite des Nordhafens, der Zeche gegenüber, der alte Dorfkern & die Fachklinik St. Camillus, spezialisiert auf die populärsten Süchte, Alkohol- & Medikamentenabhängigkeit. Das Pferdefuhrwerk mit der feiernden Gruppe hat auf einem Parkplatz angehalten. Wahrscheinlich spazieren sie zum Rheinufer. Niederrhein, Schnapsrhein – befinde ich mich zudem auf der sogenannten Niederrheinroute, die von Duisburg aus die Kreise Wesel & Kleve für Radfahrer erschließt. Ich lese: Walsum war bis Mitte des vorigen Jahrhunderts ein kleines Dorf; erste Industriebetriebe nach 1868; heute neben der Zeche eine Papierfabrik sowie Getränke- & Brunnenbetriebe. Zwischenzeitlich soll sich der nördlichste Stadtbezirk mit seinen Einkaufszentren in den Ortsteilen Aldenrade & Vierlinden, dem Allwetterbad, dem Schul- & Sportzentrum Driesenbusch, der Stadthalle & der unter Naturschutz stehenden Rheinaue zu einem beliebten Wohnort entwickelt haben. In die Kaiserstraße biegt der LKW eines Schrotthändlers, der mit Fidirallala-Getröte auf sich aufmerksam macht. Alt-Walsum hat zu bieten: das Stadtcafé Muth & das Gasthaus Zum Johanniter, das mit einem Festsaal aufwarten kann. Feiern mit Freunden. Ein Bolzplatz für Kinder zwischen 6 & 14 Jahren unterliegt merkwürdigen, widersprüchlichen Vorschriften: Ruhezeit 13 bis 15 Uhr, Spielzeit 8 bis 20 Uhr. & ja, die Straßennamen verleihen auch diesem Viertel eine bestimmte Färbung. Eine Fülle gelenkter Evokationen. In Alt-Walsum handelt es sich um Bergbau-Vokabular: Zum Alten Mann, Zum Aufhauen, Zum Füllort, Förderstraße, Hobelgasse usf.

27-06-08 1516

Nach dem Durchschreiten von zwei Eisenbahnbrücken hat man Alt-Walsum hinter sich gelassen. Hat Walsum-Vierlinden erreicht & steht dann an der Kreuzung zu dieser Römerstraße. Dort gibt es die Kneipe Alt-Walsum, sozusagen leicht exterritorial, & das griechische Lokal Apostel. Die Königstraße, der ich bereits eine Weile folge, heißt nach der Kreuzung Bahnhofstraße, & ich frage mich, welcher Bahnhof damit gemeint sein soll, wo Walsum doch schon lange abgehängt ist vom Bahnverkehr – wenn man von der Anbindung des Bergwerks Walsum einmal absieht. Aber nur ein kleines Stück nördlich der Kreuzung König- bzw. Bahnhofstraße/Römerstraße, von Bäumen umstanden & verdeckt, entdecke ich dann doch den alten Bahnhof Walsum – noch immer der Schriftzug ›Bahnhof‹ auf dem Gebäude, das in einem erdigen, dunklen Braunton gestrichen ist. Die Fenster im Erdgeschoß der Bahnhofsruine sind vernagelt. Zusätzlich sollen rot-weiße Absperrbänder offenbar eine zumindest optische Barriere bilden. Aus der 1. Etage hängen gleich mehrere deutsche Fahnen. Der idiotische Fußball gestattet verklemmten Deutschen ihre kleine, kontrollierte nationale Aufwallung. Die Fahnen werden wohl bald wieder verschwunden sein. Die Gleise sind überwuchert, aber noch vorhanden. Die Deutsche Bahn warnt vor Unfallgefahr. In der Römerstraße das Restaurant Zur goldenen Henne. Außerdem Industrienähmaschinen. Der . Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß wir keine Gästetoiletten haben. Läßt das Zack/Zack-Team wissen. Wir wünschen einen guten Appetit! An der Bahnhofstraße dann eine Gaststätte mit dem beschwörenden Namen Zur Einigkeit. Bekanntlich liegt der Ausgangspunkt des Traumes ja in der Wirklichkeit & verwirklicht sich auch in ihr.

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“Grenzenloser Jubel” schon jetzt beim DJK Vierlinden 28 e.V. Jahrelang habe die “Zweite” der DJK Vierlinden auf diesen Tag warten müssen, wie einem in einer Vitrine ausgestellten Zeitungsartikel zu entnehmen ist. Ein Photo zeigt junge Männer in grellgelben T-Shirts & schwarzen Hosen, die ihre Arme in die Höhe recken & dabei ausgelassen wirken & besoffen. Fußballer vermutlich. Wohnbauten aus den fünfziger Jahren in der Bahnhofstraße. Die Tür der Kneipe Zur Quelle steht schon am frühen Nachmittag einladend auf. Auf der Leuchtschrift über dem Eingang ist ein surreales Bild zu sehen, das eher Eisberge & Geysire zu zeigen scheint als eine Quelle. Will man das Lokal betreten, muß man zuerst unter einer riesigen Deutschland-Fahne hindurch, die über dem Eingang hängt. Schön ist das nicht, aber ich will endlich ein Bier trinken. Empfangen werde ich von einem Gesprächsfetzen: … ein vernünftiger Mann sagt sowas nicht. Was, könnte man fragen & sich natürlich vieles als Antwort vorstellen – so auch den in der Quelle zu lesenden Kneipenspruch: Bier & Weiber sind die besten Zeitvertreiber. Vollkommen überflüssige Verkehrsmeldungen aus Dresden werden in die Kneipe gespült, denn hier läuft merkwürdigerweise der Mitteldeutsche Rundfunk. Daß das Rauchverbot nur eine vorübergehende Schikane ist, davon ist die Wirtin überzeugt. Einstweilen ist die Quelle eben ein “Raucherclub”.

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Bald steht auch die “Walsumer Wacholderkirmes” ins Haus, mit Zapfenstreich, einem zünftigen bayerischen Abend usf. Feines für 4 Pfoten findet man in Walsum ebenso wie einen Theken-Treff. Der Kiosk mit dem eindeutigen Namen Don Promillo garantiert eine solide Alkoholversorgung. Der von zweistöckigen Nachkriegsbauten flankierte Franz-Lenze-Platz ist großzügig angelegt. In der Mitte des langgezogenen Platzes Parkanlagen, schließlich ein Parkplatz, ein Marktplatz, ein Supermarkt. Im häßlich ausgemalten Ritterkrug sammeln sich schon am frühen Nachmittag junge Trinker. Duisburg: Die Erde, die uns glücklich macht. Steht auf einem Transparent mit stilisierten Fördertürmen. Das lokale Drecksblatt rechtfertigt in einem Kommentar die Stillegung des Bergwerks Walsum: Ja, um die Schließung kam man nicht herum. Zu groß sind schon jetzt die überirdischen Schäden an Gebäuden, an Straßen, an Kanälen & Deichen. Ja, das Aus ist eine Erlösung für die Region. Ja ja ja … billige Einpeitsch-Rhetorik. Heute werden die untertägigen Gewinnungsmaschinen endgültig abgestellt. Mit der Buslinie 919, die nur alle 30 Minuten aus Alt-Walsum kommend in die Römerstraße biegt, obwohl sie weite Teile von Duisburgs nördlichstem Stadtteil als einzige Linie erschließt, fahre ich zur Haltestelle Schwan. Warum die wohl so heißt? Jedenfalls gibt es dort die Eckkneipe Zum Schwan, in die ich mich erst mal setze. Die Wörter vervielfachen sich, hallen wider. Gelenkte Evokationen. Am Schwan.

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Florian Neuner

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Hinweis

Florian Neuner liest am Montag im Rahmen der “Linzer Notate 5/09 ” aus seiner Grosscollage “Ruhr.Text” .

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One Response to Salon Littéraire | Florian Neuner – Dérive VII: Walsum
  1. [...] promener : Sur la route de Hovden ; en Norvège – Walsum ; promenade littéraire si on lit la langue, pour les autres, comme moi, il y a les photos. [...]

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