Erzählungen
Ungekürzter Text
Sprecher: Hans Eckardt
Spielzeit: 155 Min.
ISBN 3-89614-221-6
Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen 2001
Rainer Maria Rilke hat sich Zeit seines Lebens vor allem dem Genre der Lyrik verschrieben. Als Lyriker kennt man ihn, als Lyriker schätzt man ihn. Seine vereinzelten Dramen, sein Prosawerk - sieht man von den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" ab - sind hingegen kaum bekannt. Insofern ist diese CD eine Entdeckungsreise in Seitenwege eines bekannten Terrains. Rilkes Erzählungen fallen fast alle in seine Frühzeit. So manches erscheint in ihnen noch nicht mit der Klarheit gedacht und formuliert, wie dies später der Fall sein wird. Spannend ist aber gerade die manchmal jugendliche Frechheit, das spöttische Aufbegehren gegen eine Anpassung an die Normen der Gesellschaft. "Ein Charakter" von 1896 etwa erzählt von einem Mann, der sich die öffentliche Meinung so zu eigen macht, daß er bloß das Leben nachlebt, das andere meinen, das er haben müsse. Hört er, das Volk meine, er habe ein Geliebte, dann muß er sich wohl eine zulegen. Das geht so weit, daß er am Krankenbett, als er aufschnappt, man meine, er sei schon tot, auch wirklich stirbt. Er ist eben ein Charakter!
Die spöttischen Untertöne kommen auf der CD leider etwas zu kurz. Man hätte sich eine aufmüpfigere Stimme erwartet, einen Tonfall, der weniger brav wirkt.
Wichtige Themen sind der Tod (auch im Kindesalter) und die Begegnung mit dem Unbekannten, das Züge des Unheimlichen trägt. "Die goldene Kiste" zum Beispiel ist ein reich verzierter Kindersarg, nach dem ein Junge sich so sehr sehnt, daß er bald stirbt. "Die Näherin" wiederum, eine unscheinbare, eher häßliche Frau, wohnt neben einem jungen Mann, der mit einer Frau aus "gutem Haus" verlobt und sogar glücklich in diese verliebt ist. Eines Nachts betritt er versehentlich die Nachbarswohnung der Näherin und bleibt. Es ekelt ihn und zugleich kann er sich der Frau mit den dunklen Augen nicht entziehen. Sie besucht ihn Nacht für Nacht. Die Näherin ist eine seltsame, fremde Macht, die letztendlich sein Leben, oder zumindest seine Verlobung zerstört.
"Und doch in den Tod" beginnt als Rettungsaktion und endet erneut im Tod. Jemand beobachtet im Wald, wie sich ein Mann erschießen möchte. Der Selbstmörder sieht keinen Ausweg, weil seine geliebte Frau sich phasenweise immer wieder von ihm abwendet. Dann ist sie unansprechbar, kippt in eine Welt der Erinnerung an eine alte Liebe. Sie betrügt ihn in ihrer Erinnerung mit einem alten Liebhaber, der sie auch heute noch nicht losläßt. Es gelingt dem Beobachter, den Todesmütigen in ein Gespräch zu verwickeln. Auch er wollte sich einmal wegen einer Frau töten. Aber wie froh sei er nun, es nicht getan zu haben. Damals habe ihn die Arbeit - das Schreiben - gerettet. Schon fast wieder sicher ins Leben zurückgeholt, setzt sich der Mann aber doch die Pistole an die Schläfe und drückt ab. In seinem Retter hat er nämlich jene Jugendliebe gefunden, über die seine Frau nicht hinwegkommt. Geschichten wie diese spielen stark und todessehnsüchtig mit dem Unheimlichen. In "Der Apostel" mischt sich ein fremder geheimnisvoller Gast in eine vertraute Runde im Gasthaus. Zuerst ganz still, setzt er bald zu einer fulminanten Predigt an, die ganz im Tonfall Nietzsches, den Übermenschen predigt, jenen Starken, der die Masse hinter sich läßt ("der Starke nur hat das Recht zu leben") und sich zum Licht erhebt. Er, so der Mann, sei hier, um die Liebe, vor allem die Nächstenliebe zu töten. Nicht zu den Schwachen soll man sehen, sondern nach vorwärts.
Die insgesamt 10 Geschichten - auch dabei: "Das Geheimnis" - eine Erzählung, die beschreibt, wie ein Begehren, eine Neugierde über viele Jahre eine Freundschaftsbeziehung strukturiert und im Gang hält - sind vielfältig und doch thematisch recht homogen. Ein raffinierter Einstieg über einen Seitenweg in das reichhaltige Oeuvre von Rainer Maria Rilke.
Karin Cerny
4. September 2002