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Salon Littéraire | herbert j. wimmer : GÖTTERRHYTHMEN oder
ORPHEUS-TWOMBLY-SYNKOPEN
01
notiere: mythos nicht vergessen!
wer ich sagt, muss auch du sagen, wer du sagt, muss auch wir sagen, sagst du, dass ich gesagt habe, in deiner erinnerung, die im nu meine gegenwart ist.
orpheus, der alte hauchbua, auf ihrem weg durch den hauchbau, der alte hauchbauch dreht sich um zu erfahren, was sie zu seiner neuesten schöpfung sagt.
endlich, er dreht sich um.
eurydike atmet aus und karl marker spürt die leere in seiner hinweisenden hand, auf das bild, das er noch mit lea sommer gesehen hat, damals, in der ausstellung ARKADIA ETCETERA, das krakelige O im weissen, das nicht weiss ist, aber das weisse gut zitiert, das zitieren von weiss hartnäckig weiterzitiert, dauer als zitat, karl marker einfängt in seiner zitierzeit, in die vierte dimension hereinholt, als zeiträumliches zitat eines zeitraums im bildraum, im installationsraum, erinnerungen sprotzeln in marker hoch, im hin und her ihrer assoziationen, der höllenschlund, das sangesmaul, arschloch des lebens, mythentor, weisses loch, das alle differenz aufsaugt, ausspuckt, sechs alte griechische buchstaben, ein namenshauch von links nach rechts, schau doch, sagte sie, mit ihrem zeigefinger die luft der wahrnehmung ritzend, wahrnehmung in den raum kerbend, der zwischen ihnen und dem bild allem und für alles offen steht, für jede ablenkung offen ist, das kaum zu merkende flackern im indirekten museumslicht, das sie nicht sah, vielleicht wars ja auch sein beitrag zu seinem schauen, ein unkontrollierbares zucken der muskeln ums auge herum, oder eine fehlfunktion irgendwelcher nervenzellen, eine regelmässig auftretende meldungsunterbrechung, oder eine überfülle, die pulsierend ins bildproduktionszentrum eingefeuert wird, oder beides, ins indirekte gedämpft realisiert sich der unterschiedliche puls mehrerer lichtquellen in seiner wahrnehmung, die ihn dank ihrer fehlfunktionen bei ihrer? seiner? arbeit zuschauen lässt, schau doch, sagte sie und irgendjemand ging von rechts nach links durch ihr blickfeld, schon flackerte nur mehr der screen, dessen flimmern sich ihm vielleicht bereits so eingeprägt hatte, dass es ihm als grundmuster seiner wahrnehmung manchmal über alle möglichen schwellen ins bewusstsein pulste, an guten tagen ins bewusstsein schwebte, an schlechten tagen ins bewusstsein plumpste, sein bewusstsein knitterte und knüllte, krumpelte und knorrte, schau doch, sagte lea sommer und strukturierte mit ihrer hand die luft, zeichnerische gesten in seine erinnerung inserierend, ihm einzeichnend, dahinter das bild, vor dem er jetzt wieder steht, einen augenblick ungemessene zeit:
entnetzter knoten
das unvollkommene weiss
das spurentragende weiss
das spurenbergende weiss
das weiss als spur im puren
verdeckendes pur
verdecktes pur
verdeckte spur
verdeckende spur
pure spur
weiss sich verwandelnd
weiss sich anwandelnd
weiss sich wand
lea sommer schaut karl marker an, wie er lea sommer anschaut, in der bilderschau intensiviert sich ihr kontakt, spüren sie einander als schnittstellen auf gegenseitigkeit, spüren sie sich interface to interface, intersubjektiv auf gegenseitigkeit, wechselwirken sie aufeinander ein, wechselwirken sie sich ineinander auf, lesen sie sich, lassen sie einander ein in sich, lesen sie einander ein in sich, sich öffnend einander leben spendend, weil sie sich ineinander eingelassen haben, sich im anderen leben lassen, fähig sind, lebendig genug sind, offene intersubjekte, jederzeit in jeder jetztzeit voller erinnerung an sich und einander,
voller spiegelneurone,
voller neuronaler spiegelungen,
operativ geschlossen,
energetisch offen,
empathisch offen,
offen empathisch,
energie spendend,
das lea-sommer-karl-marker-kontinuum,
intersubjektivitäts-kontinuum,
interaktivitäts-kontinuum.
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02
abgrundlos
hast du das auch manchmal, fragt sie, dass sich die welt schneller verändert als ich einen satz aussprechen kann, anbringen kann?
wie meinst du das?
noch im sprechen merke ich, dass etwas so nicht mehr stimmt, so nicht mehr existiert. es ist nicht wichtig, aber es macht mir ein komisches gefühl.
sag mir ein beispiel.
wie ich im sagen war, dass du mal zum friseur gehen könntest, sah ich, dass du gerade vom friseur gekommen bist und ich sah deine locken meine erinnerung werden in der gegenwart deines neuen haarschnitts, in der ich mich schon befand, da hatte ich meinen vorschlag noch gar nicht vollständig ausgesprochen. da hatte ich so ein flattern im bauch, ein nanosekündchen lang, so eine grundlosigkeit, du weisst schon, die sich auftut, alle sicherheit scheint aufgelöst, alles ist unvertraut, vertrauenslos,
lea schaut karl fest an, karl schiebt die augenbrauen hoch und nickt.
mulm durchpulst mich, mulm, auf einmal mitten hineinzuschauen zwischen vorher und nachher und plötzlich wirklich wissen, es nicht nur so vor sich herzusagen, es gibt keinen weg zurück ins vorher, das ist vorbei, da bin ich nicht mehr, da sind wir nicht mehr, ich habe etwas erlebt, mir ist etwas bewusst geworden, das unabänderlich ist, vor allem habe ich mir beim bewusstwerden von etwas, das unabänderlich ist, zugeschaut.
ist da nicht auch ein bisschen trauer dabei?
jetzt, wo du es sagst, ja, trauer war glaube ich auch beigemischt, auch eine merkwürdige art von nicht-erschrecken, das mich erschreckte, keine angstlust, eher freude, bei aller unsicherheit, bin ich doch im nächsten augenblick, von dem ich schon weiss, in den ich schon eintrete, der schon eintritt, noch immer dieselbe person, erkenne ich mich wieder, erkenne ich dich wieder, alle muster sind an ihrem platz, die welt verändert sich wieder in ihrem rhythmus des unauffälligen.
und, wie findest du den haarschnitt?
sie fährt mit ihrer linken hand durch karls haar.
ein bisschen sehr kurz, aber sie wachsen ja nach.
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03
ikonogenesis
… hat den/die nach seinem/ihrem bilde geschaffen …
er/sie hat
sie/er hat erst mal
er/sie hat erst mal geschaffen
sie/er hat erst mal sich geschaffen
er/sie hat erst mal bild geschaffen
sie/er hat erst mal sich als bild geschaffen
er/sie hat erst mal ein bild geschaffen
sie/er hat erst mal ein bild von sich geschaffen
er/sie hat sich erst mal ein bild von sich geschaffen
sie/er hat dann den/die nach diesem bild geschaffen
die/der hat dann ein bild geschaffen
der/die hat sich dann ein bild geschaffen
die/der hat sich dann ein bild von sich geschaffen
der/die hat sich dann von IHM/IHR ein bild geschaffen
die/der hat sich dann davon ein bild geschaffen, wie er/sie von IHR/IHM nach SEINEM/IHREM bild geschaffen wurde
der/die hat sich dann andauernd bilder von sich und bilder von IHR/IHM geschaffen
die/der hat sich dann andauernd bilder geschaffen
der/die hat dann andauernd bilder geschaffen, die weder nach dem bilde von sich/ihr noch nach dem bilde von IHM/IHR geschaffen wurden
die/der hat dann andauernd nicht nach einem bild geschaffene bilder geschaffen
der/die hat dann andauernd bilder geschaffen
die/der hat dann andauernd bilder von bildern geschaffen
der/die schafft andauernd bilder von bildern von bildern und so weiter und so fort
die/der wird jetzt von bildern geschaffen, die nach ihren/seinen bildern geschaffen wurden
der/die wird jetzt von bildern geschaffen, die nach seinen/ihren bildern von sich/ihr geschaffen wurden
die/der wird jetzt von bildern geschaffen, die nach ihren/seinen bildern von ihr/sich nach ihren/seinen bildern nach IHM/IHR geschaffen wurden
der/die wird jetzt von bildern die nicht mehr nach seinen/ihren bildern von sich/ihr nach seinen/ihren bildern nach IHR/IHM geschaffen wurden geschaffen
die/der wird jetzt
der/die wird
als bild
bild
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04
mythengebrauch / gebrauchsmythos
alles
was wir über alles wissen
was wir nicht mehr wissen
ist ein mythos
der wird
immer neu
immer ausgedehnter
immer komplexer
in all der sprache
die sich anwendet
die mir sich anwendet
die mich anwendet
die ich anwende
die sich an mich wendet
die mich an sich wendet
die für mich sich wendet
die ich wende
im gebrauch
von allem
was wir über alles wissen
was wir noch nicht wissen
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05
in phatischer phase, der gesprächssinn
das läuten des telefons holt einen zurück in die welt der stimme des anderen, der eigenen stimme, des ineinandergleitens; schon wieder ein anfang, ein weitermachen des anfangens.
die sprechmelodie des vormittags im licht des vormittags, sanfte alltagsmassage, leicht bis zur aufmerksamkeit gewalktes auftragssprechen, besorgungssprechen, rückerinnerungssprechen, aufsteh- und herumgehsprechen, das sprech-sprechen, sprechen hervorrufendes sprechen, weiter-gehts-sprechen, gegenwartsversicherungssprechen, gegenwartswiederversicherungssprechen, in den vormittag hinein sprechen, ins rote licht des vormittags hineinsprechen, ins hautlicht der geschlossenen lider hineinsprechen, die bilder der träume zerbröseln in der helligkeit des vormittags, unschärfen im blick und alles ist noch da wo es hingehört, unverändert, schon wieder unverändert, wo was hingehört, da ist es auch, die stimmen festigen die anblicke, besorgungssprechen, wieder mit geschlossenen augen sprechen, bist du auch noch da, wenn du da bist, oder bist du nur mehr da, wenn du nicht da bist, an der kommunikationsschnur hängen, im funkwellenschauer liegen, in der wellenschaukel der wortfolgen, halbsätze, ausrufe und imperative, die eigene stimme hören und hören, was die eigene stimme sagt, die imperative, ausrufe, halbsätze, wortfolgen und lautkombinationen wiedererkennen, die andere stimme hören wie die eigene stimme, die eigene stimme in der anderen hören, die andere stimme in der eigenen hören, wieder in sich hineinschlüpfen, in die kleidungsstücke des sprechens, in den gesprächsanzug, der passt wie angesprochen, wie ausgesprochen, was du nicht sagst, wass du sagst, hauptsache wir sprechen miteinander, brummende zufriedenheit, laschivitäten und alerticks, ein traum-rest spricht ein in den vormittag, in den noch sprechlich gedämpften alltag, in den in sprachwolle, sprachwatte, in milchig-fleckiges sprachlicht gepackten aufwachraum, traumerzählungen werden mit traumerzählungen beantwortet, traumzählungen im austausch, traumruinen des alltags, der alltag der traumruinen, was geträumt wurde, was voneinander geträumt wurde, wie von anderen leuten geträumt wurde, was vom nächsten tag geträumt wurde, schnauben, räuspern, husten, rotzen, schneuzen schärft den anwesenheitssinn, langsam empfindet ein sprechend hörender seine anwesenheit, empfindet er sich in der sprechenden anwesenheit, hört er, wie ihm zugehört wird, nicht länger hört er sich zu, schliesst er sich, macht er sich dicht, er hört sich auf, öffnet sich in den vormittag, gewiegt von der ausgeschlafenen stimme, das munterkeitssprechen durchdringt ihn, melodisiert ihn, sprechkonturen bilden sich ihm, unscharfes gerät ins scharfe, allmählich sich bildende aussagesätze entsprechen sich ihm, entfallen ihm hinein in die sprechmuschel, in den aufnahmeteil, feuchtes plastik spürt er an den lippen, der lebenssaft des sprechens enttropft ihm, wie er sich ihm eintropft im hören seines sprechbegleiteten munterwerdens, sag noch was, sagt er, gleich bin ich aufgestanden, noch muss nicht wirklich eine aussage angeboten werden, noch werden aussagen nicht wirklich bemerkt, nur das sprechen darf nicht aufhören, irgendwas gibts immer noch zu sagen, dir fällt doch immer was ein, wir haben noch nicht über gestern geredet, noch nicht besprochen, worüber wir noch zu sprechen haben, der vormittag klingt hell, durchbellt von einem einzelnen lachstoss, kein traumrest ist mehr zu fassen, kein resttraum verunschärft, was sich als alltag anblicken lässt, als gewohnheitsmässig geordnete oberflächenstruktur bereitschaft zeigt, den aufgewachten in sich gewohnheitsmässig aufzunehmen, ins gewohnheitsmässige einzulassen, herumgehen zu lassen, den üblichen gebrauch zu machen von räumlichkeiten und gegenständen, noch immer die anrufstimme im ohr, die er einhört und aushört, die ihn einhört und aushört, im gespräch hält.
wenn wir aufhören anzufangen,
werden wir nichts mehr mit uns anfangen können,
notiert karl marker das ende einer aufwachphase auf einen küchenzettel. telo-memoir, wird er demnächst ins gespräch bringen, und proximatrix, ein brauchbares eröffnungswort.
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06
rhythmophil im rhythmoos liegen
wenn das kunstwerk, denkt lea sommer, das bild da, eine erfahrung ist, dann führt diese erfahrung möglicherweise dauerhaft zu einer veränderung meines hirnstoffwechsels, vielleicht ins glückshormonell ausschüttungsfreudigere, in eine zunahme der ankopplungsmöglichkeiten, oder der verringerung der ankopplungsmöglichkeiten für stresshormone, zweitweise wenigstens.
lächelnd mühelos in götterrhythmen / wie den nebel himmelsglanz durchschreitet / schreitet helios schwebend über fluren
haucht das alte namenskrakel die gefährtin aus dem bild. hauch mich weg, wünscht sich eurydike, die nicht als wiederbelebte tote zurück zu den lebenden will. wer mal gestorben ist, kann nicht wieder so leben wie zuvor. dreh dich um!
endlich! er dreht sich um.
du bist frei, wie du es immer warst, entlässt sie den gefährten.
erinnerung setzt ein.
20.09.2009 – 01.02.2010 ( aus dem roman in progression: MEMBRAN )
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quellen:
cy twombly, orpheus-zyklus
bettina von arnim, eilt die sonne nieder zu dem abend
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