audio aktuell

||| HEINER MÜLLER : EINEINHALB TAGE | MICHAEL PERKAMPUS’ AUDITIVES PANOPTIKUM | SINUS- VERLAG : GEDIEGENE KLASSIKER

| echt welt texte |

HEINER MÜLLER : EINEINHALB TAGE

NZZ , 6. 5. 2011

Die Hinterlassenschaft Heiner Müllers ( 1929 – 1995 ), der sein Werk ebenso wie dessen Motive und Sprache stets als “Arbeit am Material” verstand, liegt nun in einer umfassenden auditiven Ausgabe des Alexander Verlags vor: Mitschnitte von Lesungen, Gesprächen und Podiumsdiskussionen, Selbstauskünfte in Radio-, TV- und privaten Tonaufnahmen. Die 36 Stunden umfassende Monumentalausgabe titelt treffend “Müller mp3“, das Monolithische von Müllers Oeuvre betonend.

Reicht Müllers Dramatik bis in die späten Fünfziger Jahre zurück, gibt es spätestens ab 1961 Konflikte mit dem Regime. Allerdings weist Müller verschiedentlich darauf hin, dass er mit der DDR-Bürokratie einen produktiven Feind für sein Schreiben fand; Unter diesen Umständen, so Müller, müsse Theater, müsse Literatur “stören”. Als dann die Mauer gefallen war und sich noch kein klarer Feind ausmachen liess, attestiert sich Müller einen “writer’s block”. Umso mehr wurde der Autor in Dutzenden von Interviews und TV-Runden nach den Themen seines Theaters befragt bzw. zur “conditio Germaniae” vor und nach der Wende.

Das strikt Dokumentarische der Edition bietet hinlänglich Gelegenheit, Müllers – erstaunlich leiser – Stimme nachzulauschen und einer Lesekunst, die sich jedes emphatische Moment versagt. Nicht zuletzt ist es der immer wieder durchblitzende Humor, welcher auf befreiende Weise das Pathos der “grossen Geschichte” hintertreibt. Phänomenal ist auch das knapp 200 Seiten starke Textbuch, welches penibel nicht nur jede einzelne Aufnahme nach Zeit und Ort verzeichnet, sondern jedem Einzeltrack Paraphrase und Kommentar beigibt. Besser geht es einfach nicht.

|||

| echt welt texte |

MICHAEL PERKAMPUS’ AUDITIVES PANOPTIKUM

NZZ , 6. 5. 2011

Frech sind sie, streifen haarscharf an Tabus, kippen unvermittelt ins Phantastische schwingen sich dann überraschend zum Poetischen auf. Der Schriftsteller und “Sprachakteur” Michael Perkampus (Jahrgang 1969) hat 21 akustische Minidramen verfasst, vertont und verlesen. Nicht wenige dieser angerissenen Situationen und Konstellationen verfügen über gar kein Ende im klassischen Sinn, sondern brechen jäh ab, das Finale der Phantasie des Hörers anheim gebend.

Perkampus’ Kurz- und Kürzestszenen scheuen weder den makaberen Witz noch das anarchisch Alberne. Seien es durchnummerierte Kalbsknochen als Modellbausatz für Kinder, sei es der Weltverlust einer alten Dame oder sei es das Liebesleben von Autobussen und -”Büssinnen”. Kurz: Eine genuin surreale Fabulierlust prägt Perkampus’ “short cuts”. Schon der dem Visuellen entlehnte Titel “Guckkasten” suggeriert ein akustisches Panorama des sogenannt “Anormalen”, wie man es früher bei Schaustellern auf Jahrmärkten zu sehen bekam. Wo die Einzelideen ihre Fluchtpunkte in alle Richtungen streuen, sorgt ein bestechendes Sounddesign für deren Zusammenhalt. Neueren Entwicklungen folgend liegt Perkampus’ aberwitziges Klangtheater einerseits als MP3-CD und einer Download-Fassung beim Schweizer Verlag edition taberna kritika (etk) vor sowie als Angebot bei i-tunes .

|||

| echt welt texte |

SINUS- VERLAG : GEDIEGENE KLASSIKER

NZZ , 6. 5. 2011

In Sachen “Weltliteratur in Buch und Hörbuch” lässt der Kilchberger Sinus-Verlag aufhorchen. Mit gutem Gespür für angemessene Stimmen, sorgsame Textedition und -Kommentierung lässt Sinus “seine” Klassiker Gestalt annehmen und zu denken geben. Dies gilt für Dostojewskis “Grossinquitor” (neu übersetzt und ausgreifend kommentiert von Albert Bolliger) ebenso wie für die ausgewählten Erzählungen der Marie von Ebner-Eschenbach.

Die zunächst als 5. Kapitel des 5. Buches der “Brüder Karamasow”, später auch eigenständig als “Legende vom Grossinquisitor ” erschienene Parabel, worin Christus in Menschengestalt auf die Erde wiederkommt, und dort prompt der Inquisition anheim fällt, ist Dostojewskis ebenso verzweifelte wie radikale Kritik an der christlichen Teleologie: Was wäre, erörtert der Grossinquisitor in seinem Monolog, bräche tatsächlich der Jüngste Tag mit der endgültigen Wiederkehr Christi an. Wäre der Mensch überhaupt fähig, seine heilige Freiheit zu nutzen?

In Peter Matics gnadenlos genauer Diktion entfaltet die jesuitische Kasuistik ihre Logik und stellt ein peinlich pessimistisches Menschenbild vor, demgemäss allein die Kirche den Menschen vor dem Auszug aus der selbstverfügten Unmündigkeit bewahre.

Auch in den sozialkritisch wachen Erzählungen Marie von Ebner-Eschenbachs tritt das Subjekt als unmündig auf, sofern es dem einfachen Volk angehört. Im feudalen Verhältnis zwischen Landaristokratie und ruralem Lumpenproletariat tritt Letzteres als sittlich und moralisch verkommen auf, während die Aristokratie – selbst vielfach verblendet und einer bukolischen Romantik anhangend – das tragische Potenzial des “einfachen Mannes” drastisch verkennt. Nicht zuletzt sind es die Tierschicksale – meisterhaft in “Krambambuli” und “Die Spitzin” – in welchen sich die animalische Instinktsicherheit als der “Moral” des Menschen überlegen erweist.

|||

There are no comments yet. Be the first and leave a response!

Leave a Reply

Wanting to leave an <em>phasis on your comment?

Trackback URL http://www.zintzen.org/2011/05/10/audio-aktuell-29/trackback/