Es liest: Bernd Jeschek
10 CDs
Spieldauer: 12 Std 20 Min.
ISBN 3-7085-0126-8
Wien: Preiser Records, 2005
Der Schauspieler und Regisseur Bernd Jeschek ist ein Doderer'scher Überzeugungstäter. Nach zahlreichen Lesungen aus dem Werk des österreichischen Romanciers liegt nun Jescheks Lieblingstext und Doderers komischster Roman "Die Merowinger oder Die totale Familie" als ungekürztes Hörbuch vor. Das sind gelesen ca 12,5 Stunden. Preiser Records hat ein aus zehn CDs bestehendes Hörbuch produziert, das in der eleganten Kassette mit einem Cover von Günter Brus zu erwerben ist. Unter dem überdimensional gebauschten Rock einer ihr Gesicht verhüllenden Frauenfigur hat Brus einen exzentrisch Lesenden platziert und dem Bild den Titel "BERND JESCHEK LIEST PHANTOMEN 'DIE DÄMONEN' VOR, DESTO DODERER, DOSTO JEWSKI" gegeben.
Den vielschichtigen, komplexen und komplizierten Erzählsträngen und Figurenbeziehungen Doderers hat sich der Schauspieler und Regisseur Bernd Jeschek, der auch für seine Gert-Jonke-Interpretationen bekannt ist (etwa der Monolog "Redner rund um die Uhr", Preiser Records, 2004), offenbar verschrieben. Mit dem im Winter 2005 erschienenen und von Jeschek gelesenen Hörbuch erweitert er nun den eingefleischten "Merowingisten"-Kreis. Damit wird die Kenntnis des "Paust'schen Sacks", so die "totale Familie", nicht mehr allein Doderer-Fans vorbehalten sein.
Die Geschichte rund um den von Wutanfällen geplagten Adeligen Childerich III. von Bartenbruch - wegen seines ungestümen Bartwuchses als auch seiner vier schon nach wenigen Ehejahren 'erloschenen' Frauen "Blaubart" genannt - ist nicht nur höchst skurril, sondern zeichnet auch das Bild der Wiener Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis in die 1950er Jahre.
Rund um die zentrale Figur des letzten Merowinger-Nachfahren entwickelte Doderer eine Groteske mit einem kaum noch überschaubaren Figurenpersonal, die verschlüsselt Doderer-Weggefährten der damaligen Wiener Bohème-Szene versammelt. Dieser Childerich III. ist besessen von der Idee der "totalen Familie". Indem er durch Adoptionen und Verheiratungen sämtliche familiäre Chargen in sich vereint, wird Childerich zu seinem eigenen Vater, Großvater, Neffen und Onkel zugleich. Grimm, Groll und Prügel bestimmen diese nicht nur totale, sondern auch weit verzweigte Familie sowie ihr gesamtes Umfeld, das bei Psychiater Professor Horn in Behandlung steht. Abstruse Kriterien zur sicheren Bestimmung des Aggressionsgrades, etwa "stark erhöhte Fußwinkel", leiten Horns Behandlung, die mindestens so Ziel führend wie fragwürdig erscheint. Dass hinter seinen kostspieligen Therapien ein ebenso ertragreiches und ausgeklügeltes System steckt, bleibt sogar dem Professor verborgen. Die Firma Hulesch & Quenzel lim. beschäftigt nämlich europaweit ihre Agenten zur Sicherung perfekter Alltagsquälereien. Ein Stockwerk unter der dubiosen Ordination wohnt der Schriftsteller Doctor Döblinger, selbst Meister fein kalkulierter Bösartigkeiten und Doderers Alter ego.
Diesem souveränen Sprachwerk voller Wortneuschöpfungen und bizarrer Metaphern begegnet Bernd Jescheks Interpretation zunächst sehr dezent und bedient diese spezifisch wienerische, dekadente Stimmung des Romans. Die Diphthonge ein wenig zu breit ausgesprochen, die Konsonanten bewusst nicht bühnendeutsch anaspiriert, sondern geradezu gezielt etwas weicher, lasziver, schafft Jeschek genau jene Atmosphäre, die Doderers abstruser Roman verlangt. Mit viel Sinn für Doderers Parodierungskünste und leisem Spott zeichnet Jeschek die Figuren, ohne je platter Häme zu verfallen.
Zwölfeinhalb Stunden sind nun aber eine Zeitspanne, die abwechslungsreich gefüllt werden will, gerade bei einem so differenzierten, mehrschichtigen Werk, das höchste Aufmerksamkeit fordert. Doch hier verharrt Jeschek in den Prosastrecken allzu sehr in einem einzigen Gestus, letztendlich doch zu zurückhaltend in den Variationen, zu fixiert auf den Doderer'schen Ton, den er gefunden hat. In den Dialogteilen aber trifft er die Personen sehr genau, fein gelingt ihm die Figur des pensionierten Oberlehrers Zilek, skurril wie eine Albert Paris-Gütersloh-Skizze, die Doderer literarisiert hat. Oder den Psychiater Horn, dem er eine teigige, schnaubende Sprachmaske verleiht, und so Doderers Metapher vom sich entfaltenden Blumenbouquet eine akustische Ausdrucksform verleiht. Schade nur, dass das Medium in seinen vielfältigen Möglichkeiten nicht genutzt wurde, um eine echte Hörinszenierung mit "Wutmärschen" und Glockenspielen zu präsentieren.
Julia Danielczyk
18. April 2006
Originalbeitrag
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