Salon Littéraire | Leopold Federmair : Tokyo Fragmente 8 | Finale

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Salon Littéraire | Leopold Federmair :

Tokyo Fragmente 8 | Finale

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Eine riesige Zitrone mit grünem Andreaskreuz in der Mitte, halb verdeckt von einer fensterlosen Gebäudewand, das ist die Aussicht aus meinem Hotelzimmer in Gotanda. Eine gelbe Form im gelben Rechteck, ansonsten nur Flächen, die farblos wirken, auch wenn ich mich jetzt daran machen könnte, die Abstufungen von Weiß Grau Grün Braun zu beschreiben. Die Zitrone um ein Vielfaches größer als der Grundriß des Zimmers, in dem ich meinen Morgensport mache wie der vitruvianische Mensch im geometrischen Kreis, den Leonardo um ihn gezogen hat.

Ein Kapselhotel ist es nicht, sondern ein normales Business-Hotel; kein Schauobjekt für europäische Touristen. Und warum nicht Kapsel ? Ist doch schön, eine urtümliche Wohnform, an den mütterlichen Uterus erinnernd, der Mensch geschützt in seiner Blase.

Vor Jahren habe ich die zwei Bände eines Buchs dieses Titels gelesen, Blasen, Verf. Sloterdijk, und rein gar nichts behalten von diesem wohligen Blabla, außer eben dieses schnarrende Wohlgefühl der Lektüre, das wohl dem Blasendasein entspricht. Von hunderten weisheitliebenden Seiten habe ich ungefähr das erhalten, was mir die Lieder Jochen Distelmeyers geben, ein leichtes Schweben, luftige Zukunftsmusik. (Wahrscheinlich bin ich auch da wieder beeinflußt von Nebensächlichkeiten, Akzidentien, dem Foto auf der CD, wo Jochen eine riesige rosa Kaugummiblase aufbläst, die später, wenn man die tracks gehört hat, zerplatzt.)

Foto Leopold Federmair 24

Werbung mit Natur

*

Zitrone
12345Naturgeschmack
123567890leichte Unregelmäßigkeit inmitten abstrakter Ordnung

12345Veloce 234567 Wellen
1234  Jizōs 23456789 Zeilen
12345Zōjōji 3456789 Tasten
12345Seiyū 2345678  Zeilen

Foto Leopold Federmair 25

Schnell, aber im Raum sind nur ein paar starre Schemen, und draußen verebben die Wellen im Matsch.

Foto Leopold Federmair 26

Die kleinsten Götter bilden eine endlose Reihe ins andere Leben.

Foto Leopold Federmair 27

Lichtquellen, unbemerkt in der Materie… Stille Musik des Schnees.

Foto Leopold Federmair 28

Im Kaufhaus kaufen? Was denn? Parallelen zu den Geleisen, auf denen du läufst.

*

Es regnet an diesem Morgen, und mit dem Auf und Ab der Hügel von Shinagawa werden die Regentropfen zu Schneeflocken, die Flocken wieder zu Tropfen.

Am Ende der Steiltreppe im Haus gegenüber der Bahntrasse, wo man eine schummrige Bar erwarten würde, weitet sich der Treppenabsatz, man steht vor einer großen, in Rechtecke unterteilten Glastür aus hellbraunem Holz, rechterhand die Registrierkassa im Belle-Époque-Stil (Imitat oder Antiquität?), linkerhand ein Behälter mit länglichen Plastiktüten; in eine dieser durchsichtigen Scheiden steckt der Kellner den Schirm, den ich vorhin im Konbini gekauft habe.

Im Gastraum, der zunächst unübersichtlich wirkt – hier ein Hinterzimmer, dort eine Trennwand aus Stäben, dahinter die Theke mit dem schwarz-weiß gekleideten Barmann, dort ein Erker, in dessen Fenstern die Züge auf Augenhöhe fahren -, befindet sich gleich neben der Glastür die große Vitrine mit den Kuchen auf gläsernen Regalbrettern, die das matte Licht der Leuchter reflektieren.

Die Innenausstattung dieses Etablissements wirkt ein wenig altjapanisch, sie stammt wahrscheinlich aus den siebziger Jahren, Quadrate und Rechtecke wie bei Schiebetüren, senkrechte Stäbe in Bambus-Manier, die braunen Farbtöne leicht eingedunkelt, Ocker und Beige. Männer mittleren Alters, Vereinzelte und Paare, weniger Frauen, Geschäftspartner und Müßiggänger.

Klassische Musik aus leisen Lautsprechern. Der Ort würde zu Tanizakis Lob des Schattens passen: ein Beleg, daß dieses Lob wider den Anschein auch im 21. Jahrhundert gilt. Das Café, kissaten (eigentlich “Teehaus”), ist ein Rückzugsort wie die Schreine, die durch ihre bloße Existenz die bedrohte Natur schützen. Neben dem grellen Licht der Konbinis, Büros und Wohnzimmer. Und die Excelsior-, Veloce-, St-Marc-Cafés zwischen Entspannung und Eile. Das kissaten schützt die Menschennatur.

Foto Leopold Federmair 29

Kugel und Flamme

Ich sitze auf einer Bank, die im Winkel zwei Ecken bildet, also die Spitze des Winkels bricht und mildert. Die Kellnerin dreht den Teller mit dem Schokolade-kōcha-Kuchen so, daß die Spitze der Gabel von mir wegzeigt, und leert den Kaffee aus einem Glasballon mit hölzernem Haltegriff und hufeisenförmiger Stütze in meine Pozellanschale. Süß, zart, bitter, fest, weich: Wollust dank der ausgewogenen Komposition. Ich lege den Arm auf die Banklehne, drehe mich weg vom Dämmer, hin zum heller werdenden Taggrau. Blick auf den Bahnsteig, die Brücke, die Trasse, Straßenkreuzung, Ampel und Zebrastreifen, der ziemlich oft von Frauen im Kimono überquert wird. Aufgespannte Schirme, kurze Schritte; die grünen Blätter der Topfpflanzen; geraffte Gardinen am Fensterrand. Der Regen ist endgültig in Schnee übergegangen. Langsam sammelt sich draußen das Weiß.

Foto Leopold Federmair 30

Mushroom Building, verschneit

*

Früh schlafen gegangen nach der Flußfahrt gestern. Der Körper von selbst in den gewohnten Rhythmus gekippt: Aufwachen um vier Uhr früh. Was macht man um diese Zeit in Gotanda? Gleich um die Ecke, vom Konbini nach hinten, beginnt ein kleines Nachtklubviertel, aber mit klarem Kopf will ich keine verrauchten Räume und besoffenen Salaryleute ertragen, die mir ihre Österreichkenntnisse vorlallen: Hitler & Mozart, Musik & Krieg. “Kommt alles aus Bayern”: nicht einmal den üblichen Scherz, um Abstand zu schaffen, würde ich über die Lippen bringen.

Im Konbini zwei Standfiguren mit gesenkten Köpfen, die ewigen Zeitschriftenleser, das Excelsior natürlich geschlossen, dichter Schnürlregen (bajuwarisch gesagt), aber drei Taxis auf dem Bahnhofsvorplatz. Musashikoyama, ja, zum Bahnhof. “Welche Seite?” Westen. “Aber es gibt doch nur Süd und Nord.” Egal.

Es ist kurz vor fünf, als ich das Show-ten betrete. Yoshiyuki ordnet die Flaschen auf den Regalbrettern der Thekenwand. Gun-chan ist ganz auf den alten rosa Plattenspieler, den er säubert, konzentriert. Er blickt auf, lächelt: “Noch einen Whisky?” Was soll ich da sagen? Ich muß etwas essen. “Das Oden im Kessel ist lauwarm.” Egal. “Keiko-san ist vor zehn Minuten gegangen.” Gun-chan macht einen Seitenblick zu Yoshiyuki, er braucht seine Bestätigung. Der Meister nickt.

Ich habe die CD mitgebracht, die ich vorgestern bei Tower-Records in Shibuya gekauft habe. Sieben Stockwerke, dort findet man alles. Größer als Amazon. Aber unpraktisch, man kann da nicht surfen. Einer Eingebung folgend, habe ich nach Wainwright gesucht. Eine Prüfung gewissermaßen, etwas so Ausgefallenes wie Platten von dem alten, rothaarigen, vollbärtigen Singer-Songwriter werden sie wohl nicht haben? Hatten sie auch nicht, aber daneben einen gewissen Rufus, mindestens zehn CDs von Wainwright, Rufus, und dann noch etwas, ja, ein Mädchen, eine Frau namens Martha.

Von Loudon habe ich mir an meinem sechzehnten Geburtstag eine Langspielplatte gekauft. Rein zufällig – oder hatte ich von Loudon Wainwright III. zuvor schon etwas gehört? Wir waren in einem riesigen Supermarkt am Rand einer Kleinstadt irgendwo in Pennsylvania, meine Gastgeberin (eine alte Freundin meines Vaters, die in der Nachkriegszeit einen Amerikaner geheiratet hatte), ein riesiger Einkaufswagen und ich.

Vor meinem Aufenthalt in den USA hatte ich noch nie einen Supermarkt gesehen, hatte keinen Schnellimbißladen betreten, keinen Hamburger gegessen (nur Fleischlaibchen), keine Cola mit Eiswürfeln getrunken. Die Großstadt und die großen Dinge habe ich, ein Dorfkind, nicht in Wien kennengelernt, sondern in New York und Pennsylvania. Die strohblonde Frau sagte, als wir an den wenigen dort aufgereihten LPs vorbeigingen: “Kauf dir eine, heute ist doch dein Geburtstag.”

Nach dem Geburtstagsessen, das wir zu zweit hinter uns brachten, weil kein Jugendlicher aus der Nachbarschaft ihrer Einladung gefolgt war, zog ich mich in mein Zimmer zurück, legte die Platte auf den kleinen Plattenspieler (rosa, wenn ich mich recht entsinne) und hörte die Platte immer wieder, bis zum Morgengrauen (nachts konnte ich in Amerika sowieso nie schlafen).

Yoshiyuki legt die CD in einen der Apparate. Widerwillig, scheint mir. Wer ist nach einem langen Arbeitstag nicht abgespannt? Der Junge will nach Hause zu seiner Familie… Außerdem – erst jetzt, wo ich meine Notizen zusammenschreibe, komme ich darauf: Es gibt gar nicht so wenige Gäste, die ihr eigenes Musikmaterial mitbringen und erwarten, daß der Master etwas davon spielt. Das kann manches Mal lästig sein. Oder interessant, in anderen Fällen.

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Showa-Plattenspieler. Im Hintergrund Yoshiyukis berühmter Pullunder mit dem Radfahrermotiv.

Doch die Stimme erklingt. “Martha Wainwright”, steht auf der CD, sonst nichts. “Ich bin mein Werk”, so die Botschaft.

“Man hört den Vater”, sagt eine Stimme links neben mir, als käme sie aus der Wand. Ich hatte das Männchen nicht bemerkt. Kommt es gerade vom Klo? Von der Treppe, die steil ins Nirgendwo führt? Es ist ungefähr in meinem Alter, trägt einen blauen Zweireiher mit goldenen Knöpfen; der offene Hemdkragen läßt ein paar angegraute Haare sehen. Auch der dichte dunkle Haarschopf ist leicht ergraut, das Gesicht liebenswürdig, die Redeweise schnippisch. Japanisch mit einem ausländischem Akzent, dessen Herkunft ich nicht zu bestimmen wüßte.

“Loudon?” sage ich.
“Wer sonst.”

Das Männchen schwankt ganz leicht vor und zurück, es wiegt sich mit der Musik. Sein Sakko berührt immer wieder die Theke. Vor ihm eine Espressotasse mit dunkler, eingetrockneter Trinkspur am Rand.
Nach zwei Nummern dreht Yoshiyuki die CD nach vorn, als wollte er rascher ans Ende kommen. Er betätigt den Lautstärkenregler, und mit einem Mal erfüllt die weibliche Stimme den Raum. Gitarrenbegleitung, sonst nichts. Wie bei Loudon in den siebziger Jahren.

Eine ungeheuer eingängige Stimme, die die Sängerin hin und wieder genußvoll kippen läßt. Seht was ich kann, ich werd’s euch zeigen! Reicher, vielfältiger als die Fistelstimme Loudons. I wish I was born a man… like those guys with guitars I’ve been watching in bars, who’ve been stamping their feet to a different beat… Als würde sie uns zusehen. Aber was ist denn unser Beat?

Und dann kommt die Zeile, mehrmals, ich weiß nicht wie oft, im Grunde hat jeder Satz diese Eindringlichkeit: You bloody motherfucking asshole, you bloody motherfucking asshole…

Als die Nummer zu Ende ist, stoppt Yoshiyuki die CD. Die plötzliche Stille läßt das Show-ten nackt erscheinen, als hätte man plötzlich ein Konbini-Licht angemacht.

“Sie beschimpft ihren Vater”, sagt das Männchen.
“Sie beschimpft Rufus”, sagt Yoshi.

Daß es sich um einen Familienzwist handelt (Rufus ist Marthas Bruder), scheint keiner von beiden zu bezweifeln. In der Diskussion, die sich entspinnt, gewinnt Yoshiyuki noch einmal seinen Elan. Nach einer Weile frage ich aufs Geratewohl: “Und wenn sie beide meint?” Yoshi und das Männchen starren mich an: darauf wissen sie keine Antwort. Ich bitte den Meister, den Song noch einmal zu spielen.

Inzwischen habe ich ihn oft gehört; ich will nicht so tun, als sei jetzt die Gegenwart. I will not pretend, im Grunde läßt sich alles, alles mit den schlichten Worten Marthas sagen. Welche Intensität, welche Reinheit in dieser Zeile! In der Stimme, in der Musik, im Text. Hier in diesem Lied gewinnen die schmutzigen Wörter ihre Wahrheit.

Noch im Show-ten hat Yoshiyuki ein wenig im Internet herumgesucht, dabei sind wir auf einen Brief Loudons gestoßen, den er nach dem Tod seiner Mutter, der Folk-Sängerin Kate McGarrigle, schrieb. Zum Glück habe ich mir den Wortlaut notiert, im Internet finde ich ihn nicht mehr. Futsch, flöten. Soll ich Rufus’ Sätze übersetzen? Wo ich doch alles übersetze…

Yes, it was all too brief, but as I was saying to her sister Anna last night while sitting by Kate’s body after the struggle had ceased, there is never enough time and she, my amazing mother with whom everyone fell in love, went out there and bloody did it. I will miss you mother, my sweet and valiant explorer, lebwohl und addio.

Die Zeit reicht nie, la vida es breve, und es sind da Wörter, die ich nicht verstehe, Bedeutungswinkel, mein Englisch ist zu schlecht. Kate ist also, oder war, eine tapfere Forscherin? Sie erkundete – das Leben? Und sie ging hinaus und hat es getan (was?), von dem alle nur reden (das Leben?)?

“Lebwohl”, sagt Rufus auf deutsch und “addio” auf opernitalienisch. Was für ein rührendes Kind, das seine Mutter liebte (wie alle!) und darüber schwul wurde, was denn sonst. Was für eine schreckliche Familie, die das Wort bloody so leichtfertig im Mund führt.

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Überm Fluß = unter der Brücke

“Verdammt” oder “scheiß”, was denn nun, liebes Wörterbuch? Egal, das schmutzige Wort, von diesen Kindern gesagt und gesungen, erhält eine zärtliche Note, den reinsten Ton. Und es ist so, wie das Männchen mit den Goldknöpfen sagte, während der Morgen graute und Yoshi sich sputete, um zum Erwachen seiner Kinder zurecht zu kommen wie andere zum Sonnenaufgang.

Es ist so, daß Loudon und Kate inmitten all der Kämpfe, Trennungen und Einsamkeiten ihren Kindern die Kunst und die Reinheit weitergegeben haben, und Rufus und Martha haben etwas aus dem gemacht, was sie mitbekommen haben: etwas Eigenes, das die Kunst der Alten übersteigt; etwas, das vorher nicht da war. Wenn Loudon den Showa-Geist verkörpert, dann sind Martha und Rufus die, die ihn ungefragt, vielleicht unbewußt weitertragen, auf selbstverständliche, konflikthafte Weise, mit und gegen Arschloch und motherfucker. Showa lebt, Marthas Musik ist einer von vielen Beweisen.

Das wußte der Master natürlich längst; um fünf Uhr früh kommt einer daher und rennt offene Türen ein. Wahrscheinlich hat Yoshi auch recht, oder beide haben recht, das Männchen und er, aber wenn ich jetzt daran denke, so paßt das Wort motherfucker doch am besten auf Rufus, diesen…

Noch etwas hat Yoshi aus den Weiten des Internets hervorgezaubert: eine Konzertaufnahme, wo Rufus auf der Bühne steht und dem Publikum mit ausladender Gestik umständliche, um nicht zu sagen barocke Erklärungen gibt. Und dann kommt Martha auf die Bühne, und während Rufus noch redet, äfft sie ihn nach, sie breitet die Arme aus: da stehen sie jetzt, zwei lächerliche Figuren, die mit den Armen rudern, Bruder und Schwester, die sich nicht einmal um den Hals fallen können (während Rufus Elton John jederzeit um den Hals fallen kann), aber dann genügt ein kurzer Blick und sie legen gemeinsam los und da ist es, dieses je-ne-sais-quoi, der immaterielle Schatz der Familie Wainwright-McGarrigle.

*

Ich muß auch nach Hause. Will nach Hause, meine Tochter wartet. Manchmal denke ich, daß ich doch etwas bekommen habe von meinen Eltern, von beiden, etwas Bleibendes. Der Schnee hat sich gegen den Regen durchgesetzt, das ist schön. Das war schön, jetzt will es nicht mehr aufhören zu schneien.

Auf den Straßen und Gehsteigen sind Wasser, Eis, Matsch, frischer Schnee neben- und übereinander. Ich habe vor, zum Zōjōji zu gehen, und dabei bleibe ich, auch wenn meine Schuhe aufgeweicht werden. Im Veloce wechsle ich sie, ziehe die Tango-Schuhe an – so haben sie doch noch ihren Nutzen. Die Jizō-Figuren tragen weiße Hauben zu ihren roten Lätzchen, die kleinen Steinbrücken im Shiba-Park schlagen helle Bögen über den Bach, die Flächen unter den Bäumen sind von Ästen und Zweigen übersät, und es fallen immer noch welche herab.

Mein Flugzeug wird heute nicht fliegen. Ich lasse mir ein Zimmer in einem Hotel in einem beliebigen Viertel reservieren, eins mit guter Verbindung zum Tokyo-Bahnhof. Dort habe ich mich lange in einer Schlange angestellt, um zu erfahren, daß ich es am selben Abend nicht mehr bis Higashi-Hiroshima schaffen kann. Morgen früh werde ich den ersten Shinkansen nehmen. Von meinem Zimmer im 17. Stock des Business-Hotels in Shiomi werde ich hinabschauen auf den Kai, die Hafenlichter am Horizont, das große, von grünlichem Flutlicht angestrahlte Schneefeld. Tags darauf, vor Sonnenaufgang, wird bei jedem meiner Schritte das Eis in den gefrorenen Fahrspuren krachen, und auf dem glatten Bahnsteig werden sich die schneidenden Lichter spiegeln, die dem Ort hier (oder nur heute?) den Anschein einer Sperrzone geben.

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Schnitt durch die Geschichte. Einen Momentlang dachte ich, ich sei in Budapest, um 1991.

*

In Yokohama steigt eine Frau zu, die den Platz neben mir reserviert hat. Kaum hat sie sich niedergelassen, bedeckt sie ihre Beine und den Unterleib mit einem Mantel, die Schultern und den Oberkörper mit einer Decke. Ihr Gesicht ist bis zur Nasenwurzel von einer weißen Maske bedeckt, und als sie sich niedergelassen hat, zieht sie sich die Strickhaube tief in die Stirn.

Aus ihrem Ohr hängt ein dünnes Kabel, das zu einem Musikgerät führt. Die Ganzkörperverschleierung ist perfekt, der Körper autark, die Umwelt abgeschottet, die Frau verschwunden, begraben. Sie trägt schwarze Lederhandschuhe. Vielleicht empfindet sie die Temperatur als eiskalt. Der Waggon ist aufgeheizt mit konditionierter Luft.

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Noch ein Beweis

*

Auf dem Fuji-san war ich noch nie. Ein Japaner, der etwas auf seine Herkunft hält, muß ihn einmal im Leben besteigen. Das ist seine zentrale Pilgerreise, sie entspricht der erdverbundenen Religion, die trotz aller Modernisierung immer noch wirkt. Trotz der Abwesenheit von Dogmen, oder gerade deswegen. Die Pilgerreise ist nicht vorgeschrieben, aber jeder hat sie im Kopf, im Auge, auf dem Zeitplan seiner Jahrzehnte.

Durch das Besteigen des heiligen Berges ehrt man ihn. Dabei ist der Boden unsicher, der Berg ein Vulkan, das ganze Land immer wieder durch die inneren Widersprüche der Erde erschüttert. Und die Umgebung des Fuji-san, nicht die nächste, aber doch die nähere Umgebung, geschändet von Schornsteinen, Fabrikhallen, Parkplätzen, Blocksiedlungen, Bahntrassen… Und von blau-weißen Blitzzügen verziert.

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Heiligtum und Industrie

Tunnels, verschwimmende Bilder, kaum Einzelheiten. Außerhalb Tokyos liegt kein Schnee, das weiße Fuji-Kleid am Horizont ist recht kurz. Erst in Gifu, in der tunnellosen Ebene, bleiben mächtige weiß-graue Gebirge für ein paar Minuten im Blickfeld.

Etwas später das Hanshin-Gebiet mit seinem dichten Ineinander von Industrie, Wohnen, Verkehr. Die Shinkansentrasse schneidet mittendurch, und noch zwei oder drei andere Bahnlinien sowie mehrere Autobahnen. Die lange Brücke über den Yodogawa, der Bogen des Skybuildings, die begradigten Flußläufe, das Meer in Reichweite (nur selten als hinterster Streifen sichtbar). Feuchte, stickige Heißluft im Sommer. Wenig Grünflächen. Keine Nachbarschaft. Odayaka könnte hier spielen.

*

Excelsior-Gedicht aus den neuen Zeiten:

Auf dem angemessenen Stuhl
schwebt der Rote zum waagrechten
Horizont, in einer Blase
aus Luft oder Seife,
oder Gummi. An Wolken vorbei,
an grauen, stockstarren Herren.
Nichts zieht uns hinan,
es bedarf keiner Gewalt,
nur eines freien Willens
hier im Land, das sich niemals ändert,
sondern verwandelt in einem
“Laß los!”

Foto Leopold Federmair 37

Industrie

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Leopold Federmair @ in|ad|ae|qu|at zu Japan , dessen Kunst und Kultur :

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Hinweise : Leopold Federmairs Die grossen und die kleinen Brüder . Japanische Betrachtungen ist soeben im Wiener Klever- Verlag erschienen . Das Buch wird heute Mittwoch , den 13. November ( 19 H ) in der Buchhandlung Frick vorgestellt . - Buchhandlung Frick International , 1010 Wien , Schulerstrasse 1 -3 : 

Der österreichische Autor Leopold Federmair lebt seit elf Jahren in Japan. Für die Zeitschrift Lichtungen hat er zusammen mit Nobuo Ikeda eine Sammlung neuer japanischer Literatur herausgegeben, die zeigt, dass es abseits von Superstar Haruki Murakami noch sehr viel zu entdecken gibt. Zusammen mit dem von ihm übersetzten Erzähler Yu Nagashima wird er die Nummer 136 der Lichtungen präsentieren. Außerdem liest Federmair aus seinen unlängst bei Klever erschienen Japanischen Betrachtungen (Essays und Erzählungen) und dem von ihm übersetzten Roman Das Casting von Ryu Murakami, erschienen im Wiener Septime Verlag.

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3 Responses to Salon Littéraire | Leopold Federmair : Tokyo Fragmente 8 | Finale
  1. Gregor Keuschnig
    November 14, 2013 | 09h56

    Schade, dass diese kleine Reihe scheinbar beendet ist.

  2. czz
    November 14, 2013 | 10h33

    aber es gibt ja jetzt auch das buch – - –
    ( allerdings ohne bilder ) :
    Die grossen und die kleinen Brüder . Japanische Betrachtungen , Klever 2013
    mehr von oder zu diesem autor gäbe es hier .

  3. Leopold Federmair
    November 21, 2013 | 05h04

    Die Tokyo-Fragmente lasse ich bis auf weiteres sein. Wer weiß, vielleicht habe ich eines Tages Lust auf weitere. An neue Nipponika denke ich aber jetzt schon.

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