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Leseprobe 2
Mit einem Zischen glitt der Zug auf seinen Magnetschienen an den Bahnsteig heran. Die Pilger, die überall gekauert und gewartet hatten, erhoben sich. Kaum standen sie auf den Füßen, stimmten sie Gebete an, wie es die Pilgerregeln verlangten. Umgeben vom Raunen der leisen Gesänge ließ sich Shamut von der Menge in eines der Abteile schieben. Stolz erfüllte ihn, wenn er daran dachte, dass sein Dienst im Tempel dazu beitrug, diesen Gläubigen den Weg zu bereiten.
Sein Wohlgefühl wurde jäh unterbrochen, als die drängende Menge ihn in einen anderen Zaquin hineinschob. Shamut geriet ins Straucheln und griff Halt suchend nach seinem so plötzlich aufgetauchten Gegenüber. Im letzten Moment erkannte er jedoch, wen er im Begriff war zu berühren, und zuckte wie elektrisiert zurück. Ein Grauer. Undenkbar, ihn mit den Händen anzufassen. Allein schon, ihn mit der Schulter berührt zu haben, war ein Ärgernis, das ihn eine Menge Zeit kosten würde. Er nahm in Kauf, zu schwanken und zu stürzen, hoffte dabei, die Pilger hinter und neben ihm würden ihn auffangen. Doch die hatten inzwischen auch bemerkt, wem er versehentlich zu nahe gekommen war, und waren tunlichst bemüht, den Kontakt nun auch zu ihm zu vermeiden. Als er sich vom Boden aufraffte, auf einmal gab es um ihn und den Grauen herum so viel Platz, wie es in dem Gedränge der Pilger eigentlich unmöglich sein sollte , drängte ihm ein Fluch auf die Zunge, den er nur mühsam zurückhalten konnte. Nachdem er schon einen Grauen berührt hatte, wollte er sich nicht auch noch in Worten versündigen.
In der hintersten Ecke des Abteils wartete Shamut, dass die Bahn ihr Ziel erreichte. Als Letzter, sogar noch nach dem Grauen, was eine zusätzliche Demütigung bedeutete, verließ er den Zug, und schlug den Weg zu den Bädern ein. Die rituelle Reinigung, körperlich wie spirituell, würde ihn wertvolle Zeit kosten, und er würde seinen Tempeldienst mit deutlicher Verspätung antreten. Tartum, sein Vorgesetzter, war ein freundlicher, nachsichtiger Mann, aber wenn er ihm von dem Zusammenstoß mit einem Grauen berichtete, würde er kein Verständnis haben.
Shamut!
Er atmete gegen die Zahnschmerzen an, die ihn beim Klang dieser Stimme grundsätzlich immer überfielen.
Shamut, warte. Wohin willst du denn?
Alles an dieser Stimme verärgerte ihn, die Tonhöhe, die hektische Sprechgeschwindigkeit, der weinerliche Unterton. Ihr Besitzer war das unsympathischste Geschöpf, das Shamut kannte. Ein kriecherischer Speichellecker, der lieber die Worte der Anderen mitsang, statt eigene zu sprechen.
Perhtac? Shamut hielt inne und sah dem nervtötenden Mitsänger entgegen. Was möchtest du von mir? Ich habe zu tun.
Oh wirklich? Was denn? Vielleicht kann ich dir helfen?
Perhtac war nun heran. Er war ein auffallend groß und kräftig gewachsener Zaquin, dessen Körperbau eines Kriegers nicht zu seinem weichlichen, unterwürfigen Auftreten passen wollte. Für einen Moment überlegte Shamut tatsächlich, Perhtac zu berühren und ihm erst anschließend von dem Grauen zu berichten, damit der Kriecher gezwungen war, sich mit den gleichen zeitraubenden Ritualen herumzuschlagen, die ihm im Moment bevorstanden.
Natürlich tat er es nicht. Es war einfach nicht schicklich. Stattdessen riss er sich zusammen, bemühte sich um einen neutralen Tonfall und antwortete: Vielen Dank, Perhtac, aber es ist nicht viel, und ich werde nicht lange brauchen. Wir sehen uns dann in der Tempelmeisterei.
Schon fürchtete er, der aufdringliche Kerl würde sich damit nicht abwimmeln lassen, doch entweder war heute sein Glückstag, oder Perhtac hatte einen schlechten Tag. Was auf das Gleiche herauskäme, dachte Shamut gehässig. Jedenfalls beugte Perhtac nur zustimmend den Zweitfinger, murmelte ein Dann sehen wir uns gleich!, und ging seiner Wege.
Shamut sah ihm nach und wünschte ihm trotz aller guten Vorsätze eine Begegnung mit einem Grauen an den Hals, wie sie ihm gerade widerfahren war.
Während er den langen Gang entlangeilte und eine unbesetzte Waschkabine suchte, kam wieder der Ärger in ihm hoch. Was trieb ein Grauer überhaupt in der Pilgerbahn? Solches Geschmeiß sollte in seinen Löchern bleiben und nicht ehrbare Gläubige mit seiner Anwesenheit belästigen. Shamut fand eine leere Kammer, eilte hinein und verriegelte den Zugang hinter sich. Während er seine Kleider ablegte, rief er sich zur Ordnung. Die Grauen hatten es verdient, grau zu sein, etwas anderes war bei Lakteels Weisheit und Gerechtigkeit undenkbar, aber es stand einem Gläubigen schlecht zu Gesicht, ein zweites Mal über sie zu urteilen.
Shamut stieg aus der Bademulde, in der er nach strengem Ritual die Waschung seines Körpers vorgenommen hatte. Nackt und noch tropfend griff er die Zange, mit der er seine unreine Kleidung aufheben und zur Reinigung tragen konnte. In einer Nische der Kammer glühte mit Ölen getränkte Kohle und ließ duftenden, rötlichen Rauch aufsteigen. In diesen hielt Shamut seine Kleidung und sang die vorgeschriebenen Gebete. Es dauerte lange, viel zu lange für seinen Geschmack, bis er die wortreichen Verse beendet hatte und die Kleidung wieder aus dem Rauch nehmen durfte. Am liebsten wäre er nun zur Arbeit geeilt, doch hatte er die Vergebungszeremonie noch nicht durchlaufen. Frisch gewaschen und mit duftender Kleidung verließ er die Reinigungskammer und machte sich auf den Weg zur Vergebungskapelle.
Diese mochte einst, zu Lakteels Zeiten, den Namen Kapelle noch verdient haben, heute wäre sogar der Begriff Halle nicht ausreichend, ihre gewaltige Größe zu beschreiben. Allein der Eingang mit den zwei glänzenden, üppig verzierten Türflügeln war so breit, dass sechs Magnetzüge nebeneinander hindurchgepasst hätten. An die Schwelle schloss sich ein Boden aus dunkelblauen und silbernen Mosaiksplittern an, der so kunstvoll gestaltet war, dass man den Eindruck gewann, der Sternenhimmel sei zu Boden gesunken, um den Gläubigen als Teppich zu dienen. Hoch wie ein mehrstöckiges Haus "wuchsen" silbern schimmernde Säulen aus dem Boden und trugen ein gewaltiges Deckengewölbe, das den Sternenhimmel des Bodens widerspiegelte. Zusammen mit den Wänden, die, weit entfernt, in silbrig blauem Nebel zu verschwimmen schienen, vermittelte die Kapelle das Gefühl von Unendlichkeit. Einzig die Masken Lakteels, die von den Kapitellen der Säulen auf die Gläubigen herabsahen, wirkten real und beruhigend greifbar in der diffusen Weite. Sie gaben den Blicken der Betenden Halt und Zuversicht, Lakteels Größe als Anker in der Grenzenlosigkeit des Seins.
Hunderte Gläubige bevölkerten die Kapelle und wirkten trotz ihrer großen Zahl verloren zwischen den Sternen. Priesterinnen huschten zwischen ihnen umher, in ihren glänzenden, weißen Gewändern erinnerten sie an Sternschnuppen, die vor den Sternen aufleuchteten.
Trotz der vielen Zaquin herrschte in der Kapelle Stille. Alle Geräusche verhallten in der Größe des Raums, ehe sie wirklich gehört werden konnten. Selbst das ununterbrochene Murmeln der Betenden verblasste darin zu einem Säuseln wie ein ferner Lufthauch.
Shamut suchte sich einen Platz neben einer der aufragenden Säulen, rezitierte Lakteels Verse zur Vergebung, und wartete auf das Erscheinen einer Priesterin. Dieses ließ nicht lange auf sich warten, die jungen Frauen, die Lakteels Vergebung brachten, waren aufmerksam und schnell.
Lakteel in seiner Weisheit kennt deine Schuld, sprach die Frau ihn mit den vorgeschriebenen Zeilen an, ich jedoch bin fehlbar und fern vom heiligen Wissen. Sage mir, was auf dir lastet.
Shamut sah zu Boden, nicht nur, weil das Ritual das verlangte, sondern auch, weil ihm tatsächlich peinlich war, was ihm zugestoßen war. Ich habe einen Grauen berührt.
Tatest du das aus freiem Willen und absichtlich? Ihre Stimme blieb salbungsvoll und ausdruckslos. Wenn das Geständnis sie in irgendeiner Weise berührte, ließ sie es sich nicht anmerken.
Selbstverständlich nicht, platzte es aus Shamut heraus, ehe er sich entsann, dass diese Frage Bestandteil des Ritus und nicht etwa als Anklage gemeint war. Er riss sich zusammen und antwortete mit der korrekten Floskel: Nichts läge mir ferner.
Die Priesterin hob die Hände. Ihre Feingreifer kamen hervor und malten das Segenszeichen, den Umriss von Lakteels Maske, auf seine Stirn, um das Sonarauge herum. Die Berührung kitzelte.
Lakteel in seiner Weisheit kennt dein Bedauern, sagte sie dabei. Er versteht, dass du ein Opfer der Umstände warst, und vergibt dir. Geh', freigesprochen von deiner Verfehlung!
Shamut verbeugte sich so tief, dass er den Saum des Gewandes der Priesterin ergreifen und an seine Stirn pressen konnte, dann wandte er sich ab und eilte aus der Kapelle.
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