13.-22.1.2017 – Blumen aus Eis

13.1.2017

Wenn ich heute mit dem Schreiben in den Rechner weitermache, heißt das doch, dass ich das Gestrige stehen, also gelten lasse. Und dass ich das www für den richtigen Ort halte für das, was ich sagen will. Wo mir vielleicht jemand zuhört, ohne dass ich mit ihm leben muss.
Nicht sehr oft hört mir jemand anderer zu und antwortet. Meistens redet der Andere lieber selbst.
Dabei rede ich immer lieber selbst, als wollte ich die ersten vierzig Jahre nachholen. Mittlerweile höre ich mir immer lieber dabei zu.

Ich laufe nun schon ein paar Stunden davor dem Schreiben herum, als wäre da noch eine Hürde, die ich zu nehmen habe. Erst mit dem Hund um die Felder, der Wind war eiskalt, der Boden schon wieder gefroren, wo ich heute Nacht noch in strömendem Regen durch tiefe Pfützen gefahren bin. Dann habe ich ohne Handschuhe mehrmals Holz herübergeholt und umgestapelt, weil der Sturm an meinem Provisorium gerüttelt hat. Die Schmerzen habe ich erst gemerkt, als ich fertig war.
Dann hat Egon, das Tief, seinen Wind durch meinen Ofen ins Zimmer gedrückt, das Feuer ging aus, der Rauchmelder an. Dreimal hab ich lüften und neu anzünden müssen. Schließlich am Rechner angekommen, waren da Mails, solitaire und Kritiken des Films von gestern Abend: Die Blumen von gestern. Ein Film, für den ich mich bedanken möchte. Mein Freund Paul würde in so einem Fall an den Regisseur schreiben – und an Haenel und Eidinger. Zwischen dem Besuch bei Paul und dem Film ein kleines Essen mit Blick in die Karolinenstraße, wo in den Geschäften nacheinander das Licht ausging. Zuerst bei Ihrem Frischbäck, da wurde nebenan bei Tchibo noch geputzt, bei Müller und Pustet tat sich noch gar nichts, mein Film begann um acht.
Hinter und unter allem lief immer der Gedanke an den Text mit, anregend und beruhigend zugleich, als könnte ich nun viel mehr von meinem Leben in Sprache verwandeln. Das hat sich wie Sinn angefühlt.
Paul auf dem AB, dass ich den Kaffee vergessen habe, den wir gar nicht gebraucht haben, und dass unser Gespräch gut gewesen sei. Ja. Dann habe ich die Seite von gestern nochmal angeschaut und gelassen. Fand sie in Ordnung.

Ich habe einmal wieder den Gedanken bemüht, der mir mitgegeben wurde, als ich bei meinen Sprachkursen mit Flüchtlingen an meine Grenzen gekommen bin:
„Denken Sie: will ich heute Abend glücklich oder unglücklich sein?“ fragte die neurolinguistisch geschulte Therapeutin beim Verabschieden. ?!? Kein Witz? Ganz und gar nicht. Dieser Satz ist mittlerweile zu einem festen Baustein meiner Tage geworden, nachdem ich mir glücklich erst mal in zufrieden erleichtert habe. Mittlerweile wage ich sogar glücklich.
Für heute heißt das: wenn ich nicht weiterschreibe am Text, werde ich grübeln und grübeln und grübeln. Und bald den Fernseher anmachen, um das abzustellen. Und leer ins Bett gehen.
Stattdessen sollte ich mir Gedanken machen, wann ich welche Bilder zu den Texten gebe.

In meinem Auto stehen jetzt die alten Platten. Auch den Pumuckl hab ich mitgenommen und freu mich auf ihn.

alles fliegt
die Wolken fliegen
der Schnee fliegt
und die Sonne auch
sie lässt Sterne fallen
ganz viele
ganz kleine
ganz kurz

15.1.2017

Sundowner. Den hab ich in Ouagadougou mit dem So.B.Bra gelernt, dem leichten Bier in großen Flaschen, das man immer aus der Flasche trank, weil man den Gläsern nicht traute. Damit fing der Abend an, der um sechs Uhr stockfinster war. Man traf sich in einer kleinen Bar an der Straße, um später in einem Restaurant mit Korbstühlen und niedrigen Tischen im Sand unter Bougainvilleen – die mochte ich am liebsten – einen Fisch oder ein Hähnchen mit der Hand zu essen.

Nachdem ich mit dem Hund von unserem Gang um die Felder zurückgekommen bin, habe ich ein Bier aufgemacht, was ich vor Ouaga niemals getan habe. Und es ist wie immer: mit dem ersten Schluck bin ich in Ouaga. Auch wenn ich gerade überhaupt nicht an Afrika gedacht habe. Ich nehme den zweiten Schluck, immer noch Ouaga, beim dritten weniger, und dann ist es ein Bier. Und ein Bier ist ein Bier ist ein Bier und hat hundert Namen.

Natürlich waren 200 € zu wenig. Mamadou braucht nochmal 50. Und wovon leben sie dann? Übermorgen wird er sagen, dass er nichts mehr hat. Dann werden Strom und Wasser abgestellt.
Warum fragt er immer mich, er hatte doch so viele Klienten, die ihm immer wieder etwas geschickt haben. Ein viel raffinierteres Handy zum Beispiel als das, was ich mitgebracht habe. Und warum arbeitet seine Frau nicht, der ich ihren Prüfungskurs bezahlt habe. Warum kriegen sie im Krieg noch zwei Kinder. Die Liebe ist das Brot der Armen? Geht auch mit Kondom, die riesigen Plakatwände in Timbuktu sind nicht zu übersehen.

Ich kann nicht an den Blog gehen, ich überweise 100 €, muss die Nummer durchgeben, schiebe den Blog weiter hinaus hinaus mit Saubermachen, Platten sortieren, die ich im Ohr habe, aber nicht auflegen kann. Von wegen Pumuckl.
Bin wütend auf mich, weil ich weder ja noch nein sagen kann.
Ja! – ich will dir helfen und tue es gerne.
Oder: Nein! Soviel und nicht mehr. 200 €  sind zwei Lehrergehälter in Mali.
– Aber wenn ein Kind krank ist? Das kostet mehr, als ein Lehrer verdient.
Dazwischen bin ich eingeklemmt und so wütend, weil ich keinen Gedanken hinaus finde. Heute Abend…? Pustekuchen. Hilft heute nicht.

16.1.2017

Egon hat eine Kanzel umgeworfen. Warum stehen die anderen elf Kanzeln noch?
Montag. Ob für meinen Text das Gleiche gilt wie für meine Baustellen?
Als ich das Haus meines Vaters nach seinem Tod renovierte, habe ich gelernt, dass ich am Montag keine Entscheidungen fällen darf, weil ich immer wieder sehen musste, wie ich Montagsentscheidungen am Dienstag widerrufen, korrigieren oder ganz fallen lassen musste. Dann habe ich mir solche verboten. Auch wenn es mir manchmal schwerfiel, habe ich gebremst und gesagt: kann warten. Morgen.
Also: auch keine Worte am Montag.

17.1.2017

aus heiterem Himmel
fällt Schnee

 vor der Sonne
fliegen Sterne

so viele
wie sie leuchten
über der Sahara

Ja. Das möchte ich noch einmal leben.
Nicht nur, wenn ich Schnee glitzern oder Tautropfen glänzen sehe.

Hier erzählen heute meine Eisblumen ein Märchen.

© H. Tarnowski

19.1.2017

Wie gerufen hat mir diese Nacht einen afrikanischen Himmel geschenkt, als sie den Mond hinter meinem vereisten Fenster aufziehen ließ.
Ja – so dicht müssen sie sein, die Sterne über mir zwischen Schlafen und Schlafen.
In Segoukouro hatte ich meine Matte ans Ufer des Niger gelegt. Wüste, Wasser, Himmel – meine Nacht.
Als ich meinen Schlafsack herausholte und hineinkriechen wollte, standen ein paar Kinder um mich herum und schüttelten heftig ihre Köpfe. Sie waren offensichtlich nicht einverstanden mit dem, was ich da machte. Dann liefen sie weg und kamen nach wenigen Minuten – das Dorf ist ganz nah – wieder  und hatten eine Schaumstoffmatte dabei. 1×2 Meter, etwa 6 cm dick und ziemlich weich. Darauf sollte ich mich legen, es sei besser für mich. Eine – ziemlich alte – Weiße auf so einer kleinen Matte, nein, unmöglich! So habe ich dann gemacht, was die Kinder wollten, und kam dabei der Erde sicher näher als auf der Luft meiner komfortablen, sich selbst aufblasenden Isomatte. Die Kinder habe ich nicht mehr gesehen. Bei Sonnenaufgang bin ich am Fluss entlang gegangen, wie ich es ich immer gern getan habe in dieser Zeit, wo es noch kühl ist. Es muss im Januar gewesen sein, wie so oft, wenn ich nach Mali kam. Als ich zu meinen Sachen zurückkam, lag mein Rucksack einsam da. Die Matratze war verschwunden. So war es dann jeden Tag in Segoukoro.

Auch heute möchte ich die Blumen der Nacht festhalten. Für die Feinmotorik kann ich keine Handschuhe anziehen, die sind größer als die Kamera. Habe mich gefragt, wie lange es eigentlich weh tut, wenn man sich die Finger abfriert.

22.1.2017

Die Kälte will mir die Nasenspitze abbeißen. Dieses Gefühl kenne ich noch gar nicht.
Mein Bademantel war zu einem Eiszapfen gefroren, als ich aus der Sauna kam. Man hatte die Tür zum Vorraum offen gelassen bei -15 Grad. Und ich hatte mich nicht abgetrocknet wie sonst, weil ich die Lautsprecheransage hörte – Auto mit dem Kennzeichen Heinrich Theodor – ich sag Ha Te, und dann mein Geburtstag. Zweimal. Da bin ich schon aus dem Wasser. Hab ich das Licht brennen lassen? – frage ich den Bademeister am Mikrofon. Er schüttelt den Kopf: Die Tür steht sperrangelweit offen. Ob ich den Zündschlüssel habe? Ich hole ihn, er nimmt seinen Anorak und geht.
Was habe ich mir da nur gedacht? Mit meinem Auto Schnauze an Schnauze, hat eine Frau ihren BMW abgestellt und ist ausgestiegen, ohne das Licht auszumachen. Ich sage: Ihr Licht brennt noch, und komme mir werweißwie schlau vor.
Das geht von selber aus, aber danke, sagt die BMW-Fahrerin.
Das gibt’s?!? Da kann man es ja nie mehr vergessen! Ich sehe, wie die Lichter langsam ausgehen. Denke daran, wie oft ich überbrückt habe, wenn es ging. Bis es nicht mehr ging nach drei Tagen auf einem Parkplatz an der Nebelhornbahn, wo ich oben auf der Hütte zum Skifahren war, tiefentladen. Da braucht der ADAC zwei Stunden, bis so ein Auto wieder kann. Nicht so mit einem Auto wie diesem.

Der Bademeister kommt zurück. Ich will noch wissen, welche Tür es war: die Fahrertür oder die Schiebetür? Die Schiebetür. Ich nicke. Das passiert mir öfter, sag ich, und danke, dass Sie meine Batterie gerettet haben.
Warum hab ich das gesagt? Um zu zeigen, wie arm, weil blöd ich bin? Der weiß ja nicht, wie das bei mir ist, wenn ich auslade und mit schwerem Gewicht in den Armen und vor dem Bauch die Dinge wegschleppe, absetze, um das Haus aufzuschließen, und dann gleich verräume. Wenn ich damit fertig bin, habe ich das Auto, das ich vom Haus aus nicht sehen kann, natürlich längst vergessen.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de