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Tentakeltraum
So, wie er da stand, den schlanken Leib gegen das Licht des Vollmonds gereckt, konnte man ihn inmitten der Felsformation für einen gigantischen, erigierten Penis halten. Die leichte Vibration der kraftvoll gestreckten Gestalt trug mit ihrer wachsamen Spannung zu diesem Eindruck bei.
Marechal a. D. Rahel Tooma hatte nie besondere Verwendung für männliche Geschlechtsorgane gehabt und diese spezielle Assoziation ließ ihre Entschlossenheit, so genau wie möglich zu zielen, nur noch größer werden. Der große Schwanz, den manche dort möglicherweise zu sehen glaubten, war in Wirklichkeit ein voll entwickeltes, intelligentes Lebewesen. Ein Alien. Ein Tentakel. Über die Art seiner Intelligenz machte sich Tooma keine Illusionen. Der da oben war ein Soldat, allein gezüchtet oder angepflanzt zum Kampf. Darauf waren auch alle seine geistigen Fähigkeiten hin ausgerichtet. Der Tentakelsoldat war intelligent, aber das auf eine sehr eingeschränkte Art und Weise. Tooma bezweifelte, dass sie mit diesem Alien eine sinnvolle Kommunikation würde beginnen können.
Das war auch nicht weiter schlimm.
Die einzige Form der Kommunikation, an der Rahel in diesem Augenblick interessiert war, bestand darin, den Soldaten mit einem wohl gezielten Schuss außer Gefecht zu setzen. Das war aufgrund der Konsistenz seines Körperpanzers sehr schwierig, aber Rahel glaubte daran, dass man mit Herausforderungen wuchs. Die vergangenen Monate, in denen sie und ihre Gefährten bereits diesen kleinen Guerillakrieg gegen die Invasoren führten, waren ein einziger Wachstumsschub gewesen.
Rahel fixierte den Alien noch einmal genau durch das Visier ihres Sturmgewehrs, atmete aus und drückte ab. Die hochbeschleunigte Sniperpatrone wurde lautlos abgefeuert, dafür sorgte der Schalldämpfer.
Etwas spritzte auf. Der schlanke Tentakelkörper sackte zusammen.
Coitus interruptus!, dachte Tooma. Sie glitt bereits die Anhöhe hinunter, das Sturmgewehr wie eine Geliebte an sich gedrückt. Sie wusste, wie die Tentakel im nahen Lager reagieren würden. Damit rechnete sie sogar fest. Suchscheinwerfer gingen an. Bewegung, scheinbar hektisch und chaotisch, doch, wie Rahel mittlerweile genau wusste, sehr gut organisiert. Zielgerichtet. Aber das Ziel war beweglich, fast unsichtbar und kannte das Terrain. Das Ziel war Rahel und es rannte.
Sie wusste, dass die Bodensensoren ihre Schritte anmaßen und den Aliens ihre ungefähre Position enthüllten. Ungefähr genug, um Rahel sowohl als Köder für eine Jagd nützlich zu machen, wie auch die notwendige Ablenkung für Li zu schaffen, der den eigentlichen Angriff durchführte. Eine Aufgabe, die nur unwesentlich weniger gefährlich war als ihre eigene. Doch sie beide waren mittlerweile ein sehr gut aufeinander eingespieltes Team, das einander blind vertraute.
Rahels Lauf war zu einem regelmäßigen Trott geworden. Sie hatte Position Alpha beinahe erreicht. Hier würde sie sich zum ersten Mal verteidigen. Sie hoffte, dass sich die militärische Doktrin ihrer Feinde nicht verändert hatte. Wenn alles so klappte wie geplant, hatten sowohl die Tentakel als auch Rahel diese Nacht noch einiges vor.
In ihrem rechten Ohr erklang ein sanftes, kaum wahrnehmbares Knistern. Li hatte seine Mission begonnen. Vor Rahels geistigem Auge stand der alte Mann, den Raketenwerfer in Position gebracht, die Zieldaten verifizierend. Dann musste er auf den Auslöser drücken. Die Zeitverzögerung würde ihm einen kleinen Vorsprung geben, um sich auf seine zweite Position zurückziehen zu können. Dann würde die Rakete
Tooma sah einen hellen Lichtschein über dem Lager auftauchen. Ein dumpfes Grollen, ein Luftstoß, heiße Luft, die an ihrer Stelle nur noch als plötzliche Wärme wahrnehmbar wurde. Ein Pflanzzentrum der Invasoren war dem Erdboden gleich gemacht, wenn Li richtig gezielt hatte. Alle Setzlinge, die Gärtner
und die Pflanztöpfe, lebende, menschliche Gehirne, in die die Wurzeln der Setzlinge gestoßen worden waren.
Rahel bekämpfte kurz die aufsteigende Übelkeit, die sie jedes Mal erfasste, wenn sie daran denken musste. Die Drogenpakete unter ihrer Haut hatten die Aufwallung schnell wieder unter Kontrolle. Sie spürte, wie sich ihr Magen beruhigte, wie falsche, künstliche Zuversicht ihr Bewusstsein erfüllte.
Rahel kauerte sich hinter einem vorbereiteten Baumstamm zusammen. Ein zischendes Geräusch ertönte, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Die erste Falle war gesprungen. Ein oder zwei Tentakel weniger auf der Jagd nach ihr. Die Aliens begriffen das Konzept technikloser, archaischer Fallenstellerei nur langsam und Rahels Repertoire war umfassend genug, um die Aliens noch eine Weile zu überraschen. Lianen, Bäume, Äste, vielleicht noch ein Seil, mehr benötigte sie dafür im Regelfalle nicht. Die Tentakel schienen sich nur schwer auf die scheinbar widersprüchlichen Taktiken zur selben Zeit einstellen zu können. Das war Rahel gerade recht. Viele ihrer kleinen Erfolge basierten darauf. Sie hoffte, es würde noch eine Weile so bleiben.
Dann ein scharfes Krachen, direkt an ihrem rechten Ohr. Sie musste gar nicht nachsehen, um zu wissen, was da war. Im Holz steckte ein Tentakelstachel, auf gut Glück aus der Dunkelheit abgefeuert. Dann ein dumpfes Geräusch, begleitet von einer Erschütterung. Das leise Schnattern von Aliens. Die zweite Falle. Und jetzt sah Rahel die Invasoren durch den Infrarotfilter. Ihre eigene Kampfrüstung verhinderte, dass die Tentakel sie so wahrnehmen konnten. Die Aliens statteten ihre Soldaten schlecht aus, denn sie hatten mehr als genug von ihnen. Sie bauten auf Quantität, und diese Quantität brach jetzt durch das Unterholz auf Rahels Stellung zu.
Sie hatte bereits angelegt und drückte ab.
Diesmal keine Snipermunition, sondern Masse für Masse. Nur für einen kurzen Augenblick bekämpfte Rahel die Tentakel auf diese Art, die der Feind verstehen konnte. Alienkörper verglühten im plötzlichen Licht der aus dem Nichts erscheinenden Plasmabolzen. Abgerissene, angekokelte Körperteile wirbelten umher. Ein strenger Geruch nach verbranntem Gemüse lag in der Luft, da die Sekundärhitze die Haut anderer Soldaten zum Schmoren brachte. Aufgeregtes Quieken hallte durch das Gehölz. Als der erste Stachelschwarm in den Baumstamm einschlug, von dem aus gefeuert worden war, rannte Rahel bereits wieder. Die Stampede der sie verfolgenden Tentakel würde die Bodensensoren beeinträchtigen. Tooma schlug aber keine Haken. Sie wollte, dass die Aliens ihr auf der Spur blieben. Position Beta sollte auch noch zu ihrem Recht kommen.
Wieder ein Knistern in ihrem Ohr. Li hatte seine zweite Stellung bereits erreicht, wo ein weiterer Einmalraketenwerfer platziert war. Wieder sah sie ihn förmlich vor sich. Zielen, abdrücken, laufen. Sie rannte und zählte. Dann eine weitere Explosion, ein Licht vom Lager her, diesmal weniger gut zu erkennen, ein warmer Lufthauch wenig später. Das war der Landeplatz mit fünf säuberlich in einer Reihe geparkten Sklaventransportern, nun nicht mehr als glühende Schlacke. Li würde sich nun zur Fluchtposition zurückziehen und dort auf sie warten. Tooma gab ihm Zeit, aber die Wirkung ihrer Ablenkung begann nachzulassen. Die zweite Explosion hatte die Cheftentakel offenbar davon überzeugt, dass die größere Bedrohung woanders lag. Rahels Verfolger wurden weniger.
Das war in Ordnung, der Schaden war angerichtet, jetzt ging es nur noch um den erfolgreichen Rückzug. Position Beta war direkt vor und das krachende Getrampel ihrer Verfolger direkt hinter ihr. Während sie sich der Umgebung anpasste, um leichtfüßig durch das Gehölz zu gleiten, passten die Tentakel die Umgebung sich an. Rahel war schneller, aber sie konnte für geraume Zeit jeden Fluchtweg nur einmal nutzen.
Position Beta war eine kleine Lichtung, ein Präsentierteller, wäre da nicht der große, schwarze Baumstumpf, Überbleibsel eines Blitzeinschlages, der hier einen alten und mächtigen Dschungelriesen gefällt hatte. Selbst seine toten Reste türmten sich im Licht des Vollmondes wie ein lauerndes Ungetüm vor ihr auf. Sie begrüßte den toten Riesen in Gedanken wie einen Freund, einen Kameraden, und in gewisser Hinsicht war er das auch. In seinem Inneren lag vorbereitet ein altes Gewehr, festgeklemmt in den zackigen Holzresten, auf Automatik geschaltet. Eine kleine Ablenkung, die nichts weiter tun sollte, als ihre Präsenz vorzutäuschen. Viel wichtiger waren die fünf Kilogramm hocheffektiver Plastiksprengstoff, die sie darin platziert hatte. Langsam ging ihr Vorrat zur Neige. Sie würde künftig damit noch sorgfältiger haushalten müssen.
Doch dieses eine Mal sollte es noch einmal richtig und hoffentlich wirkungsvoll krachen.
Rahel schlüpfte am Baumstamm vorbei. Noch während sie in dem Unterholz der gegenüberliegenden Seite der Lichtung verschwand, drückte sie den Funkauslöser. Das alte Gewehr im Baumstumpf begann, den heranstürmenden Tentakeln relativ harmlose Vollmantelprojektile entgegenzuhusten. Keine Notwendigkeit, teurere Munition zu verschwenden. Ein Piepen meldete Rahel, dass die ersten Tentakel den Stumpf erreicht hatten. Bevor sie merken konnten, dass niemand dort auf sie wartete, zündete Rahel den Sprengstoff, warf sich zu Boden und gestattete sich den Luxus eines Blicks zurück. Die helle Lohe der Explosion verschlang ein gutes Dutzend Aliens, weitere brennende Tentakel, die kreischend über die Lichtung wankten. Sie unterschieden sich von den brennenden Bäumen um sie herum nur durch ihre erratischen Bewegungen. Auch in Rahels Nähe hatte das Unterholz Feuer gefangen. Vorsichtig zog sie sich weiter zurück. Die Tentakeltruppen waren in Auflösung begriffen. Rahel schlüpfte durch die Bäume und das Kreischen der brennenden Gegner verklang hinter ihr. Jetzt ging sie unregelmäßigen Schrittes, schlug Haken, kletterte auf umgestürzten Bäumen entlang die Bodensensoren mussten angesichts des Chaos ihre Spur verloren haben und bald würde sie ihre Reichweite ohnehin verlassen haben.
Sie rannte jetzt wieder. Ihr Schritt war leicht. Die Verfolger, das hörte sie deutlich, hatten aufgegeben. Die Erfahrung zeigte, dass die Aliens sich nie allzu weit von ihrem Lager entfernten, wenn sie keinen konkreten Feind identifizieren konnten. Rahel lenkte ihre Schritte auf die Fluchtposition zu, in der festen Erwartung, dort Li vorzufinden, mit dem sie sich dann auf den langen Marsch zurück ins Gebirge machen würde. Die Befriedigung, einen klaren Sieg errungen zu haben, hielt aber nicht lange vor. Tooma wusste genau, dass sie nicht mehr als ein kleines Ärgernis darstellten. Am Schicksal von Lydos würden sie mit ihrem trotzigen Kampf nichts ändern können. Und eines Tages, dessen war sie sich bewusst, würden die Suchtrupps der Tentakel sie finden. Es war ihnen schließlich schon einmal gelungen.
Ein zweites Mal würden sie ihnen kaum entkommen.
Aber bis dahin ...
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