Auf den Schwingen der Nacht von Andrea Tillmanns
Ein Teil von mir hatte geahnt, dass etwas geschehen sein musste, als Lorena mir nicht den Hügel hinab entgegengelaufen kam, wie sie es sonst immer tat, wenn sie mich im Licht der tiefstehenden Sonne aus dem Dorf zurückkehren sah. Nun, da ich die Tür unseres Hauses hastig aufstieß, konnte ich den Fremden riechen, nicht auf Hexenart, vielmehr aus einem Gefühl heraus, vielleicht bloßer Instinkt, und doch: Neben meiner Tochter saß er, den leichten Sommerumhang achtlos von sich geworfen, die Füße in verschlammten Stiefeln auf unserem Tisch gekreuzt, eine Hand wie zufällig um Lorenas Schultern gelegt und in der anderen das Messer, das ihren Hals fast berührte.
Wünschst du dir nicht manchmal, eine wirkliche Hexe zu sein?, grinste er höhnisch, während der Korb mit Brot und Milch langsam meinen Fingern entglitt und polternd zu Boden fiel.
Was willst du von mir?, brachte ich mühsam hervor. Mein Mund schien wie ausgedörrt. Meine Kleine, meine liebe Lorena stumm und bewegungslos saß sie auf dem Hocker neben ihm, unter dem Tisch konnte ich ihre dünnen Beine sehen, kaum breiter als die des Schemels, an die sie mit einem schmutzigen Band gefesselt waren, und dennoch keine Träne in ihren Augen, nur ihr Kinn hatte sie hochgezogen, als wolle sie der scharfen Klinge so weit als möglich ausweichen.
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