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Salon Littéraire | Stan Lafleur ( Text ) , Arek Gola ( Fotografie ) :
Herr Topowski erinnert sich 04 | Eine Badementelschönheit
Ich sehe sie. Blanche. Im Bademantel. 17 ist sie. Im Bademantel sitzt sie, hockt sie, an die Haustür gelehnt, im Vorgarten ihrer Eltern. Sie liest. Der Briefträger hat ihr einen Brief gebracht. Von mir ist er nicht. Wäre er doch von mir! Geschrieben habe ich ihr nie. Blanche. Das Knattern des Mopeds des Postboten, das sich am Ende der Straße verliert. Sie sitzt, sie hockt, ihr weißblond getöntes Haar – wie effektiv es ihr Gesicht umrahmt! Sie wirkt Meilen entfernt, der Vorgarten ist so grün, ein Grün wie im Spielfilm, Technicolor, es ist allerbestes Grün, es ist grell, es ist zu grün, grün sei die Farbe der Hoffnung, heißt es, aber dieses Grün schlägt alles tot.
Sie hockt dort im Bademantel an die Haustür gelehnt und liest einen Brief, den nicht ich ihr geschrieben habe, obwohl dieser Brief unbedingt von mir sein sollte, ganz klar. Sie hockt dort und der Bademantel gibt ihren Schenkel frei, ein Wunder von einem Schenkel, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Ich stehe unter Schock, ich schaue Blanche beim Lesen zu, ihr Gesicht verrät nichts über den Inhalt des Briefes. Die Meisen schimpfen. Wer weiß, ob sie überhaupt liest, vielleicht ist dieser Brief für Blanche nur Vorwand, ihre Schönheit der ganzen Nachbarschaft zu präsentieren. Sie sieht mich nicht, aber sie weiß, daß jeder sie sieht.
Und wieder sehe ich Blanche. Immer wieder sehe ich Blanche, seit wie vielen Jahren geht das nun schon so? Blanche in ihrem weißen Bademantel, ihr weißblond leuchtendes Haupt. Als sie 17 war, 18, 19, habe ich sie auf dem Weg zur Arbeit oft morgens dort hocken sehen, sogar im Winter lehnte sie manchmal im Bademantel an der Haustüre und starrte versonnen auf die Post. Doch nun ist alles anders. Dies ist ihr Haus, nicht das Haus ihrer Eltern, auch wenn sich beide Häuser gleichen. Blanche ist 30, 40 oder 50. Oder schon 60? Wie alt bin ich? Wie alt wird ein Maulwurf? Spielt es eine Rolle, wie alt ein Maulwurf wird? Alles ist nun anders. Zum ersten mal verstehe ich, daß Blanche ihre Post wirklich liest.
Die Post, die Blanche liest, ist nicht von mir. Sie hat an sich selbst geschrieben. Ich sehe ihr Gesicht mit 17, 18, 19 und es ist ihr Gesicht mit 30, 40, 50. Blanche liest sich ihr Leben vor. Sie liest sich vor, was sie im Leben werden wollte und was aus ihr geworden ist. Und ich, der immer in ihr Leben treten wollte, der ihr nie geschrieben geschweige denn sie angesprochen hat, schaue ihr dabei zu. Ihr Gesicht verrät nichts. Keine Regung. Kein Ärger, keine Freude, keine Hoffnung. Das sage ich so. Ich komme in ihrem Brief nicht vor. Blanche, die seit Jahren verheiratet ist. Was ich vor mir sehe ist mein Leben, mit Blanche hat das garnichts zu tun.
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Idee :
Known unto God – die unglaubliche Geschichte des Herrn Topowski
Herr Topowski ist ein so freundlicher wie unscheinbarer Zeitgenosse. Als seine Arbeitsstätte, die letzte Steinkohlemine der Region, unter feierlichen Reden für immer schließt, bleibt Herr Topowski – ob versehentlich oder mit voller Absicht wird wohl nie geklärt werden können – unter Tage zurück. Kaum, daß ihn über Tage die Menschen vermißten. An Einsamkeit seit dem frühen Tod seiner Eltern gewöhnt und mit dem zähem Naturell eines Bergmanns ausgestattet, findet sich Herr Topowski in der ewigen Dunkelheit (fast) alleine zurecht und verwandelt sich nach und nach in einen Maulwurf – bis seine Aktivitäten auf merkwürdige Weise das Geschehen an der Oberfläche zu beeinflussen beginnen…
Die unglaubliche Geschichte des Herrn Topowski existiert auf mehrerlei Ebenen: als Bühnenstück (uraufgeführt im Februar 2013 auf der Nationalbühne des Kohlebeckens von Nord-Pas-de-Calais in Loos-en-Gohelle), als Roman, der 2014 das Licht der Welt erblicken soll, als Hörspiel-Entwurf und hier nun als sukzessive befülltes Weblog schichtet sie sich zu einer Halde aus analogen und digitalen Erzählungen, Stimmen, Bildern und Geräuschen der verblassenden Epoche des Kohlebergbaus, deren Nachwirkungen geisterhaft durch die ehemaligen Abbauregionen schweben.
Die Geschichte des Herrn Topowski wird von drei Autoren erzählt: Dominique Sampiero (Texte) aus Nord-Pas-de-Calais, Arek Gola (Fotografien) aus Schlesien und Stan Lafleur (Texte), der in Nordrhein-Westfalen wohnt.
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Stan Lafleur ( Bio – Bibliographie )
Arek Gola ( Bio – Bibliographie )
Bisher auf in|ad|ae|qu|at :
- Herr Topowski erinnert sich 01 : Eine schneegelbe Winternacht
- Herr Topowski erinnert sich 02 | Pizza Ch’ti
- Herr Topowski erinnert sich 03 | Wetter ( Hinweis auf topowski.com )
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