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Salon Littéraire | Karl Kraus :
Reklamefahrten zur Hölle¹ ( 1921 )
⇒ Tonfilm , 1934 ⇒ siehe 7:14 – 16:20
In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann.
Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:
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Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto!
veranstaltet durch die Basler Nachrichten.
Reklamefahrten vom 25. Sept. bis 25. Okt. zum ermässigten Preis von Fr. 117.—
Unvergeßl. Eindrücke
Keine Paß-Formalitäten!
Anmeldung bei uns und Ausfüllung eines Fragebogens genügt.
Als Herbstfahrt besond. zu empfehlen!… Eine Fahrt durch das Schlachtfeldergebiet von Verdun vermittelt dem Besucher den Inbegriff der Grauenhaftigkeit moderner Kriegführung. Es ist nicht nur für das französische Empfinden das Schlachtfeld „par excellence“, auf dem sich letzten Endes der Riesenkampf zwischen Frankreich und Deutschland entschied. Wer immer diesen Abschnitt mit Fort Vaux und Fort Douaumont im Mittelpunkt gesehen hat, wird auf keinem Schlachtfeld des Westens mehr einen so tiefen Eindruck erhalten.
Wenn der ganze Krieg Frankreich 1,400.000 Tote gekostet hat, so fiel fast ein Drittel von diesen in dem ein paar Quadrat-Kilometer umfassenden Sektor von Verdun, und mehr als doppelt so stark waren hier die Verluste der Deutschen. In dem kleinen Abschnitt, wo mehr als eine Million, vielleicht 1½ Millionen Menschen verbluteten, gibt es keinen Quadratzentimeter Oberfläche, der nicht von den Granaten durchwühlt wurde.
Man durchfahre hernach das Gebiet der Argonnen- und Somme-Kämpfe, man durchwandere die Ruinen von Reims, man kehre zurück über St.-Mihiel und durch den Priesterwald: alles ist nur die kleinliche Wiederholung von Einzelheiten, die sich bei Verdun zu einem unerhört großartigen Gesamtbild von
Grauen und Schrecken vereinigen …600 km Bahnfahrt II. Klasse. Einen ganzen Tag in bequemen Personen-Auto über die Schlachtfelder, Übernachten, erstklassige Verpflegung, Wein, Kaffee, Trinkgelder, Paßformalitäten und Visum von Basel bis wieder zurück nach Basel alles inbegriffen im Preise von 117 Fr. Schweizerwährung.
Infolge sorgfältigster Organisation hat der Reisendevon der Abfahrt von Basel bis zur Wiederankunft in Basel nicht mehr das Geringste auszugeben.
Die Basler Nachrichten veranstalten diese Rundfahrt, um jedem Schweizer zum Preise von 117 Franken Gelegenheit zum Besuche der Schlachtfelder zu geben, in der Weise, dass den Teilnehmern alle Formalitäten und Reise-Schwierigkeiten abgenommen werdenSie fahren im Schnellzug II. Klasse abends von Basel ab.
Sie werden im Bahnhof in Metz abgeholt und im Auto ins Hotel geführt.
Sie übernachten in einem erstklassigen Hotel, Bedienung und Trinkgeld inbegriffen.
Sie erhalten am Morgen ein reichliches Frühstück.
Sie fahren in einem bequemen Personenauto in Metz ab und durch das Schlachtfeldergebiet von 1870/71 (Gravelotte).
Sie besichtigen in Etain unter erklärender Führung das hochinteressante Blockhaus (Quartier des Kronprinzen und Sitz eines grossen deutschen Hauptquartiers).
Sie fahren durch die zerstörten Dörfer ins Festungsgebiet von Vaux mit den riesigen Friedhöfen mit hunderttausenden von Gefallenen.
Sie besichtigen unter Führung die unterirdischen Kasematten des Forts Vaux.
Sie besuchen das Ossuaire (Beinhaus) von Thiaumont, wo die Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen fortwährend eingeliefert und aufbewahrt werden.
Sie haben freien Eintritt ins Fort Douaumont.
Sie besuchen die Tranchée des Baïonettes oder des Ensevelis.
Sie fahren am Ravin de la Mort entlang, an den Carrières d’Haudromont und am Train Sauveur vorbei, am Fusse der Côte du Poivre nach Verdun.
Sie erhalten im besten Hotel von Verdun ein Mittagessen mit Wein und Kaffee, Trinkgeld inbegriffen.
Sie haben nach dem Essen Zeit zur Besichtigung des zerschossenen Verdun, der Ville-Martyre.
Sie fahren am Nachmittag zurück durch das schrecklich verwüstete Gebiet von Haudiaumont und gelangen wieder durch das Kampfgebiet von 1870/71 (Mars-la-Tour, Vionville usw.) nach Gravelotte und Metz.
Sie erhalten in Ihrem Hotel in Metz ein Diner mit Wein und Kaffee, Trinkgeld inbegriffen.
Sie werden nach dem Nachtessen im Auto zur Bahn gebracht.
Sie fahren im Nachtschnellzug II. Klasse zurück nach Basel.Alles inbegriffen im Preise von 117 Franken bei reichlicher Verpflegung in erstklassigen Gasthäusern.
Jeder Anfragende erhält einen gedruckten Führer mit genauem Reiseprogramm und allen nötigen Anweisungen. Die Fahrten werden jeden Tag ausgeführt. Jedem Teilnehmer ist ein
bequemer Platz garantiert.Anerkennungs- und Dankschreiben von früheren Reiseteilnehmern liegen in grosser Zahl in unserm Bureau auf.
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Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die
Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?
Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.
Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.
Sie erfahren, daß 1½ Millionen eben dort verbluten mußten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist.
Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort.
Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.
Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon Sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten.
Sie begreifen, daß es veranstaltet wurde, damit einmal, wenn von der Glorie nichts geblieben ist als die Pleite, wenigstens ein Schlachtfeld par excellence vorhanden sei.
Sie erfahren, daß es doch etwas Neues an der Front gibt und daß es sich heut dort besser leben läßt als ehedem im Hinterland.
Sie erkennen, daß das, was die Konkurrenz bieten kann, die bloß über die Toten der Argonnen- und Somme-Schlachten, über die Beinhäuser von Reims und St. Mihiel verfügt, eine Bagatelle ist neben der erstklassigen Darbietung der Basler Nachrichten, denen es unzweifelhaft gelingen wird, mit den Verlusten von Verdun ihre Abonnentenliste aufzufüllen.
Sie verstehen, daß das Ziel die Reklamefahrt und diese den Weltkrieg gelohnt hat.
Sie erhalten, und wenn Rußland verhungert, ein reichliches Frühstück, sobald Sie sich entschließen, dazu auch noch die Schlachtfelder von 1870/71 mitzunehmen, es geht in Einem.
Sie haben nach dem Mittagessen noch Zeit, die Einlieferung der Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen mitzumachen, und nach Absolvierung dieser Programmnummer noch Lust zum Nachtessen.
Sie erfahren, daß die Staaten, deren Opfer Sie in Krieg und Frieden sind, Ihnen sogar, und das will viel heißen, die Paßformalitäten ersparen, wenn die Reise aufs Schlachtfeld geht und Sie sich nur rechtzeitig bei der Zeitung ein Ticket besorgen.
Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen.
Sie werden Mühe haben, diese Paragraphen nicht zu übertreten, aber dann den Basler Nachrichten ein Anerkennungs- und Dankschreiben schicken.
Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.
Und wenn Sie dann noch nicht erkannt haben, daß Sie durch Ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind und daß eine Menschheit, die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat, durch und durch aus Schufterei zusammengesetzt ist und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt und gegen sie keine Hilfe – dann hol’ Sie der Teufel nach einem Schlachtfeld par excellence!
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¹ – Karl Kraus : Reklamefahrten zur Hölle . Die Fackel , Nr. 577–582 , November 1921, S. 96–98
AAC – Austrian Academy Corpus ( Hg. ) : AAC-FACKEL, Online Version : “Die Fackel. Herausgeber Karl Kraus , Wien 1899 – 1936″ ( AAC Digital Edition Nr. 1 ) , http://www.aac.ac.at/fackel , Abruf 28. 6. 2014
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Verstehe ich recht – das ist eine tatsächliche Zeitungsannonce von 1920 – und keine Satire?
Mein Großvater hat Verdun überlebt.
ja , lieber Ludwig Janssen , auch wir haben angesichts der in top- qualität , unvergilbt und für eine zeitungsseite ziemlich gross erschien .
beim nachblättern im reprint der Fackel ist die anzeige gerade mal 7,5 x 10 cm gross . allerdings wird auf eine beilage verwiesen , wo das inserat vermutlich in der jetzt überlieferten grösse zu lesen war .
allerdings weist das blatt keine faltungsknicke auf.Jens Malte Fischer hat kürzlich auf dieses inserat verwiesen : angeblich wurden solche reklamen von den ( damals real existierenden ) Basler Nachrichten absichtlich lanciert , um die auflage zu steigern :
http://tinyurl.com/Jens-Malte-Fischer-Kraus
anderes thema : hat Ihr grossvater je über Verdun gesprochen ?
Nicht, dass ich’s wüsste. Habe ihn nicht erlebt. Mein Vater erzählte es mir.
Das mit der Annonce ist gruselig. Zugleich fächert es mein Verständnis der weltanschaulichen Prägung der Nachkriegsgesellschaft(en?) auf. Die Schweiz war ja neutral und leistete sich schon früh jenes (vertraute) sich abgehoben ergötzende Schaudern.
Findet vielleicht eine Entsprechung in der Betroffenheitslyrik das TV nachkauender Menschen zu Mauerfall, Gaza-Konflikt, Afghanistan und, und, und …
… mir scheint , dass die kaffeefahrt eher wenig mit betroffenheit zu tun hat ,
sondern eher den busfahrten- zu- einer- werbeverkaufsschau- und- gratis- mittagessen
entspricht …