Leseprobe 2
»Hilfe! Hilfe! Bitte. Hi
!« Arthurs Schreie wurden von seinem Schluchzen erstickt. Unkontrolliert wimmernd sackte sein Kinn auf die Brust. Seit einer Ewigkeit brüllte er, so laut er konnte, doch die einzige Antwort war das Echo seiner immer rauer und verzweifelter klingenden Stimme.
Nein, es war mehr als nur ein Echo. Der tiefe Schacht verzerrte seine Rufe und warf etwas anderes zu ihm zurück. Ein unheilvolles Lachen schien in jedem Laut nachzuschwingen. Als wäre der Brunnen ein Schlund, der ihn verschluckt hatte und sich jetzt darüber amüsierte. Arthur hatte erbärmliche Angst, doch er riss sich tapfer zusammen. Er musste nur weiter rufen. Irgendwann würde man ihn finden.
Leider glaubte er sich kein Wort. Irgendwie musste er hinausklettern. Er hatte es bereits versucht, aber er konnte kaum aufstehen. Sein rechtes Bein trug ihn nicht mehr.
Mittlerweile färbte sich der Himmel über dem Brunnen in den Farben des Sonnenuntergangs. Bald würde es stockdunkel sein. Arthur versuchte sich einzureden, dass das keinen Unterschied machen würde. Schließlich lag der Grund des Brunnenschachtes auch bei helllichtem Tag in brütender Dunkelheit.
Wie ein Grab.
Der Gedanke legte sich wie eine eisige Klammer um seine Brust. Er würde hier unten sterben. Warum konnte er nicht ein einziges Mal tun, was man ihm sagte? Überall hätte er spielen dürfen, nur das Betreten des kleinen Privatwaldes hatte Tante Linda ihm verboten. Er hatte es ihr in die Hand versprochen! Also würde man hier zuallerletzt nach ihm suchen.
Es geschah ihm recht. Er hatte sein Versprechen gebrochen und musste jetzt die Konsequenzen akzeptieren. Dabei war er so stolz gewesen. Obwohl er gerade erst neun Jahre alt geworden war, hatte Tante Linda ihn bedeutungsvoll um sein Wort gebeten. Wie einen Erwachsenen. Einen Ehrenmann. Auf sein Wort hin hatte man ihm erlaubt, ohne jede Aufsicht durch die weiten Ländereien seiner Tante zu streifen.
»Das Wort eines Ehrenmannes ist wie Stahl. Es ist stärker als jede Kette und schärfer als das schärfste Schwert. Das Wort eines gewöhnlichen Mannes ist wie Fett. Es dient dazu, ihn wie eine Schnecke reibungslos durchs Leben zu bringen.«
Zum ersten Mal ergaben die ewigen Vorträge seines Vaters wirklich einen Sinn. Es war viel zu leicht, sein Wort zu geben und es einfach nicht zu halten. Außerdem war es niederträchtig und respektlos Tante Linda gegenüber. Er wollte keine Schnecke sein.
Sein Ekel vor sich selbst drängte für mehrere Herzschläge sogar die Furcht in den Hintergrund. Sein Körper nutzte die Gelegenheit, ihn mit der Meldung diverser Blessuren zu überfallen. Bei seinem Sturz war er mehrfach gegen die Wände des Schachtes geschlagen und hatte sich die Kleidung zerfetzt. Außer ein paar Schürfwunden und einem dumpfen Schmerz im rechten Bein schien er sich aber keine ernste Verletzung zugezogen zu haben.
Also konnte der Schacht nicht so tief sein, wie es zunächst wirkte. Vielleicht war es möglich, wieder hinauszuklettern? Er musste es wenigstens versuchen, statt wie ein Jammerlappen aufzugeben und am Grund dieses Schachtes zu verhungern. Und er musste es tun, bevor sich die letzten Strahlen der Sonne auch aus dem oberen Teil des Brunnens zurückgezogen hatten.
Umständlich zog er sich an der Wand hoch. Noch immer wollte ihn sein schmerzendes Bein nicht tragen. Ängstlich betastete er seinen Knöchel. Er konnte den Fuß bewegen. Das war sicher ein gutes Zeichen. Seine Finger berührten etwas Merkwürdiges, das neben seinem Fuß lag. Es war glatt und rund. Fühlte sich fast wie Holz an. Ganz ähnlich wie die Schwimmsperren, die er aus dem Kurbad kannte. Als er das Objekt aufnahm, wurde ihm sein Irrtum augenblicklich bewusst. Das war kein Holz. Holzkugeln hatten vielleicht Vertiefungen, die man mit Augenhöhlen verwechseln konnte, aber sicher keine Zähne! Er hielt einen menschlichen Schädel in den Händen.
Mit einem Aufschrei ließ er den Kopf fallen und fuhr zurück. Blind stolperte er über eine Art Balken und krachte mit der Schulter voran gegen etwas Weiches, Knirschendes. Wieder wollte er sich entsetzt zurückwerfen, doch als er sich von dem weichen Etwas abstoßen wollte, drangen seine Hände in eine schmierige Masse. Die Panik machte jeden klaren Gedanken zunichte. Er schlug wild um sich und verlor den Halt. Ohne jede Orientierung durchschlug er morsches, stinkendes Holz, stolperte mehrere Stufen hinunter und fiel flach aufs Gesicht. Benommen blieb er liegen.
Brunnen hatten keine Treppenhäuser, stellte der Teil von ihm fest, der nicht mit abklingender Panik oder Schmerzen beschäftigt war. Ihm fiel eine Geschichte ein, die seine Mutter ihm einmal vorgelesen hatte. Sie hatte von einem kleinen Jungen gehandelt, der trotz der Ermahnungen seiner Eltern in eine Pfütze gesprungen war und sich plötzlich in einer Märchenwelt wiedergefunden hatte. War das hier etwas Ähnliches? So ein Quatsch. Er war neun, nicht vier. Aber wie kam eine Tür an den Grund eines Brunnenschachts? Noch dazu mit nach unten führenden Treppen? Verwirrt rappelte er sich auf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
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