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Salon Littéraire | Arno Gisinger | Nathalie Raoux :
KONSTELLATION | Walter Benjamin en Exil
Nicht so ist es, das das Vergangene sein Licht auf das Gegenwartige
oder das Gegenwartige sein Licht auf das Vergangene wirft,
sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt
blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten:
Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn wahrend die Beziehung der
Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist,
ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern
Bild, sprunghaft. ¡V Nur dialektische Bilder sind echte (das heist: nicht
archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.
“Erwache”
Walter Benjamin, Passagen-Werk [N2a, 3]
Vorbemerkung
Berlin 1933 – Portbou 1940: sechsunddreissig “Standbilder” des Fotografen Arno Gisinger von den Exilorten des deutschen Philosophen Walter Benjamin. Im Wechselspiel mit Benjamins Korrespondenz reflektieren die Fotografien das Hier und Jetzt von Orten und Nicht-Orten der Geschichte. Eine Chronologie der französischen Philosophin und Historikerin Nathalie Raoux situiert Benjamins Biografie im historischen Kontext seiner Zeit und ein Nachwort des Kunsttheoretikers Georges Didi-Huberman analysiert das Prinzip der Montage bei Brecht und Benjamin. Konstellation Benjamin ? Ein Zusammenspiel von Gegenwart und Vergangenheit, von historischer Forschung und Fotografie, von Text und Bild. Eine neue Form, dem Denker des Verlusts der Aura und der Politisierung der Kunst gerecht zu werden. Eine andere Interpretation der Geschichte eines europäischen Schicksals.
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Kurz ich mag mein Blickfeld soweit ausspannen wie ich will:
ich finde den Horizont ebenso verhangen wie die mir vor
Augen liegenden Existenzen. Bei alledem muß ich selbst
noch von Glück sagen, daß mein Sohn, der bis vor kurzem
in Wien war, inzwischen bei seiner Mutter in Italien ist. Was
den österreichischen Juden bevorsteht, von denen nun nicht
einmal dem bemittelten Teil, wie es in Deutschland der Fall
war, die Flucht offensteht, so ist der Gedanke an sie nur
schwer erträglich.
Bref, si grand que j’ouvre mon champ de vision, je trouve
l’horizon aussi trouble que les existences que j’ai sous les
yeux. En tout cela, il me faut encore m’estimer moi-même
heureux de ce que mon fils, qui était à Vienne jusque dernièrement,
soit entre-temps chez sa mère en Italie. Quant au
sort des juifs autrichiens, dont même ceux des milieux aisés
n’ont pas les moyens de s’enfuir comme c’était le cas en
Allemagne, de simplement penser à eux est insupportable.
An / à Karl Thieme, Paris, 27.3.1938
Gestern habe ich die mehreren Hundert hier befindlichen
Bücher für den Transport nach Paris klar gemacht. Ich habe
nun aber mehr und mehr das Gefühl, daß dieser Bestimmungsort
für sie wie für mich zu einer Umladestation wird
werden müssen. Wie lange die Luft in Europa materialiter
noch zu atmen sein wird, weiß ich nicht; spiritualiter ist es
nach den Vorgängen der letzten Wochen schon jetzt der Fall
nicht mehr. Leicht kommt die Feststellung mich nicht an;
aber sie läßt sich wohl nicht mehr umgehen.
Hier j’ai préparé le transport à Paris des quelques centaines
de livres qui se trouvent ici. Mais à présent, j’ai de plus en
plus le sentiment que cette destination devra n’être pour eux
et pour moi qu’un lieu de transit. Je ne sais combien de
temps l’Europe restera materialiter respirable ; mais spiritualiter,
après les événements de ces dernières semaines, ce
n’est déjà plus le cas. Je ne fais pas ce constat de gaieté de
coeur, mais il n’est sans doute plus possible de le contourner.
An / à Theodor W. Adorno, Svendborg, 4.10.1938
Lorsque je me suis rendu au stade de Colombes je n’avais
pas idée d’entrer dans une situation en marge de tout état
bien défini. Je m’y suis fait autant que possible ; mais à la
voir se prolonger les heures noires ne manquent pas. L’envoi
que vous m’annoncez de la part d’Adrienne me fera le plus
grand plaisir. Si je vous avoue qu’une tablette de chocolat ou
quelques cigarettes me feraient plaisir, c’est surtout pour me
ménager un signe d’amitié de Votre part.
Als ich mich ins Stadion von Colombes begab, dachte ich
nicht, in eine Situation am Rande jeglichen klar definierten
Zustandes zu geraten. Ich habe mich so gut es ging angepaßt;
nachdem diese nun aber andauert, mangelt es nicht
an dunklen Stunden. Die Post, die Sie mir von Adrienne ankündigen,
wird mir große Freude bereiten. Wenn ich Ihnen
gestehe, daß eine Tafel Schokolade oder ein paar Zigaretten
mir große Freude bereiten, so vor allem deshalb, weil sie
mich eines Zeichens von Freundschaft Ihrerseits versichern.
à / an Sylvia Beach, Vernuche, 26.10.1939
Nous ne sommes, jusqu’à présent, aucunement fixés sur
notre sort. Il va sans dire que l’attente comporte des heures
sombres. La vie en une communauté aussi grande et aussi
diversement composée n’est pas toujours facile. En revanche,
il faut reconnaître qu’il règne dans le camp un esprit de camaraderie
bienfaisante et que les autorités font preuve de vraie
loyauté.
Wir wissen bis jetzt nicht im Geringsten über unser Schicksal
Bescheid. Es versteht sich von selbst, daß das Warten düstere
Stunden beinhaltet. Das Leben in einer solch großen
und so unterschiedlich zusammengesetzten Gemeinschaft
ist nicht immer einfach. Ich muß jedoch zugeben, daß im
Lager ein wohltuender Kameradschaftsgeist herrscht und die
Verantwortlichen ein wirklich loyales Verhalten unter Beweis
stellen.
À / an Gretel Adorno, Vernuche, après le / nach dem 25.9.1939
On se demande si l’histoire n’est pas en train de forger une
synthèse ingénieuse de deux conceptions nietzschéennes, à savoir
des guten Europäers et des letzten Menschen. Cela pourrait
donner den letzten Europäer. Nous tous nous luttons pour ne
pas le devenir.
Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine
geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu
schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des
letzten Menschen. Dies könnte den letzten Europäer ergeben.
Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.
À / an Stephan Lackner, Paris, 5.5.1940
Die völlige Ungewißheit über das, was der nächste Tag, was
die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen
meine Existenz. Ich bin verurteilt, jede Zeitung (sie erscheinen
hier nur noch auf einem Blatt) wie eine an mich ergangne
Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme
des Unglücksboten herauszuhören.
La totale incertitude de ce que peut apporter le prochain jour,
la prochaine heure, domine mon existence depuis de nombreuses
semaines. Je suis condamné à lire chaque journal
(ils ne paraissent plus que sur une feuille) comme une notification
qui m’est adressée personnellement et à percevoir en
toute émission de radio la voix d’un messager de malheur.
An / à Theodor W. Adorno, Lourdes, 2.8.1940
Il y a presque un mois que j’ai obtenu le visa d’Amérique.
Tu vois que jusqu’à présent cela ne m’a pas encore servi à
grand’ chose. Il est superflu de te faire l’inventaire de mes
projets râtés ou nouvellement formés. Je pense beaucoup
à toi et j’espére de tout coeur qu’une solution provisoire ne
tarde pas à intervenir pour toi. Quant aux solutions définitives,
il paraît que nous en devons faire notre deuil.
Vor fast einem Monat habe ich das Visum für Amerika
erhalten. Du siehst, daß es mir bis jetzt noch nicht allzu viel
genützt hat. Es ist überflüssig, Dir eine Aufstellung meiner
gescheiterten oder neu formulierten Projekte zu geben. Ich
denke viel an Dich und hoffe von ganzem Herzen, daß sich
bald eine provisorische Lösung für Dich ergeben wird. Die
endgültigen Lösungen, so scheint es, müssen wir wahrscheinlich
aufgeben.
À / an Alfred Cohn, Marseille, 17.9.1940
Dans une situation sans issue, je n’ai d’autre choix que d’en
finir. C’est dans un petit village dans les Pyrénées où personne
ne me connaît ma vie va s’achever. Je vous prie de transmettre
mes pensées à mon ami Adorno et de lui expliquer la
situation où je me suis vu placé. Il ne me reste pas assez de
temps pour écrire toutes ces lettres que j’eusse voulu écrire.
In einer ausweglosen Situation habe ich keine andere Wahl als
Schluß zu machen. In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen,
wo mich niemand kennt, wird mein Leben zu Ende gehen.
Übermitteln Sie bitte meinem Freund Adorno meine Gedanken
und erklären Sie ihm die Lage, in die ich mich versetzt sehe. Es
bleibt mir nicht genügend Zeit, um all jene Briefe zu schreiben,
die ich noch schreiben wollte.
Mots d’adieu de Walter Benjamin (?), Portbou, 25.9.1940,
reconstruits et retranscrits de mémoire par Henny Gurland.
Abschiedsnotiz von Walter Benjamin (?), Portbou, 25.9.1940,
rekonstruiert und niedergeschrieben von Henny Gurland.
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© 2009 Arno Gisinger pour les photographies / Fotografien
© 2009 Nathalie Raoux pour la chronologie / Chronologie
© 2009 Georges Didi-Huberman pour la postface / Nachwort
© 2009 Trans Photographic Press, Paris pour l’édition française
© 2009 Bucher Verlag, Hohenems, Wien für die deutschsprachige Ausgabe
Photographies et reproductions / Fotografien und Reproduktionen : Arno Gisinger
Illustrations chronologie / Illustrationen Chronologie : Collection / Sammlung Nathalie
Traductions / Übersetzungen : Arno Gisinger, Nathalie Raoux, Aline Steiner
Corrections / Korrekturen : Aline Steiner, Paris, Peter Natter, Dornbirn
Design graphique / Grafische Gestaltung : Dominique Gaessler, Paris
QUELLE | SUBSKRIPTION
Arno Gisinger und Nathalie Raoux – KONSTELLATION. Walter Benjamin en exil - Nachwort von Georges Didi-Huberman – Trans Photographic Press , Paris sowie Bucher- Verlag , Hohenems 2009
Gebundene Hardcover- Ausgabe im Querformat 22,8 x 30,5 cm , 120 Seiten , 36 Farbfotografien und zahlreiche Abbildungen , Offset-Druck auf Kunstdruckpapier matt 170 g. Ladenpreis: 39 Euro | Limitierte Sonderausgabe ( 36 Exemplare ) : 200 Euro
Sonderausgabe im Plexiglas- Schuber mit einer nummerierten und handsignierten Originalfotografie ( Lambda- Print ) im Format 22,5 x 30 cm. Auswahl aus den obenstehenden sechs Motiven in einer Edition von jeweils sechs Stück.
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Hey, schöne Erinnerung an Benjamin. Lange nicht mehr hervorgeholt.
P.S. Jetzt lese ich nach Reisen, Feiern und Montage einer festen Zahnspange (mit 40!) dieses Blog, und sehe immer noch meinen Namen unter ‘aktuelle Kommentare’. Was ist eigentlich im Netz los? Aber lass Dir nichts einreden. Nach wie vor eines der besten Blogs überhaupt.
Ja , lieber Björn , Arno Gisingers fotos sind grossartig m die auswählten Korrespondenz- Texte von der Flucht nach Port Bou natürlich erschütternd .
Bist Du vielleicht aus Gründen der Zahnregulierung auf Deine Reise ins einsame Spessart geflohen?
Die Kommentare @ in|ad|ae|qu|at halten sich in der Tat in engen Grenzen . Viele schicken einfach ein Mail und sind an den Spielregeln des Mediums “Blog” kaum interessiert …
Plexiglas-Schuber klingt hübsch. Aber die Offset-Variante wird es auch tun. Jedenfalls ein gutes Projekt, wird einem warscheinlich manchmal den Atem rauben.
(Die Vermutung, ich hätte meine Zähne aus Gründen der Gebisskorrektur bibergleich in hartgefrorene Spessartbäume gegraben, ist nicht ganz zutreffend. Zwischen den Jahren ist immer eine gute Zeit, um die Ohren frei zu kriegen. Eine Woche Klang im tiefen Schnee. Und diesmal konnte ich die Tour noch ohne lingualtechnischen Genuss verbringen. Zum ‘Beißer’ wurde ich erst danach)
ad “zum Beisser geworden” : Björn , bist Du inzwischen Vampyr ????
Das bezog sich nur auf die gleichnamige Figur aus “The Spy who loved me”. Zwar bin ich kein Freund von James Bond-Filmen, aber mit dieser Zahnspange fühle ich doch eine Art Seelenverwandtschaft mit dieser Figur, die Richard Kiel so feinsinnig verkörperte.
Huch , wie grimmig !