|
Das Spiel der Ornamente
Er war nun schon so lange wach, dass er sich wie ein Sportler unter Dopingeinfluss fühlte. In einem Moment war er noch aufgekratzt und impulsiv, ja geradezu manisch, um im nächsten Augenblick in eine transzendentale Art depressiver Lethargie zu verfallen. Völlig abgestumpft und leer saß er auf dem Beifahrersitz seines Wagens, und beobachtete mit träger Gelassenheit, wie Schäfer den Ford durch Westvorstadt lenkte.
Sein Blick verfinsterte sich, als er sich dem allgemeinen Wirrwarr auf den Westvorstädter Straßen bewusst wurde. Wo man auch nur hinsah, entdeckte man Einsatzwägen der verschiedensten Bereitschaftsinstitutionen, umherirrende Einwohner des Ortes, und Verletzte, die versorgt wurden.
Über Funk lauschte er den neuesten Entwicklungen. Schäfer hatte natürlich die Wahrheit gesagt, auch wenn diese einfach nur grotesk und unwirklich anmutete. Die hundgroßen Katzen hatten in der gesamten Ortschaft gewütet. Insgesamt waren 23 Menschen zu Tode gekommen, weitere 36 wurden vermisst, und niemand zog es auch nur im entferntesten in Erwägung, an eine vermeintliche Dunkelziffer zu denken.
Mit zitternden Händen holte er die letzte Zigarette aus der Schachtel, und bat Schäfer darum, am nächsten Automaten anzuhalten, damit er sich neue kaufen konnte. Mit dem orangeglühenden Zigarettenanzünder bekam er die Kippe in seinem Mundwinkel zum Brennen, und tief sog er den Rauch in seine schwarz verteerten Lungen.
Über Funk hatten sie herausgefunden, wo sie Rosalinde Steinmetz finden konnten. Sie saß in einem Streifenwagen, in eine graue Decke gehüllt, und wartete auf das Ende der Zeit. Zumindest kam es ihr so vor.
Als Marrak und Schäfer den Marktplatz erreichten, auf dem sich eben jener Streifenwagen befand, konnten sie die Szenerie, die sich ihnen darbot, zunächst nicht glauben.
Der komplette Ortsmittelpunkt war in hektisches Flackern der Blaulichter getaucht. Da es mittlerweile heftig regnete, sah es so aus, als ob man gegen eine blau flackernde Wand reflektierender Fäden auffuhr.
"Hab ich die letzten 30 Stunden geschlafen und am Ende was verpasst, oder was ist los?", sagte Marrak.
"Frag mich nicht", sagte Schäfer, und stoppte den Wagen.
Die Masse an Einsatzkräften war beängstigend. Die sonst bei solchen Anlässen leider übliche Menge an Schaulustigen hielt sich wohl aufgrund des Platzregens in Grenzen. Nur vereinzelte, unerbittliche Kämpfer der Mundpropaganda standen sinnlos in der Gegend herum, ohne dass die, im geschäftigen Treiben vertiefte Masse an Uniformierten Notiz von ihnen nahm.
Das Chaos von Westvorstadt nahm seinen apokalyptischen Lauf.
Sie fanden Rose, nachdem sie einen, ihnen entgegenkommenden Kollegen nach ihr befragt hatten.
"Ihr meint bestimmt das hübsche, aber völlig verstörte Ding, das hinten im dritten Streifenwagen von Links ins Nirgendwo blickt."
"Sieh an", sagte Marrak. "Ein Poet." Sie ließen den Uniformierten im Regen stehen, und folgten seiner Wegbeschreibung.
Das Spiel nahm seinen Lauf. Unaufhörlich bildeten sich die Ornamente neu. Sie fügten sich zusammen, verbanden sich, offenbarten die Klippen, an die das Meer aus Quarzessenz brandete, und vervollständigten ihr geheimes Puzzle.
Und es wuchs.
In der Schrebergartensiedlung, da wo vor nicht allzu langer Zeit eine trächtige Katze ihre satanischen Jungen in die Welt gesetzt hatte, an eben dieser Stelle, noch halb von welkem Blattwerk und verfaulendem Stroh bedeckt, kämpfte sich ein Quarzkristall aus dem Boden. In Klara Gußmanns Bäckerei war das selbe Phänomen zu beobachten. Unmittelbar neben dem weißen Klebeband, mit dem man die Umrisse ihres Leichnams auf den Fließen markiert hatte, wuchs das von der Katze mittels ihres Urins in die Welt gesetzte Quarzgeflecht nach oben.
Quelle: www.eloy.com
(in Absprache mit dem Autor)
[Zurück zum Buch]
|
|