FRAU NACHBARIN
Tock, tock, tock hörte man den Stock der Frau Nachbarin, wenn sie die Treppen hochstieg, weil mal wieder der Lift ausgefallen war. Sie überholte die Einkaufsgüter schleppende Mutter mit Kleinkind, schimpfte über den Lift und marschierte in ihre Wohnung.
Frau Nachbarin ist 92 und nahezu taub. Früher war sie Klavierlehrerin. Vor einem Jahr hatte sie einen doppelten Schenkelhalsbruch, der ist jedoch inzwischen verheilt.
Eines Tages klopft jemand an der Tür der Mutter mit Kleinkind. Mutter öffnet. Es ist der Herr Professor. Sie kennt den Herrn Professor als langjährigen Freund und häufigen Gast der Frau Nachbarin. Er ist älter als die Frau Nachbarin und war Anwalt. Aufgeregt erklärt er, die Frau Nachbarin liege auf dem Boden, sie habe einen Schlaganfall erlitten, man müsse die Rettung verständigen, einen Notarzt holen. Die Mutter und die Hausmeisterin telefonieren. "Sie kommen gleich", sagt die Mutter. Der Herr Profeessor bittet, nicht zu erwähnen, daß er die Frau Nachbarin gefunden hat. "Wegen meiner Frau." Seit 28 Jahren ist er mit der Frau Nachbarin befreundet. Wovon seine Frau keine Ahnung hatte.
Die Frau Nachbarin wird von der Rettung ins Spital gebracht. Der Herr Professor besucht sie und bringt ihr Blumen.
(S. 125)
PARZELLE
Eine Parzelle befand sich im Besitz der Gemeinde, zwei Magistratsabteilungen beanspruchten allerdings deren Nutzung, was interne Verhandlungen nachhaltig verzögerte, da jede auf dem Recht des Stärkeren beharrte. Bloß keine Zugeständnisse machen, die vom Gegenspieler als Schwäche gedeutet werden könnten. Denn Macht ist Geilheit in der reinsten und zugleich moralischsten Form. Legal abgesegnet. Die Macht, dem anderen Ärgernisse zuzufügen, und die dadurch erlangte Befriedigung erspart den Besuch der strengen Kammer.
Derweil lag jenes Grundstück brach. Bis das Büro eines zivilen Vermessungsingenieurs als Richter bestellt wurde, ein minimaler Konsens, nachdem jegliche Einigung in ferne Zukunft entschwunden war. Mit sachlichen Argumenten ließen sich Planspiele rechtfertigen. Geodätisch vermessen, wurde eine Trennungslinie festgelegt. Das Büro des Zivilingenieurs erhielt sich davon eine Weile. Sein Bescheid schrieb fest: Es gab keinen Sieger und keinen Verlierer, hingegen zwei Teile. Eine Auseinandersetzung steckte Standpunkte ab, dämmte Machtansprüche ein und legte Grenzen fest. (S. 149)
© 1999, Bibliothek der Provinz, Weitra.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.