8.-13.8.2017 – Sand in den Augen
8.8.2017
Gestern ist der Schatten der Erde auf den kugelrunden Mond gefallen.
9.8.2017
Mancher Tag rutscht bei der Wahl zwischen analogem und digitalem Tagebuch durch. Wenn ich mich frage: kannst du – digital – alles hineinschreiben? Musst du alles hineinschreiben? – habe ich keine Antwort. Das war’s dann für diesen Tag.
Heute will ich es anders. Auch wenn es gefährlich werden kann. Weil es doch um Liebe geht – oder was ich dafür halte.
Dieses Gefühl, das manchmal in Finnland um mich war, wo ich dachte: das sind die Finnen!
Und jetzt ist mir das hier auch passiert. Afrikanische Freunde sind zu mir gekommen und es wurde ein wunderschöner Abend mit ungetrübter Mondfinsternis. Da war das gleiche Gefühl in der Luft. Und ich habe vorsichtig einen neuen Gedanken ausprobiert: vielleicht hat das ja auch etwas mit mir zu tun? Ganz neue Frage. Ich werde sie beobachten. Aber ich weiß ja, dass die Antwort immer schon da ist, wenn ich eine Frage stellen kann.
Weil mein afrikanischer Besuch aus Westafrika kommt, kennt er die Preise für ein Schaf und einen Sack Reis. Mamadou hat mehr als das Doppelte gerechnet.
Ich habe es ja gewusst. Habe mir schon einmal alle Preise aufgeschrieben. Weil ich mein Vertrauen retten wollte, habe ich mitgemacht.
Jetzt kann ich es nicht mehr retten. Muss auch nicht. Es ist traurig, aber besser. Nein zu solchen Rechnungen: 100 € für ein Schaf, das 40-60 € kostet.
Wo aber fängt ein Nein an und wo hört es auf.
Heute schicke ich Mamadou ins Internet. Er will von mir wissen, was ein Geländewagen in Belgien oder Deutschland kostet. Mit Transport könne man Geld verdienen. Kann schon sein – aber warum schaut er nicht selbst ins Internet? Nur er kann wissen, was er braucht. Das schreibe ich ihm. Und dass er sich bei den Geldgebern, die ich suchen soll, mit seinem Projekt selbst vorstellen muss, wenn er Erfolg haben will, z.B. Oikocredit.
10.8.2017
Wenn es nachts regnet, strebt die Weinbergschnecke auf die Haustür zu.
Fledermäuse vor dem Fenster flattern hin und her und das immerzu. In Togo, mitten in Lome, hingen sie den ganzen Tag wie vertrocknete Früchte in den riesigen Platanen. Kurz vor dem Dunkelwerden ließen sie sich fallen und jagten nach Insekten, am liebsten dort, wo es Wasser gab.
11.8.2017
Es dauert oft sehr lange, bis ich akzeptiere: du hast dich getäuscht. Als gäbe es ein Recht auf Vertrauen, auf dem ich trotzig bestehe.
Ich habe den Verdacht, dass ich mich geradezu anbiete zum Vertrauensmissbrauch.
Dass mir jetzt wohler ist, nachdem ich nein gesagt habe, ist fast nicht erlaubt.
Gibt es da doch diesen Satz in mir: Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut gemacht hast. (geklaut)
Den habe ich meiner Großen in ihr Poesiealbum geschrieben, als sie gerade ihr Meerschweinchen bekommen hatte.
12.8.2017
Ich kann vor keinem Wasser, keinem Fluss, keinem See, keinem Meer stehen, ohne dass es mich hineinzieht. Ich steige in jedes Wasser und bin mit allen Wassern gewaschen. Denk ich.
Und nehme das Telefon nicht an, als ich eine ungewohnte, mir aber bekannte Mali-Nummer sehe: 55 am Ende. Mano.
Mamadous Reichtum wird sich in Timbuktu herumgesprochen haben. Jeder weiß, wo er herkommt. Viele kennen mich aus den Zeiten, wo ich auf dem Dach von Mamadous Haus geschlafen habe. Und wo Geld ist, kann auch mehr Geld sein.
Nein, ich will nichts hören, nehme nicht ab. Es ist noch zu früh.
Dabei denke ich selbst wieder an die Schule, seit ich mir vorgenommen habe, Mamadou nur noch soviel wie ein Lehrergehalt zu schicken.
Idrissa hat für Mano gearbeitet, als es noch Arbeit gab. Von ihm bekam er die Kamele, die er für die Touristen brauchte. Er ist ein „reicher“ Tuareg – sagt Idrissa, Oberklasse. Und er ist der Präsident einer Tuareg-Association in der Region Timbuktu.
Diese kümmert sich um das Bohren von Brunnen, wo einer nach dem anderen versiegt, und hat für die Kinder von Techeq, einem Dorf aus weiträumig verteilten Zelten, vor fast zehn Jahren eine Schule gebaut mit allem, was dazu gehört: Lehrer, Bücher, Essen.
Damals habe ich für die Schule gesammelt und selbst das Lehrergehalt übernommen.
Ich kann das Mädchen auf dem großen Schiff von Segou nach Gao nicht vergessen, das bei seiner Großmutter auf der Matte saß und sich nur weg bewegte, um mit ihr zur Toilette zu gehen. Mich ließ sie nicht aus den Augen. Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und so voller Neugier, dass ich sie fühlen konnte. Ihre lebendigen Augen wollten alles sehen, was ich hatte, was ich machte, was ich aß, was ich las.
Diese Kinder: sie sollen doch nicht schon verloren haben, nur weil sie mit Sand in den Augen geboren sind (Mano Dayak).
Idrissa war nicht dazu zu bewegen, seine Tochter in die Schule zu schicken. Die sei zu weit weg. Fatouma soll der Mutter helfen, Holz sammeln, Feuer machen, Hirse stampfen, das kann sie schon mit ihren fünf Jahren. Und jetzt sagt er, sie werde bald heiraten. Sie ist vielleicht 10 Jahre alt.
Dann kam der große Regen, der auch den mehrstöckigen Lehmhäusern in Timbuktu den Boden unter den Füßen weggezogen und die Mauern aufgeweicht hat. So war es auch bei der Schule. Man baute sie wieder auf. Als ich im nächsten Jahr kam, war alles wie neu.

Was dann passiert ist, habe ich nicht mehr gesehen: die Islamisten haben Timbuktu übernommen und so weit sie konnten zerstört. Das ganze Dorf ist nach Burkina Faso geflohen, die nächsten Anrufe von Jiddou kamen aus Ouagadougou. Er sprach davon, dass sie zurückkehren wollten, wenn es möglich war. Aber auch gefährlich, denn für manche Tuareg galten sie als Verräter und mussten fürchten, umgebracht zu werden.
Bis 2014 habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Sie sind wieder nach Techeq gegangen, und im Oktober bekam ich den Brief mit dem Plan für eine neue Schule, die brauchte nun wieder alles.
Ich war gerade dabei, Mamadous Internetcafe einzurichten (das hieß auch so wie ich) und konnte mir nichts anderes vornehmen.
Jetzt sind wir einen Schritt weiter.
Ich werde Jiddou anrufen, wenn Tabaski vorbei ist. Es ist gerade die hitzefreie Zeit, die von Juni bis Oktober dauert.
13.8.2017
was sich bewegt
in meinem Bild
ist der Ast
den die Amsel verlässt
Der Regen hat mich wachgesprüht, so früh, viel zu früh, kurz nach fünf. Meine Tochter würde es „senile Bettflucht“ nennen, wenn mein Tag so früh anfängt.
1961 war der Dreizehnte auch ein Sonntag. Ich war mit meiner Ferienfamilie auf Sylt, das letzte Mal, ein Jahr später würde ich mein Abi gemacht haben.
Als die Nachricht vom Bau der Mauer kam, wusste ich ein paar Tage lang nicht, ob ich nach Hause fahren sollte, weil die Familie zusammenbleiben muss, wenn Krieg ist. So nah war er mir noch nie, seit ich mich erinnern kann. Berlin. Kuba.
Wie heute wieder einmal. Trump und Korea. Und wir bleiben, wo wir sind.
Gestern Abend kam Aida aus Salzburg. Ägypten – Äthiopien. Wo es einmal wunderschön gewesen sein soll. Aber der Krieg.
Krieg – Liebe – Krieg – Tod. Aida und Radames werden lebendig begraben, und es ist wie ein Glück. Die Netrebko verbeugt sich barfüßig und strahlend.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de