![]() |
![]() | ||||||||
Ausschnitt aus LA SERENISSIMA von Ascan von Bargen
PAX TIBI MARCE EVANGELISTA MEUS PROLOG Ospedale della Pietà, Venedig Februar 1703 Ein gellender Schrei zerriss die Stille der Nacht! Aliena stürzte aus ihrer Kammer auf die lange Galerie, vermochte es wie durch ein Wunder das Gleichgewicht nicht vollends zu verlieren und rannte in blinder Panik davon. Ihr Herz raste und ihr Atem ging heftig und stoßweise. Sie spürte die Kälte der Steinplatten unter ihren nackten Fußsohlen, und in ihrem Unterbewusstein nahm sie die klatschenden, unheimlich von den Wänden widerhallenden Laute wahr, die sie in der Dunkelheit hervorriefen. Doch sie verschwendete keinen einzigen Gedanken daran. Wahnsinnig vor Angst, wollte sie nur noch eines: Weg! Nichts, wie weg von hier! An manchen Tagen war ihr das wuchtige Klostergemäuer, in dem das Waisenhaus untergebracht war, wie das größte Gebäude der Welt vorgekommen. Aber jetzt, mitten in der Nacht, eingehüllt in undurchdringliche Schwärze, fühlte sich Aliena wie in einem beklemmenden Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Eine todbringende Kerkerzelle, deren Wände von allen Seiten unablässig näher auf sie zurückten, um sie erbarmungslos zu zermalmen. Das Gefühl wachsender Beklemmung drohte sie zu überwältigen, als ihr klar wurde, dass ihr Fluchtversuch ein ebenso hoffnungs- wie zweckloser Verzweiflungsakt war. Sie würden sie bekommen. So oder so. Es war nur noch eine Frage der Zeit ... Todesangst schoss wie eine weißglühende Feuerlohe in ihr auf, als sie die Schritte und Stimmen ihrer Verfolger wieder hinter sich vernahm. Mit weitaufgerissenen Augen warf sie einen Blick zurück über die Schulter. Blutroter Fackelschein illuminierte hinter ihr die Finsternis und erweckte furchteinflößende Schatten zu groteskem Leben. Ihre Verfolger kamen näher. Unerbittlich. Schritt für Schritt. Die schweren Ledermäntel der Männer flatterten bedrohlich und erinnerten an den Flügelschlag mordlüsterner Kreaturen. Sie werden nicht zulassen, dass ihr am strengsten gehütetes Geheimnis jemals diesen Mauern entrissen wird! In Sekundenschnelle überschlug Aliena die wenigen Möglichkeiten, die ihr jetzt noch blieben. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie wusste, dass es an schieren Selbstmord grenzte, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Dennoch war alles besser, als ihnen in die Hände zu fallen, nach allem, was geschehen war. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, zu welcher Brutalität diese Männer fähig waren. Aliena warf sich herum, stürmte nach links; dorthin, wo sich das Labyrinth der Gänge vor ihr teilte, und lief so schnell sie nur konnte. Das knöchellange Nachthemd machte es so gut wie unmöglich, zu weiten Schritten auszuholen. Kurzerhand raffte sie es bis über die Hüften und beschleunigte ihren Anlauf nochmals. Abgesehen davon, dass es um sie herum stockfinster war und die übrigen Waisenmädchen tief und fest schliefen, hatte sie im Augenblick wahrhaft andere Sorgen, als auf ihr anerzogenes Schamgefühl Rücksicht zu nehmen. Dann sah sie es. Ein silbrig glänzendes Quadrat am Ende des Gangs, das mit jedem ihrer Schritte in Höhe und Breite zu wachsen schien. Fahles Mondlicht strömte durch das Fenster und erhellte den schmalen Korridor spärlich. Aliena wusste, dass dies ihre einzige und zugleich ihre letzte Chance sein würde, dem Zugriff der wutschnaubenden Häscher zu entkommen, die sich an ihre Fersen geheftet hatten und nicht eher von ihr ablassen würden, ehe sie tot in ihrem Blut lag. »Bleib stehen, elender Wechselbalg!« Der Rote Priester! Er ist der Einzige, der mir jetzt noch helfen kann! Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, als sie ein letztes Mal ihr Tempo erhöhte. Wenn sie jetzt in der Dunkelheit über ein Hindernis stolperte und das Gleichgewicht verlor, würde alles umsonst gewesen sein ... »Bleib gefälligst stehen, Satansbrut!« Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Aliena hielt unwillkürlich den Atem an und kniff die Augen fest zusammen. Bilder jagten vor ihrem inneren Auge: Das Fenster lag im zweiten Stock. Bis zum Hof hinab waren es gut drei Meter. Sie machte sich besser auf Schmerzen gefasst. Auf unbeschreibliche Schmerzen und zerberstende Knochen. Alienas Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, stieß sie sich ab und schrie. Dann prallte ihr Körper mit voller Wucht gegen das Fenster, das unter ihrem Gewicht mit ohrenbetäubendem Lärm auseinanderbarst und Aliena stürzte inmitten eines Hagels rasiermesserscharfer Diamantsplitter ins Leere! ![]() Der Aufprall erfolgte mit dermaßen brachialer Urgewalt, dass Aliena ihm nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte. Sie stürzte auf den Rücken, und der Schlag, mit dem ihr Sturz abrupt gestoppt wurde, stauchte ihr sämtliche Knochen im Leib zusammen, presste ihr mit aller Macht die Luft aus den Lungen. Sekundenlang sah Aliena bloß bunte Blitze vor ihren Augen und glaubte, jemand dresche unablässig auf ihren Schädel ein, um ihn endgültig zu zerschmettern. Sie war außerstande, Atem zu schöpfen, geschweige denn, sich zu rühren. Reglos und halb nackt lag sie inmitten des Kreuzgangs dem Innenhof der altehrwürdigen Klosteranlage. Erst jetzt urplötzlich - erwachte der wirkliche Schmerz und griff in rasender Wut auf ihren Körper über, wie ein blutrünstiges Raubtier, das seine Krallen erbarmungslos in das zuckende Fleisch seiner Beute schlug. Aliena hatte zwar im letzten Moment noch versucht, die schlimmsten Folgen ihres selbstmörderischen Fenstersturzes abzuwenden, den Kopf so weit wie möglich einzuziehen und ihn mit beiden Armen so gut es ging zu schützen, aber das hatte nicht genügt. Bei weitem nicht. Gleich einem alles vernichtenden Schwarm Insektenstachel jagten die Schmerzimpulse durch ihre Nervenbahnen. Aliena bäumte sich wie unter Fieberkrämpfen auf. Sie wollte all ihre Qual aus sich herausschreien, bekam aber noch immer keine Luft und erzitterte in grotesken Verrenkungen; den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Speichelfäden zogen sich vom Gaumen bis zur Zunge, und Alienas Gesicht hatte sich vor Pein zu einer grässlichen Fratze verzerrt. Sie blutete aus zahllosen Schnitt- und Schürfwunden und ihre linke Schulter war eine einzige, pulsierende Hölle. Holzsplitter und Glasscherben hatten sich tief in ihr Fleisch gebohrt und ihr die Haut zerfetzt. Die langen Haare klebten ihr in wirren Strähnen im Gesicht. Jäh sog Aliena die kalte Nachtluft in sich hinein, krallte ihre Finger in die kalte Erde und spürte, wie ihr Körper erneut anfing zu zittern. Rotes Blut quoll ihr aus der Nase, von den Lippen ... doch die Nacht um sie herum war erfüllt von einem fluoreszierenden Weiß. Hätte die Welt nicht eigentlich pechschwarz sein müssen? Dann dämmerte es Aliena langsam, weshalb sie überhaupt noch am Leben war: Der Schnee. In den vergangenen Tagen hatte es so stark geschneit, wie schon seit Jahren nicht mehr. Das hatte ihren Sturz abgefangen und den Aufprall ein wenig gemildert. Welche Ironie. Ausgerechnet der Schnee ... Hoch genug lag die weiße Pracht, dass Aliena nicht mit ungebremster Wucht auf die Granitplatten aufgeschlagen war, mit denen man den Kreuzgang des Ospedale della Pietà ausgelegt hatte. Das »Hospital der Barmherzigkeit« ... Aliena hätte bei diesem Gedanken beinahe bitter aufgelacht, wenn sie nur gekonnt hätte. Barmherzigkeit! Das Geheimnis! Ich muss es von hier fortschaffen! Um jeden Preis! Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte, kämpfte sie sich auf alle viere, versuchte sich zu orientieren und die in ihr aufsteigende Übelkeit niederzuringen. Heftiger Schwindel erfasste sie und versetzte ihre Umgebung scheinbar in taumelnde Bewegung. Um sich herum sah sie verschwommen die Arkaden der Wandelgänge, die das Quadrat des Innenhofs nach allen Seiten hin abschlossen. Hinter ihr befand sich der eingefrorene Springbrunnen, der die Mitte des weitläufigen Gevierts markierte. Wohin sollte sie sich wenden? In welche Richtung fliehen, um nicht ihren Verfolgern geradewegs in die Arme zu laufen? Schlagartig, kaum dass sie den Gedanken zu Ende geführt hatte, nahm Aliena etwas wahr, was sie an diesem Ort und zu dieser Stunde am allerwenigsten erwartet hätte: Unvermittelt wehte von irgendwoher der Gesang einer einsamen Violine durch die Nacht. Voller Melancholie und erschütternden Emotionen. Noten ... Töne ... Ein Adagio von unsagbarer Intensität, das wie ein weithin sichtbares Leuchtfeuer in der Dunkelheit erglühte. Die Musik verlieh ihr neue Kraft, wirkte auf sie wie ein elektrisierendes Lebenselixier. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Der Rote Priester!, schoss es Aliena erneut durch den Kopf. Bei ihm ist das Geheimnis sicher aufgehoben. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie bereits gewonnen oder verloren hatte. Aber sie wusste, dass sie auf keinen Fall mit dem Leben davonkommen würde, sobald die Häscher der Inquisition sie erst einmal gestellt hätten. So mobilisierte sie noch einmal all ihre Willenskraft, ihr Vertrauen, all ihre Hoffnung und Liebe, und auch den kläglichen Rest ihrer körperlichen Reserven und richtete sich auf. Gegen die Mächte des Schicksals, gegen den Schmerz und alle Widrigkeiten. Es gab eine letzte Hoffnung. Denn wenn es jetzt noch einen einzigen Menschen auf der Welt gab, dem sie wirklich vertrauen konnte, dann war das der Rote Priester. Und auf einmal wusste Aliena, wie sie ihn finden konnte. Alles, was sie tun musste, war, der magischen Melodie seiner Violine zu folgen. Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verlieren, setzte sich das Mädchen schwankend in Bewegung, taumelte in die Richtung, aus der die Musik erklang, verlockend wie der Gesang einer betörenden Sirene. Alienas Körper war nur noch ein einziger lodernder Schmerz, und ihr Blut tropfte in langgezogenen Tränen auf die schneebedeckte Erde. Geschmolzene Rubine, die den Schnee augenblicklich rot färbten. * Weitere Leseproben[Zurück zum Buch] |
| ||||||||
Home |
Impressum |
News-Archiv |
RSS-Feeds ![]() ![]() Copyright © 2007 - 2018 literra.info |