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Leseprobe 1
Sie stieg aus dem Auto und schickte dabei, so wie jedes Mal beim Aussteigen, ein Stoßgebet gen Himmel, dass der alte Jeep-Wrangler noch lange durchhielt.
Hinter den Gardinen brannte Licht. Es war halb elf und Ben schlief sicher längst.
Freunde. Mehr nicht. Wie ein Mantra betete sie sich die Worte unaufhörlich vor. Gray hatte seine große Liebe gehabt, seine Seelenverwandte bereits gefunden. Und verloren. Zwei gab es nicht.
Charlotte schnitt eine verzweifelte Grimasse, als sie leise die Tür öffnete. Sie warf Parka, Schal und Mütze auf die Kommode und stellte fest, dass sich ihre Herzfrequenz explosionsartig erhöhte, als sie den Flur entlangschlich. Herrgott, was war nur los mit ihr? Was hatte das Freundschaftsgleichgewicht zum Kippen gebracht? Nach so langer Zeit? Sie sah schon, wie Betty sich gerade freudestrahlend die Hände rieb und sich morgen mit Lizzie in Bens Zimmer verkriechen und hinter ihrem Rücken eine Hochzeit planen würde. Wahrscheinlich trank sie gerade ein Gläschen Sekt auf sie beide. Mein Gott, war ihr schlecht. Hoffentlich mischte Lizzie sich nicht gleich wieder ein.
Sie reckte das Kinn in die Höhe und betrat das Wohnzimmer. Gray saß auf dem Sofa, die Füße auf dem Tisch, in ein Buch vertieft. Im Hintergrund brummte Bruce Springsteen Santa Claus Is Coming To Town.
Charlotte blinzelte verwirrt. War ihr je zuvor aufgefallen, dass seine Lippen leicht geöffnet waren, wenn er las? Sie schluckte, drückte den Rücken durch und atmete tief ein.
Hi, Gray! Mist, zu forsch. Sie räusperte sich. Ben schläft?
Er klappte das Buch zu, legte es auf die Lehne und nahm die Füße vom Tisch. Ein herzliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ein Freundschaftslächeln. Vielleicht hatte sie sich ja alles bloß eingebildet.
Hallo, Charly! Ja, Ben schläft. Nachdem er
wir stundenlang mit Lizzie gequatscht haben. Seine Augen glänzten. Was für ein Geschenk. Es tut ihm gut, mit ihr zu reden. Er hielt inne. Und mir auch, fügte er leise hinzu. War es voll im Diner?
Sie nickte, lief in die Küche und füllte zwei Weingläser mit Wasser. Kein Rum, kein Wein, kein Bier. Sie brauchte einen klaren Kopf.
Ja, ziemlich. Sie stellte die Gläser auf den Tisch und ließ sich neben ihn auf die Couch sinken. Ich habe Betty von Lizzie erzählt. Sie will morgen vor der Arbeit hier vorbeischauen. Unsicher hob sie den Blick. Ihr stockte der Atem. Das hatte sie nicht erwartet. Ein Gefühl, zart wie ein Schmetterlingsflügelschlag, so schön, dass es wehtat. Die kupferbraunen Augen entzündeten ein Feuer in ihr, auf das sie nicht vorbereitet gewesen war.
Vanessas zartes Gesicht schob sich zwischen sie. Die Flamme erlosch. Zurück blieben Leere und Kälte.
Charlotte rutschte zur Seite und stand auf. Nein. So ging das nicht.
Gray, du solltest jetzt gehen. Bitte. Sie hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Gut anders war kompliziert, tat weh und sie hatte wirklich genug Sorgen.
Wir sehen uns morgen? Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Ob er Vanessa auch sah, wenn er sie anschaute?
Gray runzelte die Stirn, stemmte sich hoch und griff nach ihrer Hand. Charly
. Sein Blick wurde weich.
Verdammt. Das Beste wäre gewesen, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Stattdessen schloss sie die Augen und wartete. Starke Arme zogen sie an einen kräftigen Körper. Wie von selbst schoben sich ihre Finger in seine Haare. Wie von selbst öffneten sich ihre Lippen seinem Kuss.
Geschmacksexplosion! Würziges Rum Aroma, süße Schokolade, Honig, Vanille, exotisches Obst
Himmel! Gray schmeckte berauschend. Und er war ihr Freund! Eine Freundschaft, die sie gerade mit einem Kuss zerstörten. Ruckartig entzog sie sich ihm und stolperte rückwärts.
Geh, Gray, keuchte sie. Geh.
Ein leises Zittern rauschte durch seinen Körper, bevor er erstarrte. Es
es tut mir leid. Wortlos drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Sie hörte, wie sich die Haustür öffnete und schloss. Dann war es still.
Keuchend lehnte sie sich gegen die kalte Wand und wartete auf Tränen, die nicht rollen wollten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Niemals. Niemals würde es wieder so wie vorher sein. Wie sehr wünschte sie sich den alten Gray zurück. Den mit den tröstenden Schultern, die immer für sie da waren. An denen sie sich ausheulen konnte, ohne einen Kuss zu riskieren. Charlotte unterdrückte ein Schluchzen und lauschte in die Stille. Ob er schon weg war?
Halt! Stehenbleiben! Seine Stimme vor der Tür. Drohend. Drängend. Laut.
Etwas stimmte nicht. Charlotte sprang in die Winterstiefel, riss die Tür auf und hastete die Verandatreppen hinunter.
Bleib stehen, verdammt noch mal. Grays Silhouette hob sich deutlich gegen Mond- und Straßenlaternenlicht ab, verfolgte eine Gestalt, die vor ihm die Einfahrt hinunterrutschte, die Straße erreichte und mit der Dunkelheit verschmolz. Laut fluchend hob er den Arm, rutschte aus und landete auf dem schneebedeckten Asphalt. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm.
Gray. Sie beugte sich über ihn und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Alles in Ordnung?
Bin noch ganz. Er griff nach ihrer Hand, ließ sich hochziehen und rieb sich grinsend den Ellbogen. Jemand hat etwas Riesiges in deinen Garten geworfen
Er hielt inne, erinnerte sich offenbar an den Kuss und trat zur Seite. Das Grinsen verschwand. Mit dem Kopf deutete er auf den schneebedeckten Rasen. Dort. Hast du einen Stalker, Charly?
Die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Wer warf etwas vor ihr Haus? Der Dieb vielleicht? Ihre Handtasche? Das Geld? Nein, was dort im Schnee lag war groß und unförmig. Kaum zu glauben, dass ihr das nicht aufgefallen war, als sie Gray zur Hilfe geeilt war.
Kannst du das Verandalicht anknipsen? Dann ist es nicht ganz so dunkel. Er stapfte bereits durch den Schnee auf das Ding zu.
In Ordnung. Mit wenigen Schritten war sie zurück im Haus. Kalt. Furchtbar kalt. Ihre Finger bebten, als sie den Schalter für das Licht neben der Haustür im Flur umlegte.
Tief durchatmen, Kleines. Und sei lieb zu Gray. Lizzie. Ausgerechnet jetzt?
Mom. Nicht jetzt. Sie stolperte stöhnend ein zweites Mal nach draußen.
Sieh dir das an, Charly.
Was auch immer die Gestalt in den Vorgarten geschmissen hatte, schien nicht gefährlich oder gar bedrohlich zu sein.
Nun komm schon. Seine Angespanntheit und Traurigkeit waren wie weggeblasen.
Da war ihr Kumpel wieder. Ein Freund, der sich gerade diebisch über etwas freute. Sie stiefelte durch den kniehohen Schnee und hielt die Luft an. Der Schatten hatte ihr Wunder Nummer zwei vor die Tür geworfen. Eine dichte Tanne, fast zwei Meter hoch.
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