Salon Littéraire | Henry David Thoreau : Nacht und Mondlicht | Übertragen von Klaus Bonn

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Salon Littéraire | Henry David Thoreau : Nacht und Mondlicht

Übertragen und kommentiert von Klaus Bonn

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Erste Seite des Textes nach der Ausgabe von Hubert Rutherford Brown, 
New York (1921); die Vignette stammt von Florence Wyman Ivins.

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Da der Zufall es wollte, dass ich vor einigen Jahren einen denkwürdigen Spaziergang bei Mondlicht machte, beschloss ich, mehr solcher Spaziergänge zu unternehmen und mit einer anderen Seite der Natur Bekanntschaft zu machen. Das habe ich denn auch getan.

Plinius[1] zufolge gibt es in Arabien einen Stein, der Selenit heißt und „in dem es ein Weiß gibt, das mit dem Mond zu- und abnimmt.“ Mein Tagebuch ist in diesem Sinne das letzte Jahr oder die letzten beiden Jahre über selenitisch gewesen.

Kommt nicht den meisten von uns die Mitternacht wie Zentralafrika vor? Sind wir nicht in der Versuchung, sie zu erforschen — zu den Ufern ihres Tschad-Sees vorzudringen und die Quellen des Nils zu entdecken und womöglich die Mondberge?[2] Wer weiß schon, was für eine Fruchtbarkeit und moralische wie auch naturhafte Schönheit dort anzutreffen sind? In den Mondbergen, im Zentralen Afrika der Nacht, haben alle Nile ihre Köpfe verborgen. Die Expeditionen nilaufwärts erstrecken sich derzeit nur bis zu den Wasserfällen, oder vielleicht bis zur Mündung des Weißen Nils; es ist aber der Schwarze Nil, der uns betrifft.

Ich werde zum Wohltäter, wenn ich mir ein paar Bereiche aus der Nacht erobere und in dieser Jahreszeit für die Gazetten eine Nachricht über uns Menschen durchsickern lasse, die ihre Aufmerksamkeit verdient — wenn ich den Menschen zu zeigen vermag, dass da eine Schönheit wacht, während sie schlafen — wenn ich etwas zum Bereich der Poesie beitragen kann.

Die Nacht ist gewiss neuartiger und weniger profan als der Tag. Ich entdeckte bald, dass ich lediglich mit ihrem Anschein vertraut war, und was den Mond angeht, so hatte ich ihn gleichsam nur bei Gelegenheit durch die Ritze eines Fensterladens gesehen. Warum gehen wir nicht mal eine kurze Strecke unter seinem Licht?

Einmal angenommen, Ihr würdet Euch mit den Eingebungen befassen, die der Mond einen Monat lang bietet, und das gemeinhin vergeblich, ist das dann nicht doch sehr verschieden von allem aus der Literatur und der Religion? Aber warum sollten wir dieses Sanskrit nicht studieren? Was ist, wenn ein Mond mit seiner Welt aus Poesie, seinen sonderbaren Lehren und seinen orakelhaften Eingebungen gekommen und gegangen ist — eine solch göttliche Kreatur, befrachtet mit Hinweisen für mich, die ich nicht genutzt habe? Ein Mond, der unbeachtet vorübergezogen ist?

Ich glaube, es war Dr. Chalmers,[3] der, indem er Coleridge kritisierte, sagte, dass er seinerseits Ideen wünschte, die er um sich herum sehen könnte, und nicht solche, für die er zum Himmel hoch schauen müsste. Man würde sagen, dass so ein Mensch nie den Mond betrachtete, da letzterer uns nie seine andere Seite zukehrt. Das Licht, das von Ideen kommt, deren Umlaufbahn so weit von der Erde entfernt ist und das dem von der Nacht überraschten Reisenden nicht weniger beglückend und einleuchtend ist als das des Mondes und der Sterne, wird natürlich von solchen Leuten schmählich hinter dem Mond verortet.[4] Sie selber leben hinter dem Mond, nicht wahr? Nun, dann unternehmt eben Eure Nachtreise, wenn kein Mond da ist, der Euch bescheint; ich aber bin dankbar für das Licht, das mich vom Stern des geringsten Ausmaßes erreicht. Sterne sind kleiner oder größer nur, weil sie so auf uns wirken. Ich bin dankbar, wenn ich nur eine Seite der himmlischen Idee sehe — eine Seite des Regenbogens — und den Abendhimmel.  

Die Menschen reden so schlagfertig über den Mondschein, als ob sie seine Eigenheiten sehr gut kennten und sie geringschätzten; so wie Eulen über den Sonnenschein reden mögen. Schluss mit Eurem Sonnenschein — doch dieses Wort meint für gewöhnlich nur etwas, was sie nicht verstehen — etwas, dem gegenüber sie sich bettlägrig und schläfrig verhalten, wie sehr es auch der Mühe wert wäre, wach und nicht mehr im Bett zu sein.

Man muss zugeben, dass das Licht des Mondes, so sehr es auch dem versonnenen Wanderer genügt und in keinem Missverhältnis zum Licht in unserem Inneren steht, dem der Sonne doch unterlegen ist, was Qualität und Intensität betrifft. Indes der Mond darf nicht bloß nach der Qualität des Lichts beurteilt werden, das er uns sendet, sondern auch nach seinem Einfluss auf die Erde und ihre Bewohner. „Der Mond wird von der Erde angezogen, und die Erde entsprechend vom Mond.“[5] Der Dichter, der sich unter dem Mondlicht ergeht, ist sich einer Gezeitenströmung in seinem Denken bewusst, die auf lunaren Einfluss zurückzuführen ist. Ich will danach streben, die Gezeitenströmung in meinen Gedanken von den gängigen Ablenkungen des Tages zu trennen. Ich möchte meine Zuhörer davor warnen, meine Gedanken nach dem Standard des Tageslichts zu erproben, sondern sich um die Einsicht zu bemühen, dass ich aus der Nacht heraus spreche. Alles hängt von Eurem Standpunkt ab. In Drakes[6]Gesammelten Seereiseerzählungen sagt Wafer[7] über einige Albinos unter den Indianern von Darien[8]: „Sie sind ziemlich weiß, aber ihr Weiß ist wie das eines Pferdes, ganz im Gegensatz zum schönen oder blassen Europäer, da sie nicht den geringsten Ton einer Errötung oder einer gesunden Gesichtsfarbe aufweisen. *** Ihre Augenbrauen sind milchig weiß. Gleiches trifft auch auf ihr Haupthaar zu, das sehr fein ist. *** Sie gehen selten bei Tage nach draußen, da ihnen die Sonne lästig ist und ihre schwachen und grübelnden Augen zum Tränen bringt, besonders wenn sie angestrahlt werden. Und doch sehen sie ganz gut bei Mondlicht, weswegen wir sie mondäugig heißen.“

Während dieser Wanderungen bei Mondlicht gibt es auch in unseren Gedanken, wie mir scheint, nicht „den geringsten Ton einer Errötung oder einer gesunden Gesichtsfarbe“. Wir sind vielmehr intellektuell und moralisch Albinos — Kinder Endymions[9] — das kommt davon, wenn man sich viel mit dem Mond unterhält.

Ich beklage mich über arktische Seefahrer, dass sie uns nicht hinlänglich an die gleichbleibend seltsame Trostlosigkeit der Gegend und an das fortdauernde Zwielicht der arktischen Nacht erinnern. So muss derjenige, dessen Thema das Mondlicht ist, sich gleichsam mit dem Licht des Mondes zur Illustration begnügen, auch wenn er das als schwierig einschätzen mag.

Viele Menschen gehen tagsüber spazieren; nur wenige spazieren bei Nacht. Es ist ein ganz anderer Tagesabschnitt. Nehmt beispielsweise eine Juli-Nacht. Gegen zehn Uhr — wenn die Menschen schlafen und der Tag einigermaßen vergessen ist — sieht man die Schönheit des Mondlichts über der verlassenen Weide, wo das Vieh ruhig grast. Von allen Seiten her tun sich Neuigkeiten auf. Anstelle der Sonne sind da der Mond und die Sterne, anstelle der Walddrossel ist da die Schwarzkehl-Nachtschwalbe — anstelle der Schmetterlinge über den Wiesen Leuchtkäfer, geflügelte Feuerfunken! Wer hätte das gedacht? Welch wohlüberlegt kühles Leben sich doch in jenen taufrischen Wohnstätten aufhält und mit einem Feuerfunken verbunden ist! Daher hat der Mensch Feuer oder Blut oder Verstand in den Augen. Anstelle der Singvögel der gedrosselte Ton eines herüberfliegenden Kuckucks, das Gequake der Frösche und der tiefere Traum der Grillen. Aber vor allen Dingen das wunderbare Trompeten des Ochsenfrosches, das von Maine bis nach Georgia tönt. Der Jasminblütige Nachtschatten steht aufrecht, der Mais wächst geschwind, das Gebüsch zeichnet sich ab, die Kornfelder sind unermesslich. Auf unseren übersichtlichen Flussterrassen, die einst von den Indianern bebaut wurden, scheinen sie einer Armee gleich die Erde zu besetzen — und ihre Ähren wiegen sich in der Brise.

Kleine Bäume und Sträucher sind in der Mitte zu sehen, wie von einer Überschwemmung erdrückt. Die Schatten der Felsen, Bäume, Sträucher und Hügel sind auffälliger als die Gegenstände selbst. Die geringsten Unregelmäßigkeiten im Boden werden durch die Schatten bloßgelegt, und das, was die Füße als vergleichsweise glatt empfinden, erscheint demzufolge als uneben und verschiedenartig. Aus demselben Grund ist die ganze Landschaft vielfältiger und pittoresker als tagsüber. Die kleinsten Einschnitte in den Felsen sind halbdunkel und höhlenartig; die Farne im Wald erscheinen in tropischem Ausmaß. Auf überwachsenen Waldwegen benetzt Euch die Farnmyrte und die Indigopflanze bis zum Bauch. Die Blätter der Buscheiche sind glänzend, als wäre eine Flüssigkeit darübergeflossen. Die Tümpel, die man durch die Bäume sieht, sind so lichterfüllt wie der Himmel. „Das Tageslicht nimmt Zuflucht in seinem Busen“, das sagen die Puranas[10] über den Ozean. Alle weißen Gegenstände sind bemerkenswerter als bei Tage. Eine entlegene Klippe sieht aus wie eine phosphoreszierende Fläche auf einem Berghang. Die Wälder sind schwer und dunkel. Die Natur schlummert. Man sieht das Mondlicht, wie es von einzelnen Baumstümpfen in den Unterbrechungen des Waldes reflektiert wird, als ob es selbst sich aussuchte, worauf es scheint. Dieser kleine Anteil seines Lichts erinnert einen an die Pflanze, die man Mondsamen nennt — als ob der Mond sie an solchen Stellen aussäen würde.

In der Nacht sind die Augen teilweise geschlossen oder ziehen sich in den Kopf zurück. Andere Sinne sind vorherrschend. Der Wanderer wird auch vom Geruchssinn geleitet. Jede Pflanze, jedes Feld und jeder Wald strömt nun seinen Duft aus, „Swamp Pink“[11] auf der Wiese und Gänsefingerkraut auf dem Weg; und dann gibt es diesen eigenartig trockenen Geruch von Mais, bei dem gerade die Quasten zum Vorschein kommen. Sowohl das Gehör als auch der Geruchssinn sind geschärft. Wir hören das Tröpfeln der Rinnsale, das wir zuvor überhaupt nicht wahrgenommen haben. Von Zeit zu Zeit geht man oben am Hang durch eine warme Luftschicht. Eine Bö, die aus den schwülwarmen Ebenen des Mittags heraufgestiegen ist. Sie erzählt vom Tage, von sonnigen Mittagsstunden und Ufern, vom Landarbeiter, der sich die Stirn abwischt und dem Gesumm der Bienen zwischen den Blumen. Es ist eine Luft, in der Arbeit verrichtet worden ist — Luft, die Menschen geatmet haben. Sie bewegt sich vom Waldstreifen zum Hang hin wie ein Hund, der nun, da die Sonne verschwunden ist, seinen Herrn verloren hat. Das Gestein speichert die ganze Nacht hindurch die Wärme der Sonne, die es absorbiert hat. Dasselbe gilt für den Sand. Wenn Ihr ein paar Zoll tief hineingrabt, findet Ihr ein warmes Bett vor. Um Mitternacht liegt Ihr rücklings oben auf einem Felsen eines kahlen Hügels und sinnt über die Höhe des bestirnten Himmelsgewölbes nach. Die Sterne sind die Juwelen der Nacht, und womöglich übertreffen sie alles, was der Tag zu bieten hat. Ein Gefährte, mit dem ich in einer sehr windigen, aber hellen Mondnacht segeln war, als nur wenige Sterne schwach leuchteten, dachte, dass ein Mensch mit ihnen auskommen könnte — wenngleich er in seiner Situation sichtlich eingeschränkt war –, dass sie eine Art dürftige Mahlzeit waren, auf die immer Verlass war.

Kein Wunder, dass es Sterndeuter gegeben hat, dass manche sich vorgestellt haben, sie hätten zu bestimmten Sternen eine persönliche Beziehung. Nach der Übersetzung von Sylvester[12] sagt Du Bartas,[13] dass er „nicht glauben werde, dass der große Baumeister mit diesem ganzen Feuerwerk das Himmelsgewölbe nur zum Spaß geschmückt [habe], und mit diesen funkelnden Schildern arme Schäfer, die auf den Feldern Wache hielten, habe aufwecken wollen.“ Er werde „nicht glauben, dass die geringste Blume, die sich protzig am Rande unserer Gärten oder an unseren gewöhnlichen Flussufern zeigt, und dass der geringste Stein, den unsere Mutter Erde begierig in ihren wärmenden Schoß einschließt, einen besonderen Wert an sich selbst haben, und dass die glorreichen Sterne des Himmels keinen haben sollten.“

Und Sir Walter Raleigh[14] sagt so schön, dass „die Sterne Instrumente weit größeren Nutzens [seien] als bloß ein undeutliches Licht abzugeben und dazu da zu sein, damit die Menschen sie nach Sonnenuntergang betrachteten;“ und zur Bestätigung zitiert er Plotin mit den Worten, dass sie „bedeutsam, aber nicht leistungsstark sind;“ und Augustinus, der sagt: „Deus regit inferiora corpora per superiora“: Gott herrscht über die Körper unten durch die hoch droben. Das Beste von allem aber ist das, was ein anderer Schriftsteller zum Ausdruck gebracht hat: „Sapiens adjuvabit opus astrorum quemadmodum agricola terrae naturam“:[15] Ein weiser Mann steht der Arbeit der Sterne so sehr bei wie der Landwirt der Natur des Bodens nachhilft.

Die Menschen, die schlafend in ihren Betten liegen, betrifft es zwar nicht, aber für den Reisenden ist es sehr wichtig, ob der Mond hell leuchtet oder verdunkelt ist. Es ist nicht leicht, die ausgelassene Freude der ganzen Erde zu begreifen, wenn er ungehindert zu scheinen beginnt, es sei denn, Ihr wärt schon oft in Mondnächten alleine draußen gewesen. Er scheint einen ständigen Krieg mit den Wolken zu führen, und das in Eurem Namen. Und doch meinen wir, dass die Wolken ebenso seine Feinde sind. Er macht sich daran, seine Gefahren durch sein Licht zu vergrößern, sie in all ihrer Riesenhaftigkeit und Schwärze zu zeigen und bloßzustellen, sie dann plötzlich nach hinten in das verdeckte Licht zu werfen und zieht dann triumphierend seine Bahn durch eine kleine Lücke klaren Himmels.

Kurzum, der Mond, der die kleinen Wolken, die ihm im Weg sind, von denen er mal bedeckt ist und die er mal leichthin auflöst und durchscheint, die er durchquert oder scheinbar durchquert — dies macht für alle Betrachter und Nachtwanderer das Drama einer Mondnacht aus. Seeleute sprechen diesbezüglich von dem Mond, der die Wolken auffrisst. Der Reisende mutterseelenallein, der Mond,  abgesehen vom Mitgefühl des ersteren, mutterseelenallein, wie er mit nicht enden wollendem Triumph ganze Wolkengeschwader hoch über Wäldern, Seen und Hügeln bezwingt. Wenn er bedeckt ist, dann fühlt der Reisende so sehr mit ihm, dass er, nach Art der Indianer, einen Hund prügeln würde, um Abhilfe zu schaffen. Er freut sich, wenn der Mond ein großes wolkenloses Himmelsfeld betritt und ungehindert scheint. Und wenn er sich durch das ganze Geschwader seiner Feinde hindurchgekämpft hat und majestätisch an einem klaren Himmel entlanggleitet, und wenn ihm keine weiteren Hindernisse im Weg stehen, dann zieht er frohen Sinnes und zuversichtlich seine Bahn, und sein Herz freut sich, und auch das Lied der Grille scheint voller Freude zu sein.

Wie unerträglich wären die Tage, wenn die Nacht mit ihrem Tau und ihrer Finsternis nicht die erschlaffte Welt wieder erneuerte. Wenn die Schatten sich um uns zu scharen beginnen, dann werden unsere urtümlichen Instinkte geweckt, und wir stehlen uns heraus aus unseren Schlupfwinkeln, wie die Bewohner des Dschungels, die sich auf die Suche nach jenen stillen und grüblerischen Gedanken begeben, der natürlichen Beute des Verstandes.

Richter[16] sagt: „[Darum] wird ja diese Erde alle Tage verfinstert, wie Käfige der Vögel, damit wir im Dunkeln leichter die höheren Melodien fassen. – Gedanken, die der Tag zu einem dunkeln Rauch und Nebel macht, stehen in der Nacht als Flammen und Lichter um uns, wie die Säule, die über dem Vesuv schwebt, am Tage eine Wolkensäule scheint und in der Nacht eine Feuersäule ist.“

Es gibt Nächte in dieser Klimazone von solch heiterer und majestätischer Schönheit, die eine so heilkräftige und befruchtende Wirkung auf den Geist haben, dass mich dünkt, dass eine empfindsame Natur sie nicht der Vergessenheit anheimfallen ließe, und vielleicht gibt es keinen besseren und weiseren Menschen als den, der sie draußen verbringt, auch wenn er den ganzen nächsten Tag durchschlafen müsste, um dafür zu bezahlen, einen Schlaf des Endymion schlafen müsste, wie die Alten sagten — Nächte, die das griechische Beiwort ‘ambrosisch’ rechtfertigen, wenn, wie im Lande Beulah,[17] die Atmosphäre mit taufrischem Wohlgeruch und mit Musik beschwert ist und wir unsere Rast einlegen, um mit wachen Augen zu träumen — wenn der Mond nicht hinter der Sonne zurücksteht und „uns wieder, befreit von ihrer Flamme, seinen Glanz gibt und einen milderen Tag ausgießt. Mal scheint er sich durch die vorüberziehenden Wolken zu ducken, mal erhaben am klaren Himmelsblau entlangzuziehen.“[18]

Diana[19] geht noch immer am Himmel von Neuengland auf die Jagd.

„Am Himmel zwischen den Sphären ist sie Königin. Einer Gebieterin gleich verleiht sie allen Dingen ein lauteres Wesen. In ihrer steten Wandlung birgt sie Ewigkeit. Schönheit ist sie; an ihrer Seite harren die Holdseligen aus. Ihr hat die Zeit nichts an; deren Streitwagen Lenkerin ist sie; Sterblichkeit hat unter ihrem Himmelskörper Platz; an ihrer Seite gleitet die Tugend der Sterne hinab; in ihr ist der Tugend vollkommenes Abbild.“[20] 

Die Hindus vergleichen den Mond mit einem heiligen Wesen, welches das letzte Stadium der körperlichen Existenz erreicht hat.

Großer Restaurator des Altertums, großer Zauberer! In milder Nacht, wenn der Ernte- oder der Jagdmond ungehindert scheint, erkennen die Häuser unseres Dorfes, ungeachtet des Architekten, der sie bei Tage errichtet haben mag, nur einen Gebieter an. Die Dorfstraße ist dann so wild wie ein Wald. Neues und Altes sind durcheinandergebracht. Ich weiß nicht, ob ich auf den Resten einer alten Mauer sitze oder auf dem Material, das dem Bau einer neuen dient. Die Natur ist eine geschulte und unvoreingenommene Lehrerin, die keine unreifen Meinungen verbreitet und niemandem schmeichelt; sie ist weder radikal noch konservativ. Man betrachte das Mondlicht, wie zivil es ist, und doch so schonungslos!

Dies Licht ist unserem Wissen eher angemessen als das des Tages. In gewöhnlichen Nächten ist das Mondlicht nicht düsterer als der gewohnheitsmäßige Dunstkreis unseres Verstandes, und es ist gerade so hell wie unsere besten Momente der Erleuchtung es sind.

„Lasst mich draußen verweilen in solch einer Nacht, bis der Tag anbricht und alles wieder verworren ist.“[21]

Was für eine Bedeutung hat das Licht des Tages, wenn es nicht der Widerschein einer inneren Morgenröte ist? — zu welchem Zweck wird der Schleier der Nacht gelüftet, wenn der Morgen der Seele gar nichts offenbart? Nur grell und blendend ist es.

Wenn Ossian[22] bei seiner Rede an die Sonne ausruft: „Wo ist die Wohnstatt der Finsternis? Wo ist das Höhlenheim der Sterne, wenn du rasch ihren Schritten folgst, sie verfolgst wie ein Jäger am Himmel — du, der du die erhabenen Hügel erklimmst; sie, die sie auf kahle Berge steigen hinab?“ — wer würde da nicht in seinen Gedanken die Sterne zu ihrem „Höhlenheim“ begleiten und mit ihnen „auf kahle Berge“ hinabsteigen?

Dessen ungeachtet ist der Himmel selbst bei Nacht blau und nicht schwarz, denn wir sehen durch den Schatten der Erde in die ferne Atmosphäre des Tages hinein, wo die Sonnenstrahlen schwelgen.

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Thoreaus Text Night and Moonlight erschien erstmals in der Zeitschrift Atlantic Monthly im November des Jahres 1863. — Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Klaus Bonn.

 

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[1]  Plinius d.Ä. (23-79) ist gemeint, auf dessen Enzyklopädie Naturalis Historia (ca. 77) Thoreau sich bezieht.

[2]  Gemeint ist das in Ostafrika liegende Ruwenzori-Gebirge, das eine Höhe von ca. 5100 m erreicht. Seit 1994 ist es Teil des UNESCO-Weltnaturerbes.

[3]  Thomas Chalmers (1780-1847), schottischer Geistlicher, Begründer der Freien Kirche Schottlands.

[4]  Unübersetzbares Wortspiel; moonshine im Englischen meint sowohl den Mondschein als auch den Unsinn.

[5]  Von Thoreau nicht ausgewiesenes Zitat; vermutlich eine Anspielung auf Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687).

[6]  Sir Francis Drake (1540-1596), englischer Freibeuter und Entdecker; erster englischer Weltumsegler.

[7]  Lionel Wafer (1640-1705), walisischer Forschungsreisender und Freibeuter. (Übersetzung, K.B.)

[8]  Heute eine Provinz Panamas im Grenzgebiet zu Kolumbien.

[9]  In der griechischen Mythologie war Endymion der schöne und ewig junge Liebhaber der Mondgöttin Selene. Diese hatte ihn mit Zeus’ Hilfe in ewigen Schlaf versetzt, um ewiger Jugend und Unsterblichkeit willen.

[10] Puranas, heilige Schriften des Hinduismus.

[11] „Swamp Pink“ (wörtlich: das Rosa des Sumpfes) ist der Name für die Pflanzenart Helonias Bullata, die zur Familie der Germergewächse zählt und rosa Blüten aufweist.

[12] Joshua Sylvester (1563-1618), englischer Dichter, der Du Bartas’ Epos La Sepmaine ou, Creation du monde (1578) ins Englische übersetzte. Der Text hier stammt aus dem Gedicht Probability of the Celestial Orbs being inhabited. (Übersetzung aus dem Englischen, K.B.)

[13] Guillaume de Salluste Bu Bartas (1544-1590), französischer Dichter, Hugenotte, der unter Heinrich von Navarra diente.

[14] Sir Walter Raleigh (1552 bzw. 1554-1618), englischer Seefahrer, Entdecker und Schriftsteller. Thoreau zitiert aus The History of the World.

[15] Die Quelle des Zitats konnte ich nicht ausfindig machen. (K.B.)

[16] Gemeint ist freilich Jean Paul Richter (1763-1825), aus dessen Hesperus oder 45 Hundsposttage (38. Hundposttag, „Die erhabene Vormitternacht“) Thoreau in der englischen Übersetzung zitiert.

[17] Gemeint ist das Gelobte Land.

[18] Das von Thoreau nicht ausgewiesene Zitat stammt von James Thomson (1700-1748), einem schottischen Dichter, aus dem „Herbst“-Teil seines „Vier Jahreszeiten“-Gedichts. Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten (1801) geht auf Thomsons Text zurück. (Übersetzung, K.B.)

[19] Diana, in der römischen Mythologie die Göttin der Jagd und des Mondes.

[20] Der zitierte Text stammt aus Raleighs Gedicht The Shepard’s Praise of His Sacred Diana (Des Schäfers Lobpreisung seiner geheiligten Diana). (Übersetzung, K.B.)

[21] Das von Thoreau nicht ausgewiesene Zitat stammt von Anne Finch, Komtess von Winchilsea (1661-1720), einer englischen Dichterin, aus dem Gedicht A Nocturnal Reverie (Eine Nächtliche Träumerei). (Übersetzung, K.B.)

[22] Thoreau bezieht sich hier auf das Stück „Trathal“ nach der Übersetzung von James MacPherson (1736-1796). In der deutschen Übertragung von Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1806) ist dieses Stück nicht enthalten. (Übersetzung, K.B.)

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