(S. 131-132)
Manifest der Mondfälscherin
Fundort war eine Insel im See – falls zwei Quadratmeter Felsen als Insel gelten, genauer: eine Felsspitze, mit einem Baum, einer halbmorschen Kiefer, Wurzeln festgekrallt in den Stein. Ein Schwimmer, der nach einigen Runden (er umkreise, gab er an, den Miniaturfelsen jeden Morgen zehn- bis zwölfmal) dort rastete, sah in einer Höhlung des Baumstamms die Flasche (Etikett: abgeschabtes Orange), deren indigoblaues Glas, von einem Sonnenstrahl entfacht, aufblitzte, und das Versteck verriet. Sie enthielt neben einem Ende Seefrauengarn einen kleinen Memorystick (vulgo Erinnerungsriegel) mit beschädigter Textdatei. Folgendes ließ sich rekonstruieren – man nenne es Wirklichkeit oder Phantasie. Was außer der Zeugenschaft anderer, trennte denn das erste vom zweiten?
Für dich, wer immer auch
1. Oktober nachmittags
Der See glänzt schwarz, eine schwarze Brühe mit einer Schicht Silber, die zittert. Der Himmel glänzt auch, frisch gescheuert vielleicht, und der See ist sein Spiegel. Gelbe Blätter treiben darüber. Ahornlaub, im Wasser vertrocknend. Und jetzt schau dir die Blesshühner an, die komischen, schwarzweißen Vögel schwimmen zwischen die gelben Blätter, rucken die Köpfe vor und zurück. Sag, gibt es ein Wort dafür? Wenn eine dauernd nickt? Daran erinnern mich diese Vögel. Rucken die Köpfe, als würden sie nicken, und als treibe das Nicken sie an, ziehe den Körper voran durchs Wasser. Exzellenter Nickmechanismus. Lachst du jetzt? Gut. Sehr gut.
Wer lacht, kann nicht nicken. Oder genickt werden. (He, hier geblieben, Libelle! ... letzte des Sommers.) Bist du noch da? Dann lies:
Manifest der Mondfälscherin
Eines Tages beschloss ich, den Mond auf die Erde zu fälschen, im Hauptberuf. Wer dasselbe machen muss, wisse:
1. Der Mond ist weder Materie noch Himmelskörper. Er ist ein Prinzip, das sich aus dem Wunsch nach Präzision ergibt. Präzision heißt Gerechtigkeit fürs Detail: Keine Verdrängung des Irrationalen, Surrealen oder Unverständlichen mehr aus der Sprache! Stammelt, stottert und phantasiert, collagiert oder redet in Zungen, zerhackt die Grammatik! Schärft eure Sinne! Werdet zu Wind- und Wolkenköpfen! Mondmotor anwerfen! Vivat! Und frisch das Fernrohr poliert...
2. Der Mond als Himmelskörper ist eine lichte Molluske, Symbol (hört, hört) und verrückte Maschine der Stille. Wer sich ihrer bedient, dem kippt sie die Sonnenseite der Wörter ins Schattige und beleuchtet den Hintergrund, Untergrund, Meeresboden. Sie verrückt und entrückt.
3. Was bedeutet: Wer den Mond in die Tage fälscht, wiederholt. (Wie im Spiegel des Sees sich der Himmel verdoppelt, indirekt, reflektiert). Spürt auf und wiederholt. Den Mond zu fälschen heißt sichtbar machen, zum Beispiel: Das Versunkensein der Lesenden über ihren Büchern, die schlafenden Pflanzen oder Kindern ähnlich, präsent und abwesend zugleich, geschützt und ausgeliefert sind. Mit anderen Worten: mondisch sitzen sie in der Wirklichkeit und zwischen den Seiten, Algen am Arm, algenfarben die Augen.
Ab hier ist die Datei beschädigt, Wörter, die noch auftauchten waren: Narreteien, Täuschungen, Entdeckungen, lunarische Kapriolen, Logbücher.
© 2007 Ritter Verlag, Klagenfurt.