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Erich Fried Lectures

Die "Erich Fried Lectures" eröffnen eine Plattform für die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart, mit der Literatur, mit künstlerischen oder allgemein politischen und gesellschaftlichen Fragen - Österreichs oder Europas. Der Rahmen für die Vortragenden ist breit gesetzt und öffnet Perspektiven - entsprechend der Denkweise des Namenspatrons - auf Kritik oder Vision.

 

1. Erich Fried-Lecture mit Franz Schuh, 12. 10. 2006

2. Erich Fried-Lecture mit Robert Menasse, 18. 11 2006

3. Erich Fried-Lecture mit Marlene Streeruwitz, 21. 04. 2007

4. Erich Fried-Lecture mit Kathrin Röggla, 06. 11. 2007

5. Erich Fried-Lecture mit Evelyn Schlag, 07. 05. 2008

 

1. Erich Fried-Lecture

Franz Schuh

LITERATURHAUS WIEN, Do, 12. Oktober 2006, 19 Uhr

 

Veranstaltungsbild

FRANZ SCHUH, geb. 1947 in Wien, studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Lehrbeauftragter an der Hochschule für angewandte Kunst/Wien und Kolumnist, u. a. für "Die Zeit" und "Literaturen". Veröffentlichte u. a. "Liebe, Macht und Heiterkeit" (Ritter, 1985), "Das phantasierte Exil", Essays (Ritter, 1991), "Der Stadtrat. Eine Idylle" (Ritter, 1995), "Schreibkräfte - Über Literatur, Glück und Unglück" (DuMont, 2000), "Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche" (Zsolnay, 2006).

 

Allgemeinheiten der (österreichischen) Kulturpolitik. Zum Zwiespalt

von Kultur und Politik.

 

Ausgewählte Passagen

© Franz Schuh

 

[nach einer Passage, in der Thomas Bernhards aufsehenerregende Rede anlässlich der Verleihung des österreichischen Staatspreises für Literatur 1968 zitiert wird]

 

"Mit einem Widerspruch, der Staat und Gesellschaft in die Rituale ihrer sie selbst bekränzenden Ehrungen einbezieht, der sie in eine Auseinandersetzung, ja in einen Streit um Sein oder Nichts-Sein verwickelt, hatte man nicht gerechnet. Die Position war, dass Staat und Gesellschaft (Steuergelder!) gleichsam von außen her, also im Grunde herablassend, einen Preis verleihen, und dass die damit Ausgezeichneten selbstverständlich zufrieden sind. Die Konfrontation, obwohl stets befürchtet und mit vielen Mitteln vermieden, kam unerwartet und sie ist, meine ich, auch nicht mehr wiederholbar. Jede Wiederholung ließe sich leicht als Zitat kenntlich machen und dadurch entwerten. Aber als historisches Datum ist diese Konfrontation ein Zeugnis dafür, wie auf der kulturpolitischen Bühne der Gegensatz von Kulturpolitik und geistiger Unabhängigkeit , wie dieser Gegensatz als absoluter, als unüberbrückbarer aufgeführt werden konnte. Ich glaube, die österreichische Kulturpolitik ist auch (und seit jeher) von der Furcht vor einer Eklat produzierenden Unabhängigkeit gezeichnet (oder, wenn man will, getragen). Derzeit wird die Unsicherheit am liebsten kompensiert, derzeit erfüllt man sich am liebsten den Wunsch, sicher zu gehen, indem man auf mainstream-events rekurriert, also vor allem auf das, was man als Beamter, als Manager dafür hält: Seebühnen und dergleichen, und besonders alles, was dem Tourismus dient. Auch vollkommene Verständnislosigkeit, die sich jedoch ganz sicher ist, und die manchmal in Gleichgültigkeit, in Indifferenz ausschlägt, die manchmal aber auch gewaltig dogmatisch werden kann, hat im quotenorientierten Event einen Halt. So kann es am Ende sein, dass Kulturpolitik im emphatischen Sinne gar nicht mehr existiert, längst eine Chimäre ist. Was davon blieb ist, könnte dann ein Service für die verschiedenen Wählerschichten sein, also, so Klaus Nüchtern [Kulturredakteur der Wiener Stadtzeitung "Falter"], 'der übliche Globalmix von Repräsentativ-und Event-Spektakelkultur zur Möblierung unterschiedlich tapezierter Lebenswelten.'"

"Ich rede hier von Leistungen, die die Kulturpolitik ermöglicht - also dezidiert nicht von der Kunst, von der Literatur, die, um zu entstehen, keiner Kulturpolitik bedürfen. Ohne die kulturpolitische Entscheidung aber, die repräsentativen Künste dermaßen zu finanzieren, dass sie - der Möglichkeit nach - auf höchstem Niveau arbeiten können, gäbe es hierzulande dieses Niveau gar nicht, also auch gar nicht für die Moderne. Aber was ist nun das zweite, das mir vorbildhaft erscheint? Überhaupt nicht mit dem ersten zusammenhängend, bezeichnenderweise völlig beziehungslos dazu, gibt es übers ganze Land verstreut B e s i n n u n g s i n s  e l n, zum Beispiel die Literaturhäuser oder andere, weniger institutionalisierte, nicht zuletzt auf Selbstausbeutung gründende Veranstaltungsformate wie die Oberösterreichischen Kulturvermerke; oder - schon größer, also zum Nutzen und zum Nachteil auch stärker diszipliniert , die philosophischen Tagungen von Lech, die alljährlich stattfinden und die in Publikationen dokumentiert werden. Ich bin für d i e s e Publikationen, sonst aber gegen die ewige Publiziererei, weil in den Sammelbänden der Augenblick verschwindet, in dem hier und jetzt etwas gesagt wird; es macht d e n Unterschied aus, ob etwas für eine bestimmte, hoffentlich nachdenkliche Gegenwart gedacht ist, oder ob es schon für die abstrakte, ohnedies zumeist ausbleibende Figur des Lesers geplant werden muss."<thF>


 

2. Erich Fried-Lecture

Robert Menasse

LITERATURHAUS WIEN, Sa, 18. November 2006, 19 Uhr

Menasse

 

ROBERT MENASSE, geb. 1954 in Wien, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien, Salzburg, und Messina. Unterrichtete bis 1988 Literaturtheorie in Sao Paulo/Brasilien. Lebt seither hauptsächlich in Wien. Veröffentlichte zuletzt "Erklär mir Österreich. Essays zur österreichischen Geschichte" (Suhrkamp, 2000), "Die Vertreibung aus der Hölle", Roman (Suhrkamp, 2001), "Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften", Hg. v. Eva Schörkhuber (Suhrkamp, 2005). Anfang Oktober wurde sein erstes Theaterstück "Das Paradies der Ungeliebten" (Suhrkamp, 2006) im Staatstheater Darmstadt/D uraufgeführt. <thf>

 

Kunst und Sucht

Ausgewählte Passagen

© Robert Menasse

 

Der vollständigen Text erschien in der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" am 25. November 2006.

 

Wie muss eine Welt beschaffen sein, damit wir sie nüchtern zumindest ertragen und wäre eine solche Welt überhaupt wünschenswert? Das sind zwei Fragen, die ich in meinem Vortrag nicht beantworten werde. Wahrscheinlich nicht einmal, wenn ich wollte, beantworten könnte, die aber unzweifelhaft den Fluchtpunkt markieren, auf den perspektivisch jede Auseinandersetzung sowohl mit Kunst als auch mit Sucht in jedweder Form zuläuft - oder vor dem sie eben zurückweicht. Es genügt also, diese Fragen auszusprechen, nur damit sie da sind, um im Ermessen der Distanz beurteilen zu können, wie weit wir in unseren Bemühungen, unser Leben zu machen, vorangekommen sind.

 

Kunst, das ist in Hinblick auf den angesprochenen Fluchtpunkt gleichsam die Reisetasche, in die alles hineingepackt ist, was Sie alle für Ihren jeweiligen Trip benötigen: Etwas zum Wechseln, etwas zum Reinigen und auch die Gerätschaften, die Ihnen anzeigen können, wo Sie sich gerade befinden. Denn Kunst ist, ohne jetzt alle möglichen Kunsttheorien referieren zu wollen, im Grunde die Erschaffung einer Welt, in der Sie sich bewegen können, um das Ungenügende Ihrer Lebenswelt zu erfahren. Sie zeigt, was immer sie zeigt, in jedem Falle auch, wie "es gemacht wurde" - um mit einem berühmten Zitat von Balzac zu sprechen: "Am Ende wissen wir nur eines mit Sicherheit: Wir haben gelebt. Was wir erzählen müssen, ist: Wie? Wir müssen zeigen, wie es gemacht wurde." Was ist dieses Balzac'sche "es"? - Worunter gelitten wurde, unter dem Firmament welcher Sehnsuchtsbilder, welche Formen des Wahnsinns als normal gelten konnten und was durch das Netz sozialer Kompatibilität durchrutschte, ins Nichts, ins Verderbnis, in einen langsamen oder schnellen Tod.

 

Die Kunst der vergangenen Jahrhunderte, die bis heute ihre Gültigkeit und ihre Geltung bewahrt hat, ist im Grunde genommen die Schande unserer Gegenwart, und zwar deshalb, weil wir uns im Elend, das Kunst und Literatur in immer neuen Formen darstellte, noch immer wiedererkennen können und noch immer wiedererkennen müssen. Es sind alte Echoschreie unserer Defizite, auch wenn sie inszeniert werden wie seraphinischer Jubel, in den Festspielen, in der tourismusrentablen Umwegkultur. Wie es gemacht wurde, hat Balzac gesagt, das muss dargestellt und erzählt werden. Dieses "es" markiert, was wir nicht ertragen. Alles, was wir wollen, wie wir leben und denken, wie wir uns als Individuen überschätzen und zugleich zerstört sehen, all unsere Hoffnungen, all unsere Widerstände - kurz, dies, das Wichtigste, nämlich das Leben, sehen wir nur mit ES bezeichnet. Ein Pronomen, das nicht auf unseren Namen verweist, ein Neutrum, das aber nicht sachlich ist, weil es auf die Abgründe der Seele und ihren Zuchtmeister verweist, nämlich das ES im Freud'schen Sinn, und nicht auf eine sachlich vernünftige soziale Grammatik. Denn unsere Lebensgrammatik ist auf den Kopf gestellt. "Liebe" zum Beispiel ist immer noch ein intransitives Fürwort, "frei" ist ein Adjektiv ohne Eigenschaft, Glück ein von der Rechtschreibreform übersehenes Substantiv, dessen Umlaut man mit i schreiben müsste - Glick - um das maschinelle Einrasten unserer Bedürfnisse in den Bedürfnissen der Wirtschaft auszudrücken. Hauptwörter alleine werden zu Relativsätzen. "Reform" zum Beispiel, ein Begriff, der immer nur als ein Gestammel von untergeordneten Relativierungen angerufen wird, die nie versprechen können, dass am Ende, wenn endlich ein Zeitwort auftaucht, bei Zeiten irgendetwas besser geworden sein wird. Dies ist eben auch ein Grund dafür, dass jede wahre Reflexion über Kunst immer auch gleich eine Reflexion über das Leben ist und jede Reflexion über Kunst und Leben bald auch eine Reflexion über Sucht wird. Ich weiß nicht, wie sich Sucht korrekt etymologisch ableitet, aber für mich stecken zwei Bedeutungsfelder in diesem Begriff - nämlich die Seuche und das Suchen. Also einerseits das, was uns krank macht, noch bevor wir überhaupt mit einer Sucht begonnen haben, und andererseits aber auch die Hoffnung, Heilung zu finden oder die Erlösung, zumindest Techniken, die es uns ermöglichen, das Leben zu ertragen. Wodurch sich am Horizont schon wieder der Fluchtpunkt zeigt, von dem ich eingangs gesprochen habe.


 

3. Erich Fried-Lecture

Marlene Streeruwitz

LITERATURHAUS WIEN, Do, 22. März 2007, 19 Uhr

Veranstaltungsbild

 

MARLENE STREERUWITZ, geb. in Baden / NÖ. Studium der Slawistik und

Kunstgeschichte. Freiberufliche Schriftstellerin und Regisseurin. Lebt

in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Hermann-Hesse-Literaturpreis

2001 (für "Nachwelt."), Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002.

Veröffentlichte zuletzt die Romane "Entfernung." (Fischer, 2006) und

"Jessica, 30." (Fischer, 2004) sowie den Vorlesungsband "Gegen die

tägliche Beleidigung." (Fischer, 2004).

 

Vater.Land.

Ausgewählte Passagen

© Marlene Streeruwitz

Der vollständigen Text erschien in der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" am 21. April 2007.

 

Weil mir die Widerstände, wie ich schon einmal gesagt habe, alles bedeuten": Das sagt Thomas Bernhard am 4. Oktober 1972 im "Kurier". Der Titel zu diesem Beitrag lautete "Die Garbo heißt Thomas" und soll wohl mit dem Nachnamen der Diva von deren legendärer Öffentlichkeitsscheu auf die des mit dem Vornamen Genannten schließen lassen. Das Wort "alles" soll, so betont, noch einmal mehr alles bedeuten. Die Widerstände sind dem Autor das Wichtigste. Das Allerwichtigste. Das Alles wird zur Quelle der Widerstände. Das Ziel der Widerstände wird nicht näher genannt. Zitat. "Ich wollte eben diesen ungeheuren Widerstand ..."

Am 4. Oktober 1972. Das war nach dem Salzburger Festspiel-Skandal. Thomas Bernhard war als Provokateur etabliert. 1972. Da begann 68 dann auch in Österreich. Wie schon beim Aktionismus verblieb die Provokation in der Kunst. Verblieb in künstlerischem Ausdruck versiegelte Affektverarbeitung. Mit Thomas Bernhard war aber eine breitere Besprechbarkeit möglich. Die Aktionisten hatten im Hörsaal I mit der Regression in frühkindliche Entgrenzung das unaussprechbare Geschenk der Körperausscheidungen gemacht. Dieses Geschenk galt den "Eltern". Dieses Geschenk sollte die Aufmerksamkeit der Eltern erringen. Aber. Verdrängung sollte durch Unverdrängung sichtbar gemacht werden. Das Unverdrängte über die Kunst unverdrängt heben zu wollen. In dieser Form musste das zum Gegenteil geraten. Es war eine Anleitung zur Verdrängung entstanden, die ein Beharren in der Verdrängung als richtiger erscheinen lassen konnte.

 

Da war Thomas Bernhard schwieriger abzuwehren. Thomas Bernhard ließ seine Widerstände aus der Mitte der Realität des zu Widerstehenden wirken. Ganz in der Manier eines Sturm-und-Drang-Helden ließ sich Thomas Bernhard in der Mitte des Kulturbetriebs scheitern. Zunächst. Er ließ sich von dieser Mitte an den Rand schieben. Öffentlich. Und alle konnten zusehen. Genau das machte ihn so pflegeleicht im Gegensatz zu den außerhalb des etablierten Kulturbetriebs agierenden Aktionisten. Thomas Bernhard übernahm ja den Stückauftrag für die Salzburger Festspiele. "Der Ignorant und der Wahnsinnige" war ein Auftragswerk. Die Aufführung war dann aber nur Mittel zur Politik. Für beide Seiten. Die Geometrie der Macht wurde am Verhalten des Intendanten und des Theaterbetriebs gegenüber Autor, Regisseur und Ensemble aufgezeichnet. Der Text bediente sich einer Ästhetik der Verweigerung, die zum Grund der Auseinandersetzung wurde, die aber selbst keine Bewegung aufnahm. Ein sich selbst auslöschendes Prinzip wurde da im Theater eingeführt. Konflikte sind seither immer rund um Inszenierungen und Aufführungen. Sie sind im Theaterbetrieb nicht mehr im Text selbst zu finden.


 

4. Erich Fried-Lecture

Kathrin Röggla

LITERATURHAUS WIEN, Di, 6. November 2007, 19 Uhr

KATHRIN RÖGGLA, geb. 1971 in Salzburg; lebt seit 1992 in Berlin; Prosa, Radioarbeiten, Theater; wurde u. a. mit dem Reinhard Priessnitz Preis (1995), dem Italo Svevo Preis (2001) und dem Solothurner Literaturpreis (2005) ausgezeichnet. Zuletzt: "disaster awareness fair" (Droschl, 2006).

"besser wäre: keine"

© Kathrin Röggla

 

das seltsamste telefonat, das ich in meiner literaturkarriere wohl führte, begann mit dem satz: "ich stehe mit meinen studenten gerade in den baumwollfeldern. meine studenten sind müde, hungrig, krank, schmutzig und wollen nur eines: nach hause." dies rief der dekan ins telefon, und es hörte sich an, als käme seine stimme vom mars. an eine lesung sei also nicht zu denken, musste er erst gar nicht mehr hinzusetzen, und so verabschiedete man sich nach einigen höflichkeitsfloskeln und legte auf. schon auf der fahrt nach samarkand hatte ich erfahren, dass die zwangsarbeitsdienste, an denen sich schüler und studenten beteiligen müssen, bis zu 2 monate dauern können. 2 monate, in denen sie auf den zahllosen feldern usbekistans stehen und jene unendlich mühsame arbeit praktisch für keinen lohn machen müssen. 50% der bebaubaren fläche des landes hat jener baumwollirrsinn im griff, der nicht nur den aralsee mitaustrocknen lässt, sondern auch einen unheimlichen verschleiß an menschlicher arbeitskraft bedeutet. es herrscht sozusagen ein staatliches baumwollgebot, und den genossenschaftsähnlich organisierten bauern bleibt nichts anderes übrig, als diese anzubauen. "alle usbeken hassen die baumwolle", würde mir am schluss des aufenthaltes ein weltbankmitarbeiter am flughafen sagen, jetzt aber stand ich noch ratlos vor dem seltsam neu und, typisch für die region, zugleich schon verschlissen wirkenden universitätsgebäude auf einer der leergefegten straßen samarkands und fand mich wieder mitten in jener eigentümlichen paranoiden kommunikationsstille, die mich in diesem polizeistaat von anfang an begleitet hat. jene stille, die sich aus dem verhallen von e-mails, dem vergeblichen warten auf einen rückruf und der fehlenden organisationsbereitschaft zusammensetzt, und die einen krassen gegensatz zu meiner erfahrung mit kirgisistan, wo meine reise begann, bildet. denn dort, so erinnerte ich mich plötzlich sehnsuchtsvoll, waren kontakte rasend schnell zustandegekommen, e-mails wurden innerhalb eines tages beantwortet, sogar handynummern wurden ausgegeben. ich stand also auf der leergefegten straße und dachte mir: wie komme ich eigentlich hierher? wieso mache ich das, in so einem land überhaupt auftreten zu wollen?

 

schuld daran ist eine mischung aus neugier und nachahmungstrieb. nachahmungstrieb? mögen sie sich fragen, wen um himmelswillen möchte ich dort nachahmen? nein, ich kann nicht mehr annemarie schwarzenbach sein, ich kann auch nicht nicolas bouvier sein oder gar michel leiris, reisende bürgerliche schriftsteller, die ihre subjektivität mit reisezufällen aufladen, denen genügt, unterwegs zu sein, und ihr selbst- und fremdempfinden zu thematisieren. im zeitalter von tourismus und migration kann ich höchstens ein wenig hubert fichte sein, dachte ich mir, das kriege ich vielleicht noch hin, also reisende als forscherin zu sein, doch irgendwie erschien mir dieses programm in der hitze der samarkander straßen völlig hybrid, die ethnographische zuversicht war wie weggeblasen.

aber vielleicht, so überlegte ich mir, wäre es hilfreich, erst einmal zurückgehen zu den ausgangspunkten meiner suche. vielleicht ist nach all den recherchen, reisen und gesprächen möglicherweise der punkt gekommen, mein interesse wieder freizulegen, das unter der ganzen informationsflut der letzten monate vergraben scheint.
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5. Erich Fried-Lecture

Evelyn Schlag

LITERATURHAUS WIEN, Mi, 7. Mai 2008, 19 Uhr

Veranstaltungsbild

 

EVELYN SCHLAG, geb. 1952 in Waidhofen an der Ybbs / NÖ, lebt als freie Schriftstellerin in Waidhofen. Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Bremer Förderpreis zur Literatur, Österreichischer Würdigungspreis, Anton Wildgans-Preis der Industrie. Veröffentlichte zuletzt im Zsolnay Verlag den Roman "Architektur einer Liebe" (2006).

Geheime Tinten

© Evelyn Schlag

 

Ruth Lilly, die letzte überlebende Urenkelin des Gründers der Pharmafirma Colonel Eli Lilly, ist 93. Den Großteil ihres Lebens hat sie in psychiatrischen Anstalten verbracht. Öffentlichkeitsscheu und von Depressionen geplagt. Erst das Firmenprodukt Prozac verschaffte ihr Erleichterung. Nach ihrem 80. Lebensjahr unternahm sie ihre erste Auslandsreise. Im Jahr 2001 vermachte die schwerreiche Erbin der angesehenen Lyrikzeitschrift Poetry in Chicago ein Geschenk von 200 Millionen Dollar - eine unglaubliche Summe. Kritische Artikel, z.B. im New Yorker, zeichneten ein zwiespältiges Bild des Präsidenten der neugegründeten poetryfoundation, John Barrs, eines dichtenden Managers. Dieser warf den zeitgenössischen Lyrikern in Amerika vor, dass sie an den Bedürfnissen des Publikums vorbeischrieben. Zu akademisch, zu wenig unterhaltsam. Die Lyriker sollten sich ein Beispiel an Hemingway nehmen und auf Safari gehen. Eine der ersten Aktionen der poetryfoundation bestand darin, sich als Lyrikberater für diverse Zeitschriften anzubieten. So erhielt etwa eine Modewebsite mit dem Namen "Love your Curves" ein Gedicht von Lucille Clifton mit dem Titel "Homage to My Hips".

Die Website der poetryfoundation ist Textsammlung, Diskussionsforum und vor allem Ratgeber bei der Suche nach dem Gedicht, das es doch so viel besser als wir auszudrücken vermag. Der Überlebensführer zum Schulbeginn bietet Gedichte für Schüler mit Versagensängsten, zum Durchhalten in den naturwissenschaftlichen Fächern und für schüchterne Schüler und Studenten, die sich nicht trauen, ihre Gefühle selbst zu formulieren. Damit auch keiner Fehler macht, wird jedes Gedicht zuvor erklärt. Hinter diesen Dienstleistungen steckt ein pädagogischer, typisch amerikanischer Drive. Nicht nur unter dem Stichwort "Krieg", sondern auch unter "Sports and Outdoors Actvities" findet man übrigens das Gedicht "vietnam" von Michael Collier. Ein trojanisches Gedicht, das die gebogene Form der Halbinsel Vietnam mit der eines Aals vergleicht. Neben der Landkarte von Vietnam hängt der Fischerkalender an der Wand. Der Angler trägt in die Felder mit den Mondstellungen die jeweiligen Verluste bei den Marines und der NVRA, der Nordvietnamesischen Revolutionsarmee, ein. In dem Gedicht versteckt sich eine Kritik am Vietnamkrieg.
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