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Leseprobe 1
Tut mir leid, dass ich Sie bei dem elenden Wetter auf Reisen schicken muss, Inspektor Bedloe, sagte der Abteilungsleiter von Scotland Yard, aber die Kollegen im Norden kommen ohne unsere Hilfe nicht weiter. Räuberbanden, wohin man schaut. Seit der Krieg vorbei ist, treibt sich Gesindel in Horden herum. Sie erinnern sich an Potters Gang? Von der Sorte gibt es jetzt mehrere. Wir müssen der County Police zeigen, dass wir uns um die Sache kümmern. Die Presse tobt, als wäre Scotland Yard daran schuld, dass es nach dem Krieg von Leuten wimmelt, die Morden gelernt haben und das Gelernte nun anwenden. Er legte seinem Untergebenen einen roten Aktenordner auf den Tisch. Der neueste Fall. Beinahe so schlimm wie damals, als die Stackington Gang einen ausgeplünderten Hof mit allem Lebendigen darin abfackelte. Sagt Ihnen der Name Woody End etwas?
Wo die ganze Familie massakriert wurde?, fragte Stephen Bedloe zurück. Ja, hab davon gelesen. Und dann: Herrje, das liegt ja am Arsch der Welt! Der Gedanke, auf eine mehrstündige Eisenbahnfahrt abkommandiert zu werden, erfüllte ihn mit Groll. Stephen Bedloe liebte seine Bequemlichkeit. Er war ein schmächtiger, zugleich welk und effeminiert wirkender Mann, der starke Ähnlichkeit mit einem übellaunigen Frettchen hatte. Von schwacher Gesundheit, bei jedem Windhauch fröstelnd, war er leichte Beute für jede Erkältung. Und ausgerechnet ihn schickte man in diesem kalten Vorfrühling in den Norden Englands. Aber was sollte er dagegen tun? Und ein wenig geschmeichelt fühlte er sich ja doch; er wusste genau, dass man ihn dann an die Front beorderte, wenn Andere nicht mehr weiterkamen. Er hatte mit dem kleinen Pelztier, dem er äußerlich ähnelte, mehr gemeinsam als die Knopfaugen, das buschige Haar und die spitze Nase. Er war intelligent, wendig, listig und ein gnadenloser Jäger.
Ja. Der Chefinspektor nickte ihm aufmunternd zu. Lesen Sie sich die Akten während der Zugfahrt durch. Die wichtigsten Zeitungsberichte habe ich Ihnen dazugepackt. Und seien Sie ruhig großzügig bei den Spesen.
Gleich am nächsten Tag machte sich der Inspektor auf den Weg. Der Zug war halb leer, er hatte das Glück, ein Abteil für sich allein zu bekommen, wo er es sich mit einer Reisedecke, einem Flachmann und einer Zigarette gemütlich machte, ehe er den Aktenordner studierte.
Woody End, der Schauplatz des Verbrechens, war ein Einödhof, Kilometer von jedem Nachbarn entfernt auf einer Waldlichtung gelegen, aber ein gut gehender Hof mit Kühen, Schweinen, zwei Ackerpferden und allerhand Kleinvieh. Weidewiesen, Äcker und zwei Hektar Wald gehörten zu der Liegenschaft. Die Familie Rawlings bestand hatte bestanden aus der Bäuerin Genoveva Brown-Rawlings, genannt Genny, 35, einer Witwe, deren Mann in einem Lungensanatorium gestorben war, und ihrer siebenjährigen ehelichen Tochter Mary, sowie einem nach dem Tod des Ehemannes geborenen zweijährigen Knaben, Jakob, dessen Vater unbekannt war. Des Weiteren hatten im Haus der sechzigjährige Altbauer Henry gewohnt, Gennys Vater, und seine um zehn Jahre ältere, kinderlose Gattin aus zweiter Ehe, die ihm die Farm eingebracht hatte. Sie hieß Petunia, war aber allseits nur Granny genannt worden. An Gesinde hatte es nur eine achtzehnjährige Magd gegeben, Hannah Tate, die offenbar geistig beschränkt gewesen war. Sie alle waren in einer einzigen Nacht von unbekannten Tätern aufs Grausamste ermordet worden. Selbst das Kindlein in der Wiege haben die Mordbuben nicht geschont, hatte ein Reporter geschrieben.
Die Rawlings hatten es nie für notwendig gehalten, Geld für einen Fotografen auszugeben, nicht einmal ein Hochzeitsfoto gab es, aber ein geschickter Zeichner hatte im Dienst einer der Zeitungen nach den Beschreibungen der Nachbarn Porträts angefertigt, die bei den Berichten abgedruckt waren. Wenn die Zeichnungen der Natur nahekommen, dachte Bedloe, dann waren die Mordopfer keine sympathischen Leute, obwohl die junge Bäuerin eine ausgesprochene Schönheit war. Sie hatten alle die harten, verkniffenen Gesichter, die man bösen, geizigen Bauern gemeinhin zuschreibt, und das waren sie auch gewesen hart, böse und vor allem geizig.
Ausrichten würde er in dem Fall nicht viel können, das sah Stephen Bedloe sofort, als er die Aktennotizen studierte. Mit vielen Stempeln versehene handschriftliche und maschinengeschriebene Berichte voll amtlicher Phrasen, denen bei aller Geschwätzigkeit nur ein sehr undeutliches Bild der Ereignisse zu entnehmen war. Dorfpolizist und Grafschaftspolizei der entlegenen Gegend hatten offenbar alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Sie hatten alle Spuren zertrampelt, den Tatort durcheinandergebracht, die Leichen bei Schnee und Regen auf Bretterschragen im Hof aufgebahrt zweifellos ein Zugeständnis an die vor Neugier berstenden Nachbarn und Reporter. Als medizinischen Sachverständigen hatte man erst den Dorfarzt der nächsten größeren Ortschaft geholt, der die Toten vom Tatort entfernen ließ, nachdem sie fotografiert worden waren, sich jedoch mit der Bestätigung der ohnehin offenkundigen Tatsache begnügte, dass sie ermordet worden waren. An zuverlässigen Fakten gab es nur einige wenige: Ein Dutzend Fotos, die die sechs wie ein Berg Hackfleisch zu Hauf liegenden Mordopfer zeigten, und einen Bericht des viel zu spät verständigten Polizeiarztes, demzufolge alle vor etwa einer Woche und etwa zur selben Zeit mit zahllosen wuchtigen Axthieben erschlagen worden waren selbst das erst zweijährige Kind. Gefunden hatte man sie in der Milchkammer zwischen Stall und Küche, auf dem Boden nebeneinander und übereinander liegend, mit Stroh bedeckt, die Köpfe in Tücher gewickelt. Das kalte Wetter, der ungeheizte Raum mit dem Fliesenboden hatten die Leichen recht gut erhalten, dennoch hatte der Polizeiarzt nichts Näheres sagen können als: Die große Anzahl und barbarische Wucht der Schläge ließen auf mehrere kräftige, männliche Täter schließen, die außergewöhnliche Grausamkeit auf hartgesottene Berufsverbrecher. Gefunden hatte man allerdings nur eine einzelne blutige Axt unmittelbar neben den Toten. Sie auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen, daran hatte die Grafschaftspolizei erst gedacht, nachdem ein Dutzend Polizisten und Nachbarn sie in der Hand gehabt hatten.
Bedloe seufzte. Der Fall als solcher war nicht ungewöhnlich. Einsam gelegene Höfe waren in dieser Nachkriegszeit bevorzugte Ziele der marodierenden Banden. Die Bauern, die dort wohnten, verwandelten ihre Höfe in Festungen, horteten Waffen, hielten scharfe Hunde, ließen keinen Fremden ins Haus. Auch bei den Rawlings hatte man es so gehalten. Ihr Rottweiler Rocky war der Schrecken aller Briefträger, Bettler und Handelsreisenden gewesen. Der Altbauer Henry Rawlings hatte bei jedem Schritt, den er außer Haus tat, ein scharf geladenes Gewehr bei sich. Die Frauen ließen niemanden ins Haus; wer mit ihnen reden wollte, musste das durch eine vergitterte Luke in dem massiven Hoftor tun. Durch diese nahmen sie auch ihre Post und die Waren der Handelsvertreter entgegen.
Erwischt hatte es sie trotzdem. Denn eine entscheidende Vorsichtsmaßnahme hatten sie außer Acht gelassen: Wer Geld hatte, redete in diesen Zeiten besser nicht darüber.
Arunya-Verlag
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