Salon Littéraire | Florian Neuner : rust belt diaries ( I )

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Salon Littéraire | Florian Neuner :

rust belt diaries ( I ) | 1. Mai

der rust belt, früher: manufacturing belt, ist die älteste industriezone der usa & erstreckt sich von new york bis nach chicago. steinkohle- & erz-, aber auch erdölvorkommen bildeten die grundlage der industrialisierung. pittsburgh entwickelt sich zum zentrum der stahlindustrie, während detroit zur “motor city” avanciert. niedergang der industrien seit den siebziger jahren des 20. jahrhunderts; verlagerung der produktion in die dritte welt, aber auch in den sun belt im süden der usa. seitdem ist vom rust belt die rede; verbrannte erde des kapitalismus. wo es keine sozialdemokratie gibt, die den ärgsten dreck zusammenkehrt, bleibt er liegen, wird manches kenntlicher; ruinenlandschaften in detroit, zumindest partiell gelingender “strukturwandel” in pittsburgh. nach meinen jahrelangen expeditionen durch das ruhrgebiet interessierte mich ein seitenblick auf post-industrielle topographien unter den bedingungen der us-amerikanischen spielart des neoliberalismus. auch hier gilt das motto von ilse aichinger: “die oberflächen sind wichtig.”

flughafentag, wintertag. lange wege durch das parkhaus. national airport, auch: ronald reagan. sollte schon mal geschlossen werden, scheint aber tatsächlich massiv ausgebaut worden zu sein in den letzten jahren. inlandsflüge, verspätungen. starts & landungen in unmittelbarer nachbarschaft des pentagons. bequemlichkeit geht über sicherheit. die abgeordneten wollen so schnell wie möglich ins wochenende starten. kaffee zunächst, rumsitzen, warten. die frage, ob das gepäck nicht viel zu schwer ist. die umständlichen, schikanösen kontrollen, das auspacken des laptops, das ausziehen der schuhe. die genervten vielflieger. die über die kontrollen fluchen & die verspätungen. der abflug verzögert sich. warten, tote zeit. das stehen in schlangen. herumsitzen. die paradoxe entschleunigung beim reisen mit dem vermeintlich schnellsten verkehrsmittel. der flug wird schließlich anulliert. weitere schlangen, fluchen, umbuchungen. die aussicht, erst am nächsten tag fliegen zu können.  erbarmen mit dem reisenden aus europa, für den doch noch eine lösung am selben tag gefunden wird. taxifahrt zum dulles international airport, herumsitzen in anderen terminals. fast food, medienmüll. sportübertragungen am samstagnachmittag, auch etwas politik. why does china matter? die bange frage, ob die gefahr besteht, den anschluß zu verlieren. kurzer flug in den schnee, über berge. pittsburgh international airport; siebziger jahre, beton, schon in der dämmerung. weite parkplätze. letzter aufruf für den flug nach paris, die einzige europa-verbindung. airport boulevard. entering pittsburgh. das bevorstehende sportereignis lockt touristen an. go steelers! die busfahrer unterstützen die heimische mannschaft. erinnerungen an die stahlindustrie. men & steel. es habe eine zeit gegeben, zu der sei pittsburgh führend gewesen, 60 % der weltstahlproduktion. steel city, smoky city.

tage in dunkelheit. oft sei es schon mittags dunkel gewesen. qualmende schlote im tal am fluß. nichts davon ist übriggeblieben. alte photos in schwarz-weiß. steel nationrustbelt1-4 schwarz-gelb. das post-industrielle zeitalter, die beschwörung der zukunft. eine tradition der innovation. auf den stahl folgt wissenschaft, technologie, auch kreativwirtschaft. pittsburgh is art! wie pittsburgh die welt verändert hat: atomwirtschaft, robotertechnik (“roboburgh“), die ersten künstlichen herzklappen, das weltgrößte zentrum für lebertransplantationen, das erste “grüne” kongreßzentrum der welt usf. we can do it! im senator john heinz history center werden nicht nur die erfolgsgeschichten der großen unternehmer & erfinder erzählt – carnegie, westinghouse, kier, heinz usf.; die erste öl-raffinerie, die entdeckung des aluminium-schmelzverfahrens, die erste ketchup-flasche mit drehverschluß usf. die rede ist auch von streikbewegungen & anarchismus. von den tiefen wurzeln des anarchismus in pittsburgh. der pittsburgh proclamation, in der sich johann joseph most 1883 auf die unabhängigkeitserklärung berief: im falle einer langen reihe von mißbräuchen mit der absicht, das volk dem absoluten despotismus zu unterwerfen, sei es dessen pflicht, eine solche regierung umzustürzen.

rustbelt1-2 & dieser moment sei jetzt gekommen. die regierung sei nichts anderes als eine verschwörung der herrschenden klassen gegen das volk. der tag der solidarität ist gekommen! unterdrücker dieser welt, erzittert! oder von dem anarchisten alexander berkman, der 1892 ein erfolgloses attentat auf den industriellen henry clay frick verübte. nach der großen schlacht von homestead. vom vermächtnis von homestead ist die rede. es ist fast unmöglich, sich all die großartigen möglichkeiten auszudenken, die sich den menschen in einer gesellschaft des kommunistischen anarchismus eröffnen würden. der wissenschaftler könnte sich völlig seiner geliebten forschung widmen, ohne sich um sein tägliches brot sorgen zu müssen. dem erfinder würde jede anlage zur verfügung stehen, um mit seinen entdeckungen & erfindungen die menschlichkeit zu fördern. der schriftsteller, der dichter, der künstler – sie alle würden auf den flügeln der freiheit & gesellschaftlichen harmonie zu größeren leistungen getragen. in einer stadt, die aus 30 stadtteilen zusammengesetzt ist. ein flickenteppich. rustbelt1-6kleinräumige identitäten, inzwischen großteils abgeschliffen. im history center wird stolz der lokale dialekt präsentiert: pittsburghese. irgendwo auch noch reste der alten deutschtown. die teutonia männerchor hall, ein trutziges gebäude mit einer fachwerk-fassade. yuengling beer in der one ten lounge in der smithfield st., die auf eine brücke über den monongahela river zuläuft. hoher geräuschpegel dort, der vorabend des football-spiels. steelers fans only. heißt es in einigen läden streng parteiisch. entertainment in der heinz hall: das pittsburgh symphony orchestra biedert sich mit musicals & pop an. in einem der kleineren hochhäuser residieren stolz die united steelworkers: unity & strength for workers. allein, es gibt keinen einzigen hochofen mehr in pittsburgh. in den strukturwandel fließt hier zwar kein sozialdemokratisches fördergeld, die parolen sind aber dieselben wie in europa: from steel to science, we’re leading the way. die monongahela & die duquesne inclines, die beiden letzten alten standseilbahnen, führen auf den mt. washington, vormals: coal hill. rustbelt1-5 wiege des steinkohlebergbaus in pennsylvania, ca. 1760. blick auf die downtown, auch auf das stadion (heinz field). zwei grün gekleidete, gegnerische jungs lassen sich mit dem stadion im hintergrund photographieren. blick auf eine flußlandschaft, den zusammenfluß von allegheny & monongahela river, auf die vom preußischen immigranten john a. roebling erbaute erste stahlseil-hängebrücke. in allegheny, nördlich der innenstadt, ist gertrude stein geboren. grandview avenue: der blick auf die stadt mußte vor ein paar jahren erst wieder freigeschlagen werden. darüber klärt ein text auf einer tafel auf. entfernung von problem-bäumen, langsam wachsende bäume & sträucher als ersatz usf. die ganze stadt bereitet sich auf das spiel vor. es dämmert, auf den parkplätzen rund um das heinz field wird bier getrunken. dazu werden feuer entfacht an diesem sonntagabend im januar. beer e & o, early & often. cultural district, penn-liberty historic district. historische orte in der innenstadt. spät-viktorianische architektur, aber auch frühes 20. jahrhundert.  erinnern an das pittsburgh agreement, 1918. dokument des willens der tschechen & slowaken, einen gemeinsamen demokratischen staat zu bilden; mitunterzeichner tomáš masaryk wird kurz darauf sein erster präsident. erinnern an den großen streik von 1877. das pulverfaß explodiert in pittsburgh. ein viertel der bevölkerung ist an den dreitägigen unruhen beteiligt. auch frauen, kinder, halbwüchsige jungen. schienen zerschneiden die städte, leben in schmutz & gefahren. nach zehnprozentigen lohnkürzungen stoppen arbeiter der pennsylvania railroad company, des größten unternehmens der welt, am 20. juli züge, die den güterbahnhof im strip district verlassen wollen. der sheriff, alarmiert die gleise zu räumen, ruft milizen aus philadelphia herbei. er weiß, daß die lokalen kräfte sich nicht gegen die eigenen leute einsetzen lassen. die truppen aus philadelphia feuern in die unbewaffnete menge & verschanzen sich dann im lokschuppen an der 26ten straße. die arbeiter zünden waggons an & lassen sie in den lokschuppen fahren.

 als dort feuer ausbricht, evakuiert general b. seine truppen, die weitere 20 zivilisten töten. später wird die innenstadt von fan-gesängen & gegröle erfüllt sein – die innenstadt, die sonst ausgestorben ist zu vorgerückter stunde. gedränge in den imbissen & supermärkten. warten auf letzte busse.

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Florian Neuner ( Bio – Bibliographie )

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