Trivia & Ephemera : Zündholzbriefe 8 | Österr. Milchpropaganda

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ANDERE ARCHIVE

Wie wir mehrmals dargelegt haben , hüten wir in|ad|ae|qu|at verschiedene historische Haufenbildungen , die uns als Spielmaterialien dienen : so die etwa 200 , in einem Plasticsack in einer alten Wiener Wohnung gefundenen , Bild- Postkarten aus den 20er Jahren , eine Sammlung von etwa 100 Filmstills aus einem damals noch privaten Filmarchiv , die auf Flohmärkten zusammengekauften anonymen Familienbilder sowie die dem Tandler um zwei Euro abgekaufte Sammlung von vielleicht 200 Zündholzbriefchen , welche ein Sammler kompakt und praktisch – penibel in gleiche Richtung sortiert – zurückgelassen hat .

Mit dieser womöglich nicht umfangreichen , indes ästhetisch und phänomenologisch äusserst evokativen Sammlung halten wir es so , dass wir uns verbieten , das Material vorher durchzusehen und im Vorfeld des Schreibens die Motive zu registrieren , welche die Zündholzbriefchen als Medium der Reklame von verflossenen Attraktionen , Veranstaltungen , Lokalitäten und Marken dokumentieren .

Nein : Wir nehmen jeweils nur ein Briefchen heraus , betrachten es und schreiben dann mit dem Drive der frischen Entdeckung ein paar Assoziationen und Szenen auf . Wir haben damit absichtlich keine Ahnung , was die Sammlung noch zu bieten hat haben wird .

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MEHR MILCH

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Und immer die Frage : soll mans “knacken” und somit den zweifellos nicht unbeträchtlichen Sammlerwert auf Plusminus Null runtermachen oder möchte man die Jungfräulichkeit des Objekts bewahren . Wo die Lasche noch fest hinter der offensichtlich nie touchierten Reibefläche klemmt , verhält es sich wie bei einem alten Buch, dessen Seiten noch nicht aufgeschnitten sind . Nein , beschloss er einmal wieder : Er sei kein Sammler , dem es um Seltenheitswerte und quasi bibliophile Kategorien ( “neuwertig , keine Gebrauchsspuren” ) ging , sondern ein Phänotyp Phä- no- me- no- loge , den die Erkundung eines Objekts mehr interessierte als dessen museale Schonung . Dessenungeachtet liess er – ” Dokumentieren !” hatte man ihm einbebläut , “Dokumentieren !” , “Dokumentieren !” – ein Lichtbild anfertigen , bevor der den Brief ( wie es früher hiess ) “erbrach” .

Das Sujet auf der Lasche war unverkennbar : Den “Milch-” Genuss galt es zu mehren , wobei die noch hinter der Reibefläche ver- steckte Laschenkante Spannung dahingehemd aufkommen liess , was sich hinter dem Trenn- ( bezw. Verbindungsstrich ) an “Milch-” -Produkten , -Derivaten oder -Rezepturen finden würde.

Und *ratsch* springt die Lasche aus der Tasche : jetzt wissen wirs : “Mehr Milch … mehr Gesundheit” : Oder hatten Sie anderes erwartet ?

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De facto , und das ist die gleichsam materialästhetische Schlussfolgerung , welche den Datenträger ( das Streichholzbriefchen ) und die verbalisierte Agenda ( Teilnahmebedingung beim Preisausschreiben ) nahelegen : Je mehr Rauch , desto Milchverbrauch . Meinen Sie nicht auch ?

Bemerkenswert schienen ihm zwei Dinge : erstens , dass die Farbgestaltung in weiss- blau damals wie heute die Verpackungsästhetik von Milchprodukten prägt . Und zweitens , dass und wie der irgendwie flotte , aber auch volksschulhaft vertraute Schriftzug “… mehr Milch” dieses “Mehr ” durch eine nach rechts hin linear sich vergrössernde Gestaltung gleichsam in und an sich selbst exponierte .

Oder dankte sich der wachsende Schriftzug einem Coup der Gestalter , die ihn in jene Schräge einpassten , welche das Bildsujet – eine milchtrinkende Familie im Fenster eines vorbeifahrenden Eisenbahnzuges perspektivisch fliehend – vorgab ?

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MILCH UND REIS UND REISE

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Offensichtlich ohne Gefahr etwelcher Erschütterungen halten die Exponenten einer formell in Anzug und Kostümchen gekleideten adretten Kleinfamilie ihre wohlgefüllten Milchgläser in beängstigenden Höhen , sodass man befürchten muss , Mutterns Milch würde sich beim geringsten Schlenkers des Waggons über den Kopf ihres Söhnchens ergiessen .

In der üblichen Lesart von links nach rechts betrachtet , gibt das Arrangement “Vater- Sohn- Mutter” das Inbild einer ( hierarchisch arrangierten ) gesunden Kleinfamilie beim gesunden Genuss . Gleichzeitig ist das Bild – aus heutiger Perspektive – mit einem grossen ABER versehen. Nämlich: Aber Papa raucht . Und zwar nicht als sorgfältig inhalierender Genussraucher – dazu hätte er wegen Milchglas und Mutterumarmung ( = grafische Vignettierung und Abrundung des Familienmotivs ) keine Hand frei – sondern als Dauerpaffer der in den Mundwinkel geklemmten Zigarette .

Wozu aber dieses gesundheitlich eher ungünstige Attribut der – nota bene : väterlichen – Zigarette ? – Tja : ganz offenbar , um das Bild- und Milchmotiv mit dem Datenträger des Zündholzbriefchens zu vergesellschaften . Analog dazu wird das grafische Eisenbahnmotiv durch den Hinweis auf einen “Milch- Reisewettbewerb ” auf der unteren Lasche gleichsam geerdet. Trivilalerweise entzünden sich an dieser Wortkombination wenn schon keine Streichhhölzer und / oder Erkenntnisse , sondern vielmehr Lese- Fehlleistungen wie “Milchreis- Wettbewerb” etc.

Es sei , dozierte der selbsternannte Phä- no- me- no- loge weiter , in der Tat bemerkenswert , in welchem Grade die Gestaltung des Mich- Sujets massgeschneidert war hinsichtlich seiner Verbreitung via Zündholzbrief . Dies allerdings nicht ohne gute Gründe .

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REISE- PREISE

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Denn , wie die Rückseite des Briefchens engbedruckt erwies , war die Sammlung just seinesgleichen die Voraussetzung zur Teilnahme an einem Wettbewerb , welcher mit Preisen lockte , deren symbolischer Index noch spürbar die Erfahrung von Mangel und Knappheit in sich trug . Die terminlichen Koordinaten wie Einsendeschluss für das Preisausschreiben erlauben erstmals die genau Datierung eines der in der Sammlung befindlichen Zündholzbriefchens : 1959 , Neunzehnhundertneunundfünfzig . Dies mag allgennein als weit in die Wirtschaftswunderzeit ragendes Datum erscheinen , relativiert sich allerdings in Österreich durch die de facto bis 1955 währende sowjetische Besatzung .

Musste aber , fragt man sich , in einem Agrarstaat wie Österreich überhaupt Reklame für Milch & Derivate gemacht werden ? – Im Hinblick auf ein modern urbanes Mittelstands- Bürgertum schien dies sehr wohl der Fall wie Werbesujet , Preis- Ausschreibungs- Teilnahme- Bedingung und Sachpreise nahelegen . Der Umstand dass – “Achtung Milchtrinker !” – nicht etwa zum Sammeln und Einsenden von Joghurtbecher- Deckeln und ähnlich Milch- affinen Trophäen aufgerufen wurden, sondern von sage und schreibe “100 Stück dieser gebrauchten Zündholzhüllen” , ist denkwürdig , wenn man annimmt , dass Zündhölzchen dieser Art ( die kaum zum Anheizens eines Kohleofens taugen ) meistens zum Anglühen von Rauchwaren verwendet wurden . Was wiederum bedeutet , dass die “Österr. Milchpropaganda- Gesellschaft” sich an einigermassen starke Raucher adressierte .

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ÖSTERR. MILCHPROPAGANDA- GESELLSCHAFT

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achtung milchtrinker

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Dass die solcherart aufgerauchtenrufenen Raucher Männer waren , legt , wie gesagt , das Bildsujet nahe . Als scharf kalkulierende Familienväter mussten ihnen der Reisepreis sowie die Ausschüttung von Pro- Kopf- Jahreskontingenten von Milchprodukten attraktiv erscheinen : “2. Preis : Jahresdurchschnittsbedarf ( 1957 ) an Milch , Butter und Käse für eine Person gratis .” In unseren laktose- intoleranten Tagen wäre eine solche Überschüttung eher ein Szenario des Grauens denn eines familialer Freude .

Die “Österr. Milchpropaganda- Gesellschaft” , die bei diesem ehrgeizigen Preis- Ausschreiben mit einem einzigen Hauptpreis ( “14tägiger Gratisaufenthalt in einem österr. Kurtort” ) eher die österr. Tabakindustrie befeuerte als den österr. Fremdenverkehr , zeigt sich vertraut mit Statistiken und Kontingenten , wenn sie mit Jahresdurchschnittsbedarfs- Leitziffern des Jahres 1957 operiert .

Wer aber würde allen Ernstes sich die Mühe machen , 100 ( in Worten : hundert ) “Stück dieser gebrauchten Zündholzhüllen” zu gebrauchen , zu sammeln und an die “Österr. Milchpropaganda Gesellschaft ” zu schicken , nur um ( Preis 4 bis Preis 30 ) “verschiedene Milchprodukte” zu errauchengattern ?

mehr milch mehr gesundheit

Unübersehbar regiert das Zauberwörtchen “gratis” die milchpropagandistische Kampagne , deren Appell “Achtung Milchtrinker !” eine akzidente Dringlichkeit suggeriert . Zusätzlich impliziert die Bezeichnung “Wettbewerb” eine Leistung , die de facto keine ist ( es sei denn , man sammelte die Breifchen um die Wette ) , sondern ein eher verschnarchtes Preisausschreiben mit mässigen Preis- Reizen .

Wohl gesprochen , sagte er sich , wendete sich vom Spiegel ab und brach das erste Zündhölzchen aus seiner blau- weissen Hülle , um sich genüsslich eine Zigarette anzustecken . Und dies vierundfünfzig Jahre nach Ablauf der Einsendefrist des MILCH- REIS(e)WETTBEWERBS .

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BACKLIST ZÜNDHOLZBRIEFCHEN

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2 Responses to Trivia & Ephemera : Zündholzbriefe 8 | Österr. Milchpropaganda
  1. ottob
    July 16, 2014 | 22h11

    bestechende methodik und äußerst ergiebiger prozess zum umgang mit material und materie.

    allerdings lese ich immer wieder das wort “MILCHREISWETTBEWERB” und dabei treten umgehend alle nebenwirkungen jahrelang genossener (???) internatsküche zutage….

  2. czz
    July 17, 2014 | 04h10

    nun , lieber Otto , es ist ein trost , daass wir in|ad|ae|qu|at nicht die einzigen sind , welche fehlleistungen in sachen michreis/e produzieren – Ihr MICHREISTRAUMA ist höchst bedauerlich . MILCHRESTTRAUMA .

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