Roman.
Wien: Picus Verlag, 2018.
240 Seiten; geb.; Euro 22,-.
ISBN: 978-3-7117-2064-1.
Autor
Leseprobe
Ein Soldat schiebt nächtens Wache in einem Wachturm an einer unbestimmten Grenze. Die Stunden verrinnen und die Gedanken werden immer lauter, jede volle Stunde bildet ein Kapitel dieses außergewöhnlichen Romans, der sich mit Heimat und Zugehörigkeit, aber auch Liebe und Vergangenheitsbewältigung beschäftigt.
Zwei Familien in einer Brust
"Die Dunkelheit hat ihn schon immer fasziniert. Schon als Kind legte er sich mit all den Schatten an, die Nächte für die angeregte Fantasie eines Buben bereithielten". Mit diesen Worten charakterisiert der Autor seinen Protagonisten, der sich in Rückblenden Gedanken über seine Familie macht. Eigentlich sind es zwei Familien: seine eigene und seine Ursprungsfamilie. Beide Familien haben große Verluste erlitten, erstere durch einen Unfall, letztere durch Vertreibung. Die langen Stunden des Wacheschiebens auf dem Turm vertreibt sich der Soldat mit dem Tagebuch seiner Großmutter. Sie war eine jener 16 Millionen Deutschen, die nach dem Krieg vertrieben wurden.
Endlose Nacht auf einem Turm
Aus Hinterpommern musste sie nach Westen ziehen, sie war ein Flüchtling, so wie jene, die heute über "seine" Grenze kommen, die er des Nachts gerade bewacht. Was wird er tun, wenn tatsächlich jemand über die Grenze will, würde er schießen? Mehr noch als die Gedanken an seinen wirklichen Einsatz martern ihn seine eigenen Erinnerungen, die Erinnerungen an seinen Verlust, seine Frau, sein Kind, die durch einen Unfall von ihm getrennt wurden. Wenn er nicht mehr weiter weiß, liest er im Tagebuch seiner Großmutter und erkennt, wie schrecklich es ist, seine Heimat zu verlieren. Auch die Nacht vermag nicht, ihn zu trösten, denn es ist nichts mehr so wie in seiner Kindheit, als die Schatten seine Fantasie beflügelten.
"Lie la lie"
Je weiter die Nacht voranschreitet, desto mehr fürchtet sich der Soldat, fürchtet sich, nicht durchzuhalten, einzuschlafen, nicht seinen Mann zu stehen, wie die Kollegen sagen, oder einfach nur an seiner eigenen Misere einzugehen. "Ein Hirsch müsste man sein" sagte ihm sein Onkel einmal, "einen Monat lang das ganze Rudel und dann das ganze Jahr einen seligen Frieden vor die Weiber." Der Soldat muss schmunzeln und es fällt ihm auch eine Zeile aus einem Song von Simon & Garfunkel ein: "Lie la lie, lie la la la lie lie / Lie la lie, lie la la la la lie la la lie" (The Boxer), denn auch er würde höchstens ein "come-on from the whores / On Seventh Avenue" bekommen, sollte er jemals wieder nach Hause zurückkehren. Aber dorthin kann er nicht mehr zurück. "Pommerland" ist auch für ihn abgebrannt: "Lie la lie".
Der Flüchtling in uns
"...aber alles, was immer zu hören ist, nähert sich der Stille an, weil es nicht mehr wahrgenommen wird im Kopf", schreibt Gerhard Jäger an einer Stelle seines nachdenklichen und besinnlichen Romans und bald begreift der/die Leser/in, dass die eigentlichen Grenzen nur im Kopf bestehen und es nur eines kleinen Lufthauchs bedarfs, um diese umzuwerfen. Wenn die Dämme brechen, ist alles erlaubt. Vielleicht befinden wir uns alle ständig auf der Flucht, auch wenn uns deswegen keiner als Flüchtling bezeichnen würde, "vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht, Flüchtende wir alle". Ein sehr poetisches Werk über einen Menschen und eine Welt im Ausnahmezustand.
Jürgen Weber
Originalbeitrag.
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