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DER MIKROKOSMISCHE MALER von Volker Groß

DAS MIRAKEL

Frank W. Haubold (Hrsg.) / Frank W. Haubold (Autor) u.a.
Anthologie / SF & Fantasy

edfc

Taschenbuch, 300 Seiten
ISBN: 978-393262199-4

Dez. 2007, 1. Auflage, 9.25 EUR
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Es klingelte.
Borkat ließ den Pinsel sinken, mit dem er eben die Linienführung eines gliedlosen Torsos nuanciert hatte. Wahrscheinlich, so dachte er, würde es nur wieder dieser Fremde sein, dieser Verrückte, der ihn seit Wochen belästigte.
Er legte das Malinstrument zur Seite, wischte sich die öligen Hände an einem ebenso öligen Lappen, und machte sich, umgeben von einer ätherischen Wolke aus Terpentin und Lösungsmittel, auf den Weg zur Tür.
Er war fest entschlossen, dem ungehörigen Benehmen ein Ende zu setzen. Es durfte einfach nicht sein, dass er immer wieder derartig dreist von der Ausübung seiner Kunst ferngehalten wurde. Was dachte sich der Fremde eigentlich? Einbildung seiner überreizten Psyche oder nicht, war er etwa der Meinung, dass man als Künstler über das Kommen und Gehen seiner Muse frei entscheiden, es womöglich nach eigenem Gutdünken selbst bestimmen oder gar befehlen konnte? Ha! Wie närrisch waren doch die Ansichten der Menschen manchmal, wie einfältig, wie naiv und dumm.
Als er geöffnet hatte, erwartete ihn die inzwischen vertraute Gestalt eines ganz in Schwarz gehüllten Mannes, dessen Gesicht hinter einer unpersönlichen Maske aus abgegriffenem, braunem Schweinsleder verborgen lag.
Nicht anders als bei seinen vorausgegangenen Besuchen ergriff der Fremde sofort das Wort.
»Tu es, Borkat!«, flüsterte er mit heiserer Stimme hinter seiner Maske hervor, »Traue und folge, wie es allen Berufenen seit Jahrhunderten gebührt, deinen Eingebungen und Intuitionen, den Instinkten und Ideen, den Imaginationen und Trieben, die dein Innerstes bewegen. Was immer es auch kosten mag, nichts, so versichere ich Dir, ist heiliger als diese Pflicht, Borkat. Nichts geht darüber, verstehst du?«
Borkat sah mit gelangweilter Miene auf den Besucher, dessen irrwitzige Anfeuerungen er inzwischen in und auswendig kannte.
»Kommen sie nicht mehr hierher«, entgegnete er schließlich, »wer immer sie auch sein mögen, mein Herr. Ob Geist, ob lebendes Geschöpf, ob trughaftes Erzeugnis meiner eigenen Sinne – gehen Sie und kehren Sie nicht mehr zurück!«
Und damit schlug er die Tür zu.
Krachend fiel sie ins Schloss.
Borkat hielt den Atem an und lauschte.
Aber er vernahm nicht das, was er zu vernehmen gehofft hatte: nicht das Geräusch schwerer Schritte, die draußen im Hausflur die Treppe hinabstiegen und sich von seiner Wohnung entfernten.
Nur Stille.
Nach einer Weile begab er sich zum nahe gelegenen Fenster, zog die Gardinen beiseite und warf einen Blick hinab auf die Straße.
Antike Droschken, gezogen von kräftigen, fellglänzenden Pferden, ratterten über das nasse Kopfsteinpflaster; Menschen, Mutanten, und sogar einige von Tritons fliederfarbenen Ureinwohnern, hasteten, von Schirmen behütet und zum Schutz gegen die Kälte in wärmende Pelze gehüllt, die Gehwege entlang.
Niemand aber trat aus dem Hauseingang.
War also alles nur Einbildung gewesen? Ein groteskes Spiel seiner Psyche, die ihm Gegenständlichkeit vorgaukelte, wo es sie nicht gab, Worte zuraunte, die niemand sprach? War dies alles nur eine weitere Auswirkung der Substanz, derer er sich jetzt seit einiger Zeit bediente, und die nun allmählich sein Gehirn zu zerfressen begann?
Man hatte ihn gewarnt.
Klar und deutlich entsann er sich der Worte des Händlers, den er vor einigen Monaten zum ersten Mal aufgesucht hatte; drüben, jenseits der Sternenbrücke, auf der anderen Seite des Abyss, in den verschachtelten Winkeln und Gassen des Drogen- und Alchimstenviertels von Triton-City.
Auf seine Frage nach Opium hin, hatte der Händler zunächst ein ziegenhaft-meckerndes Lachen ausgestoßen.
»Sieh an, ein Freund der Träume.«, hatte er dann, nachdem das Lachen endlich verklungen war, hervorgebracht, und Borkat daraufhin mit sich in die unauslotbaren Tiefen seines Ladens gezogen, wo er ihm eine gläserne Phiole mit zähflüssigem, schwarzem Inhalt überreicht hatte. Borkat hatte ein paar Goldmünzen aus seinen Taschen gekramt, den Händler bezahlt und war eben im Begriff gewesen, den bedrückenden Ort wieder zu verlassen, als die Stimme des Alten erneut erklungen war.
»Gebt Acht, mein Herr!«, hatte er ihn hinter seinem Rücken rufen hören, »Ihr begebt euch auf einen Pfad, den nur die wenigsten an Leib und Seele heil begehen dürfen!«
Dann hatte der Chinese einen Moment geschwiegen, sich währenddessen aber näher an Borkat heran geschoben und mit dürren Spinnenfingern nach seinem Arm gegriffen.
»Ich will euch nicht zu nahe treten, Herr, aber seid Ihr wirklich stark genug, um diesen Weg zu gehen? Den Drachen zu wecken? Ihm gegenüberzutreten mit nichts in der Hand als euerem nackten Dasein, eurer bloßen Existenz? Ihr wisst, dass sich Traum und Wirklichkeit vermischen, dass sie am Ende eins sein werden? Werdet ihr selbstbeherrscht genug sein, junger Herr, um eine Grenze zu ziehen? Zwischen dem, was sein könnte, vielleicht sein sollte, und dem, was – ganz unabhängig von euren eigenen Wünschen und Gedanken – einfach nur ist und immer schon war
Borkat, dem das einfältige Geschwätz Angst gemacht hatte, war Hals über Kopf aus dem Laden geflüchtet. Natürlich hatte er die Worte nicht ernst genommen, sie vielmehr als bloßen Unsinn, als das wirre Gerede eines alten, vereinsamten Mannes abgetan – solange jedenfalls, bis er sich wenige Wochen später erstmalig jener Erscheinung gegenübergesehen hatte, von der er inzwischen beim besten Willen nicht mehr sagen konnte, ob sie tatsächlich noch real oder doch nur ein Produkt seiner eigenen, unkontrolliert ausufernden Fantasie war.
Borkat kam plötzlich zu sich.
Er vermochte nicht zu sagen, wie lange er vor dem Fenster gestanden und auf die Straße hinab gesehen hatte. Es geschah in letzter Zeit öfter, dass er sich, so wie jetzt, in Gedanken verlor, ohne später, wenn er das Bewusstsein wiedererlangte, erklären zu können, was eigentlich geschehen war.
Vielleicht auch nur eine weitere Auswirkung der Substanz, dachte er.
Draußen dunkelte es bereits. Die Gaslaternen waren entzündet und sandten leise zischend ihr eisblaues Licht in den Abend hinaus. Oben am kobaltfarbenen Himmel drohte, blutig rot und riesig, das Rund des nahen Mondes, und Borkat konnte die winzigen schwarzen Flecken ausmachen, die von den unzähligen Luxushabitaten, Übertragungssatelliten und Waffenplattformen herrührten, die immerwährend wie lästige Fliegen über das Angesicht des Trabanten zogen.
Was mochten sie denken, fragte er sich nicht zum ersten Mal seitdem er hier lebte, die Reichen und Schönen, die sich dort oben, weit über ihm, damit vergnügten, die Geschehnisse auf Triton zu verfolgen? Für sie waren die Schicksale der Menschen hier unten doch nicht mehr als nur ein weiteres, abendliches Unterhaltungsprogramm – Realitiy-TV, geschaffen, um ihre voyeuristischen Gelüste zu befriedigen und ihnen die Trostlosigkeit ihres eigenen Lebens zu verschleiern.
Ahnend, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, um seine Arbeit zu vollenden, ließ er die Gardinen los, wandte sich vom Fenster ab und kehrte ins Atelier zurück. Er entzündete ein paar Dutzend Kerzen um sich herum und warf einen kritischen Blick auf den aktuellen Stand seines Werkes.
Was er sah, ließ ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit in ihm aufkommen, und bald stand seine Entscheidung fest: heute Nacht würde er gehen und tun, was im Sinne seiner Kunst getan werden musste.

In den Wochen darauf arbeitete er wie ein Besessener; gut und ausdrucksstark wie nie zuvor in seinem Leben.
Überall um ihn herum verteilten sich inzwischen Hunderte Ölgemälde menschlicher Gliedmaßen – Füße, Hände, Arme und Beine. Bild auf Bild aneinandergelehnt sammelten sie sich an den Wänden und auf den Fensterbänken, wo sie auch noch das letzte Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge in seine Wohnung einzudringen versuchte, ausschlossen.
Gerade war er im Begriff ein weiteres Meisterwerk zu vollenden – jenen Torso, den er vor Wochen begonnen, schließlich aber hatte liegen lassen – als es erneut klingelte.
Er zuckte zusammen.
Pinsel und Hand verloren den Kontakt zur Leinwand, glitten ab und erzeugten einen scharlachfarbenen Schmierstreifen, der sich wie das manifest gewordene Vermächtnis seiner angegriffenen Nerven über den schon fertig gestellten Teil des Bildes zog.
Borkat sah auf, schüttelte die Anfänge einer neuerlichen Paralyse, die ihn befallen wollte, ab und machte sich, Palette und Pinsel nach wie vor in Händen haltend, auf den Weg. Er erreichte die Tür, starrte sie für einen Moment mit weit aufgerissenen Augen an und glaubte schon durch das Weiß des lackierten Holzes die schwarze Silhouette des Fremden zu sehen.
Aber es war nur eine Täuschung.
Er öffnete und fand sich stattdessen einem anderen Mann gegenüber: hoch gewachsen, auffällig gekleidet in einen knöchellangen Plastikmantel, der, hellbraun, einen seltsamen Glanz verbreitete.
Borkats Blick fiel auf den gelben, fünfzackigen Stern am Mantelrevers seines Besuchers, dann nahm er dessen Antlitz ins Visier: fahl, blass, ebenmäßig; ein sorgfältig zurecht gestutzter Oberlippenbart sowie schwarzes, penibel seitengescheiteltes Haar bildeten die Anhaltspunkte für ein Gesicht, aus dessen Zentrum ihn zwei verschlagen funkelnde Augen kritisch musterten.
Ein hoher Beamter der Stadtpolizei von Triton-City.
»Bartholomäus Borkat?«
Borkat bestätigte, schluckte einen Kloß, der sich in seiner Kehle festsetzen wollte, herunter und wartete.
»Darf ich einen Moment hereinkommen?«, fragte der Beamte, während er aber bereits einen seiner schweren Armeestiefel forsch und bestimmt über die Eingangsschwelle schob, »Es geht um den Mord an einer Prostituierten, Mutierte der achten Generation, drüben jenseits des Abyss.«
Und damit hielt er Borkat ein Holopad unter die Nase, auf dem die dreidimensionalen Überreste eines grausam zerstückelten Leichnams zu sehen waren.
»Kennen sie diese Frau?«
Borkat spürte eine leichte Unsicherheit; sein Herz begann zu rasen und er beschloss, sein Heil von nun an in der Offensive zu suchen.
»Nein, tut mir Leid«, antwortete er so ruhig es ihm noch möglich war, »Ich habe diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen. Kenne sie nicht. Darf ich fragen, wie Sie auf mich kommen?«
Der Beamte sah ihn misstrauisch an.
»Eine reine Routinebefragung, mein Herr, machen sie sich keine Sorgen. Ein Droschkenfahrer hat in der betreffenden Nacht eine verdächtige Person beobachtet, die – und das interessiert Kanzler und Rat natürlich besonders – einen gefüllten Leinensack mit sich trug, und ist ihr bis in die Nähe dieses Viertels gefolgt. Wir befragen also alle Wohnungen der Gegend. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe?«
Und damit war er vollends eingetreten und marschierte bereits zielstrebig in Richtung Atelier.
Borkat schloss die Wohnungstür, folgte ihm und sah danach schweigend zu, wie der Beamte durch seine Werkstatt schritt, hier und da eine Arbeit beäugte, dort die klobigen Finger in eine Ansammlung von Gemälden schob, um herauszufinden, was sich wohl hinter dem ersten Bild einer Reihe verbergen mochte.
Nachdem der Beamte seinen Rundgang beendet hatte, blieb er zuletzt vor der Staffelei stehen und betrachtete eine ganze Weile lang stumm den unfertigen Torso, der dort nach wie vor ausgestellt war.
Dann sah er plötzlich auf, dem abwartenden Borkat unmittelbar in die Augen.
»Sie malen Gliedmaßen?«, fragte er, »Leichenteile?«
Danach ging alles sehr schnell.
Der Beamte bat ihn, die Stadt nicht zu verlassen und verabschiedete sich.
Borkat war irritiert, hatte aber am Ende keine Probleme damit, den unerwarteten Besuch zu verdrängen. Nicht zuletzt war er sich – ähnlich wie im Falle jenes anderen Fremden, der ihn nach wie vor belästigte – alles andere als sicher, ob es sich wirklich um eine reale Person gehandelt hatte.
Er tat den Vorfall ab und kehrte zu seinem Werk zurück.
Wieder im Atelier hob er vorsichtig den einstweilen verdorbenen Torso von der Staffelei und wusste in jenem Augenblick bereits, was weiter zu tun war. Nach all den Wochen der Übung, den Mühen der Vorbereitung, galt es nun, den Höhepunkt der Arbeit ins Werk zu setzen: das Haupt, der Kopf, Angelpunkt und Zentrum der mikrokosmischen Welt, musste geschaffen werden.
Berauscht von dieser Eingebung, erfüllt von Bewunderung für seine eigene Größe, und – nicht zuletzt – die übermenschliche Verantwortung, die er stellvertretend für alle Künstler des Universums übernommen hatte, ließ er sich in einen Sessel fallen und zog in einer Geste befriedigter Eleganz den Rollwagen mit den Rauchutensilien zu sich heran. Beinahe liebevoll formte er den Rest seines schwindenden Opiumvorrats zu einem annähernd runden Klumpen und platzierte ihn auf der Rauchplatte. Anschließend erhitzte er ihn und sog, dem Lauf der sich verflüssigenden Kugel folgend, den süßen Qualm tief in seine Lungen.
Als die Wirkung eintrat, lehnte er den Kopf zurück, schloss die Augen und überließ sich seinen Träumen.
Bald umtanzten ihn mythische Wesen: Zentauren, Satyre, Pan. Er blickte hinab auf die fruchtbaren Ähren eines gold-gelben Weizenfeldes, wie es sie früher, vor den verheerenden Klimakatastrophen des 21. Jahrhunderts, auf der alten Erde noch gegeben hatte; Halme wogten und beugten sich im Wind, Violinen schluchzten und hüllten ihn in einen Kokon aus selbstgefälliger Zufriedenheit. Dann schlief er ein.
Als er wieder zu sich kam, brach Orientierungslosigkeit über ihn herein. Traum und Wirklichkeit wollten nicht zusammenpassen und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob jetzt womöglich der Zeitpunkt gekommen war, an dem der Wahnsinn endgültig seine gierigen Finger nach ihm ausstreckte. Verwirrt warf er einen angeekelten Blick in die Realität: grau in grau, kalt erschien ihm alles, und nur ganz allmählich kehrte sein waches Bewusstsein zurück, um anschließend wie ein verlorener Schiffbrüchiger ans rettende Ufer angemessener Wahrnehmung zu taumeln.
Das große Werk! Es duldete keinen Aufschub mehr!
Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Gedanke und löschte alles andere aus.
Trotz des mörderischen Hämmerns in seinen Schläfen und dem bitteren Geschmack, der seinen Mund ausfüllte, mühte er sich auf, verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg in den Garten.
Die Kälte der spätherbstlichen Nacht ließ ihn frösteln, als er aus dem Hintereingang des Hauses trat.
Im Licht des inzwischen hoch am Himmel stehenden Mondes, umgeben von exotischen Pflanzen – Kataraktlilien und Bowlerköpfen, die, audiosensitiv, auf Geräusche reagierten und ihm ihre augenförmigen Herbstblüten zuwandten, als wollten sie ihn beobachten –, wühlte er die feucht-kalte Erde auf und fand alsbald, was er suchte.
Alles war sorgfältig konserviert.
Nur gut erhaltenes Fleisch- und Knochenmaterial war dazu geeignet, die Farben, die er für seine Bilder benötigte, herzustellen.
Er öffnete die eisenbeschlagene Kiste und zog einen der darin enthaltenen Zellophanbeutel heraus.
Er enthielt den Kopf seines Opfers, der, umgeben von Schwebeteilchen, müde und scheinbar friedlich in einer grünlich-trüben Flüssigkeit schwamm.
Borkat scharrte das Erdloch wieder zu und kehrte ins Atelier zurück.
Oben angelangt platzierte er den Beutel auf seinem Arbeitstisch, stellte Mörser und chemische Substanzen bereit, und zog anschließend den Kopf am nass tropfenden Haar vorsichtig aus der Verpackung.
Der scharfe Geruch des Konservierungsmittels stach wie Feuer in seiner Nase und für einen kurzen Moment glaubte er tatsächlich, sich übergeben zu müssen.
Dann aber fing er sich und begutachtete das Material: Fleisch und Haare schienen in Ordnung. Er zog die Lippen des aufgedunsenen Kopfes nach oben und besah sich Zahnfleisch und Zähne. Auch sie schienen noch brauchbar und würden, vermischt mit den Farbpigmenten und den unvermeidlichen, chemischen Zusätzen, eine ausreichend gute Farbmischung ergeben.
Zuletzt aber stutzte er.
Irgendetwas schien nicht richtig, irgendetwas fehlte, wollte nicht passen.
Sein Blick schweifte zunächst ziellos umher und fiel schließlich auf die leeren Höhlen, in denen einst die Sehorgane seines Opfers gesessen hatten. Unmittelbar wurde ihm die Konsequenz seiner Entdeckung bewusst: das Fehlen einer aus organischen Augen gewonnenen Farbe würde das große Werk ganz und gar unmöglich machen.
Ohne noch weiter zu zögern, suchte er nach dem Messer, dem Hammer und der Knochensäge, fand sie, verstaute sie in seinem Umhang und verließ zum zweiten Mal in dieser Nacht das Haus.
Die Gaslaternen glommen nur schwach.
Die anhaltenden Energiesparmaßnahmen des Städtischen Rats hatten dafür gesorgt, dass nach Mitternacht keine vollständige Beleuchtung mehr aufrechterhalten wurde. Eine Tatsache, die Borkats Absichten zugute kam.
So unauffällig es ihm, nach wie vor gehetzt von seinen haltlos dahinjagenden Gedanken, möglich war, bewegte er sich durch die verlassenen Straßen des Künstlerviertels in Richtung Abyss, überquerte die Sternenbrücke, und erreichte das Vergnügungsviertel. Hier waren trotz der späten Stunde noch Anzeichen von Leben zu erkennen: aus diversen Spelunken und Bordellen drang schummrige Beleuchtung auf die Gassen hinaus.
Borkat lauschte eine Zeitlang tatenlos den ewigen Hintergrundgeräuschen aus Gelächter, Melodiefetzen und streitenden Stimmen, die im ganzen Viertel zu jeder Tages- und Nachtzeit gegenwärtig waren, dann – plötzlich – öffnete sich, nicht weit entfernt von dem Ort, an dem er im Schutze eines Hauseingangs Position bezogen hatte, die Tür einer Taverne, die er kannte. Es handelte sich um den «Verrückten Alchimisten«, einen beliebten Treffpunkt der Magier und Schwarzkünstler der Stadt, zumindest derjenigen, die sich dafür hielten.
Er beobachtete, wie eine offensichtlich betrunkene Gestalt auf die Straße hinaus befördert wurde und fluchend auf dem Pflaster landete. Nachdem der Mann sich aufgerappelt und davongewankt war, trat er aus dem Schatten und machte sich auf den Weg.
Stickig warme Luft schlug ihm entgegen als er die Taverne betrat.
Niemand beachtete ihn.
Er nahm seinen Zylinder ab und drängte sich durch den dicht gefüllten Schankraum hinüber zur Theke, wo er sich einen Absinth bestellte und seine Umgebung einer ersten, heimlich abschätzenden Begutachtung unterzog.
Es war der Bodensatz einer sowieso schon durch und durch verkommenen Gesellschaft, der sich vor ihm ausbreitete: genmanipulierte Mutanten aller Generationen, grotesk entstellte Wesen, deren einstmals menschliche DNA in barbarischen Versuchen mit dem Erbgut verschiedenster Tierarten gekreuzt worden war, und die nun Pferdeköpfe, Raubtierschwänze oder Vogelschwingen trugen; Prostituierte, die drei, vier, fünf Brüste zur Schau stellten oder zusätzliche Körperöffnungen besaßen, die sie in vertraulichen Geschäftsgesprächen anpriesen und auf Wunsch vorzeigten.
Das alles interessierte ihn nicht im Geringsten, seine Suche galt einzig und alleine einem brauchbaren Paar Augen – leuchtend, klar und voller Ausdruck; Augen, die dem großen Werk angemessen sein würden.
Eine Viertelstunde später resignierte er.
Hier würde er nicht fündig werden.
Als er erneut in die Nacht hinaustrat, glaubte er ein weiteres Mal, den brennenden Hauch des Wahnsinns in seinem Geist zu verspüren. Wie eine geschäftige Raupe, dachte er, die sich ihre engen Nahrungskanäle durch mein Gehirn frisst und es allmählich wie ein von Parasiten befallenes Blatt perforiert.
Von da an trieb es ihn ruhelos durch die Straßen.
Er verfolgte Betrunkene und Drogensüchtige; belauerte kopulierende Paare, die sich in schmutzigen Hauseingängen, umkreist von neugierigen Ratten, einer schnellen und unbefriedigenden Lust hingaben; beäugte vernarbte Gestalten, die wie er durch die Gassen schlichen und dabei ihre kriminellen Absichten wie Fanale vor sich hertrugen. Einmal sogar beugte er sich zu einem der vielen schlafenden Obdachlosen hinab, die es überall in der Stadt gab, schob dessen Lider nach oben und betrachtete prüfend die dahinter liegenden Augäpfel.
Aber es blieb zwecklos.
Nichts als trübe, geistlose Blicke allenthalben, abgestumpft und leer, deformiert oder krank ...
Dann jedoch, als bereits der Morgen graute, erhielt er eine letzte, unverhoffte Chance.
Borkat ließ, während er so tat, als interessiere er sich für die in einem Schaufenster gezeigte Auslage sadomasochistischer Folterwerkzeuge, eine abgehärmte, ärmlich gekleidete Frau in Begleitung ihres Kindes an sich vorbeiziehen. Wie absurd, sagte er sich, warum bloß bin ich nicht früher darauf gekommen? Kinderaugen! Erfüllt von naiver, sorgloser Freude und dem Glanz der Neugierde auf das Leben – sie mochten geeignet sein.
Seine Hand spannte sich um den Griff des Messers.
Aber er kam nicht mehr dazu, sein Vorhaben auszuführen.
Gefangen in einer hermetischen Blase fand er sich urplötzlich im Zentrum eines irrsinnig schnell kreisenden Universums und blickte entgeistert auf genau das, wonach er seit Stunden so verzweifelt Ausschau gehalten hatte: halbtransparent wie ein Gespenst schwebte ein fanatisch glühendes Augenpaar unmittelbar vor ihm, erfüllt vom kalten Feuer göttlicher Berufung.
Es waren seine eigenen Augen, die sich im Glas des Schaufensters, in das er blickte, spiegelten.
Begleitet von einem schmatzenden Geräusch, ähnlich wie Luft, die protestierend ein Vakuum füllt, kehrte mit einem Schlag die Wirklichkeit zurück und er vernahm die Stimme des Fremden in seinen Gedanken.
»Was es auch kosten mag, Borkat! Nichts ist heiliger als diese Pflicht, verstehst du! Nichts ist heiliger!«, flüsterte sie.
Er riss die Arme nach oben, presste sie gegen seinen Kopf, versuchte, die Stimme zum Schweigen zu bringen.
Aber es gelang ihm nicht. Immer weiter und weiter feuerte sie ihn an, lockte, trieb ihn, während Hunderte Abbilder seiner eigenen Augen einen bizarren, kettenartigen Reigen um ihn herum zu bilden begannen.
Natürlich! Welche Augen konnten besser geeignet sein, um das Werk zu vollenden!
Er rannte nach Hause.
Glühend kroch die Morgensonne über den Horizont hinaus und tauchte die Stadt in ein ultraviolettes Licht. Erwachende Vögel, aufgeschreckt von seinen in den Gassen widerhallenden Schritten, kreischten. Es war ihm gleichgültig, ob er Aufsehen erregte, ob die Menschen sich zu ihm umdrehten, ihn ansahen oder gar erkannten.
Borkat erreichte das Haus, stürmte nach oben und riss die Tür zu seiner Wohnung auf.
Er stürzte ins Bad, entzündete mit unsicheren Händen ein Öllämpchen, das dort neben dem Spiegel stand, und betrachtete in dessen Schein sein Gesicht. Mit zitternden Fingern zog er die weiche Haut um eines seiner Augen weit auseinander und schob es so nahe an die spiegelnde Oberfläche heran, wie es ihm möglich war, fixierte die feinen Blutäderchen, die den entblößten Augapfel marmorierten, registrierte jede noch so leichte Zuckung der panisch geweiteten Pupille.
»Tu es, Borkat!«, flüsterte es derweil – immer eindringlicher jetzt – in seinem Kopf, »Nichts ist heiliger als diese Pflicht! Nichts ist heiliger als diese Pflicht, Borkat! Nichts ist ...«
Und diesmal antwortete er der Stimme.
»Ja«, hauchte er, »der Kunst zuliebe, dem Werk zuliebe, will ich es tun! Aus meinem eigenen Fleisch werde ich von nun an meine Farben gewinnen!«
Doch die Zeit wurde knapp.
Draußen vom Flur her drangen Geräusche zu ihm herüber. Jemand schlug gegen die Wohnungstür, verlangte Einlass.
Er vernahm seinen Namen, der mehrmals laut gerufen wurde.
Ein letztes Keuchen entrang sich seiner Kehle, dann wurde er still. Eine Art stoischer Gelassenheit überkam ihn.
Er langte nach der großen Schere, die neben dem Waschbecken lag, spreizte ihre stählernen Schenkel, umfasste sie so fest, dass ihm das Blut aus den aufgeschnittenen Handflächen ran und ... stach zu.
Mehrmals und mit aller Kraft, die er in diesem Moment noch aufzubringen im Stande war.

*



Die sanfte Melodie eines Bambuswindspiels erklang.
Gogol sah auf.
Nicht zum ersten Mal in all den Jahren, in denen er jetzt auf diesem verfluchten Gefängnisplaneten seine Strafe verbüßte, fragte er sich, wie es soweit hatte kommen können.
Dieser Ort war die Hölle.
Eine perverse Ansammlung durchgedrehter Schwerstkrimineller, Psychopathen, denen man die alleinige Selbstverwaltung überlassen hatte – Raubtiere in einem Käfig ohne Gitter, es war schlimmer als er es sich in seinen schlimmsten Albträumen auszumalen fähig gewesen war.
Er betätigte den winzigen Transformer, der an seiner Gürtelschnalle angebracht war – illegale Technologie, die er nach seiner Verurteilung unter erheblichen Risiken auf Triton eingeschmuggelt hatte –, und wechselte in das Erscheinungsbild des alten Asiaten, das sich für sein Geschäft als die beste aller Illusionen erwiesen hatte.
Dann wartete er, wer die Treppe hinab kommen würde.
Die Gestalt, die schließlich erschien, jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein.
Humpelnd trat der Mann an den Verkaufstisch heran. So dicht, dass Gogol den fauligen Geruch aus seinem mit metallenem Zahnersatz bestückten Mund wahrnehmen konnte. Er trug eine braune, schweinslederne Maske, die sein Totenkopf gleiches Antlitz beinahe vollständig verbarg. Nur seine Augen lagen frei, und Gogol starrte auf zwei glatte Kugeln aus Obsidian – Implantate, die wie tote, künstliche Monde in den Augenhöhlen saßen. Zudem, bemerkte er, fehlte dem Mann ein Ohr, das ganz offensichtlich erst vor kurzem vom Leib abgetrennt worden war: Eiter sickerte immer noch durch die blutige Kruste, die sich über der Wunde gebildet hatte.
Kurz glaubte Gogol sich daran zu entsinnen, dass der seltsame Fremde vor Jahren bereits einmal in seinem Geschäft gewesen war, tat den Gedanken aber sofort wieder ab. Die Wahrscheinlichkeit war gering, denn dies war kein Künstler, wie jener Kunde damals, dies war lediglich ein weiterer Wahnsinniger, ein Spinner und Freak, wie es sie auf Triton zuhauf gab – einer jener dunklen Gesellen, vor denen man sich tunlichst in Acht nehmen musste, wenn man die Hölle des Gefängnisplaneten überleben wollte.
Trotz des Ekels, den er empfand, riss er sich zusammen. Auch diese Kreatur war letztlich nur jemand, mit dem sich vielleicht ein lohnendes Geschäft abschließen ließ.
Die mit der Erscheinung des alten Chinesen verbundene Verkaufsroutine rief ein gewinnendes Lächeln ab, überreichte das verlangte Opium und legte mit einer verbindlichen Geste noch ein verschweißtes Päckchen synthetischer Tranquilizer bei.
Summend glitt eine billig gefertigte, elektronische Kralle unter dem Umhang der Kreatur hervor, nahm die Drogen entgegen und ließ im Gegenzug ein paar Goldmünzen in Gogols Hand fallen.
Dann verschwand der Mann so plötzlich wie er gekommen war, und Gogol sah ihn – zu seiner größten Erleichterung – nie mehr wieder.

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