|
Der fünfte Erzengel
»Erich! Was soll das heißen, du kommst heute und morgen nicht?«
»Ich würde ja gern, aber ich kann nicht. Du kennst doch Kohler! Wenn dem eine Sensation durch die Lappen geht, dreht er durch. Er reißt mir den Kopf ab, wenn ich ihn wieder hängen lasse.« Lohmann presste das Handy ans Ohr. Neben ihm wälzte sich der Freitagnachmittagverkehr wie ein zähflüssiger Brei den Gürtel entlang, wobei er einen Lärm verursachte, dass Lohmann kaum sein eigenes Wort verstand. Verdammte Umleitungen! Seinen eigenen Wagen hatte er in einer Tiefgarage in der Nähe des Westbahnhofs geparkt und war den Rest des Mariahilfer Gürtels zu Fuß gelaufen.
»Günter wollte mit uns am Samstagabend wegfahren. Musst du uns immer alles vermiesen? Alex kann doch die Reportage übernehmen!«
Oh, Gott! Wie er das hasste! »Ihr könnt doch trotzdem fortfahren ... wir sehen uns eben nächstes Wochenende.« Pochende Kopfschmerzen machten sich hinter der linken Schläfe bemerkbar und übten einen Druck auf die Stirn aus, der ihn wie einen Betrunkenen über den Gehsteig taumeln ließ. In der drückenden Schwüle lief ihm der Schweiß über die Augenbrauen. Er blickte zu den Dächern der Häuserzeilen empor. Seit Tagen war der Himmel über Wien wolkenverhangen, konnte sich aber nicht dazu entschließen, seine Wassermassen endlich über der Stadt zu ergießen.
»Alex hat mir schon vor zwei Wochen die Geschichte mit den drei Nonnen abgenommen, für die er extra nach Mödling fahren musste, und ...«
»Martin hat den ganzen Tag nach dir gefragt, und ich war selbst dabei, wie du ihm einen Stoffdinosaurier versprochen hast.«
»Ach ja, verdammt, der Dino.« Er massierte sich die Schläfe.
»Was heißt hier der verdammte Dino? Martin ist immerhin auch dein Junge, und würde er nicht so an dir hängen ...«
»Renate, du verdrehst mir das Wort im Mund.« Wie damals, als sie noch verheiratet gewesen waren. Lohmann drängte sich an unzähligen Passanten vorbei. Als er am Beginn einer Menschentraube anlangte, wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte. Die Absperrungen und Polizeiautos, die Umleitungsschilder und das Aufblitzen der Rettungslichter waren nicht zu übersehen. Mit einem hastigen Entschuldigen-Sie-bitte, drückte er sich zwischen den Schultern der Schaulustigen hindurch.
»Treten Sie zur Seite!«, bellte eine metallene Stimme durch ein Megaphon. Lohmann zuckte zusammen.
»Wo musst du denn diesmal wieder hin?« Ihre Stimme klang deutlich leiser, beinahe unverständlich. Typisch Renate, dachte er, zuerst aufbrausend, und Sekunden später auf die Mitleidstour.
»Ich bin am Gürtel - verzeihen Sie bitte - der Kardinal, er ist ...«
»Ich habe es im Radio gehört. Schlimme Sache. Heute wird es wohl nichts mehr, oder?«
»Nein!« Er presste das Handy ans Ohr, damit er überhaupt etwas verstand. Das Gehupe der Autos glich dem Konzert eines Wahnsinnigen. Er schob sich an einigen Reportern vorbei und gelangte an eine gelbe Polizeiabsperrung. Um ihn herum drängten und schubsten die Menschen, dass er befürchtete, das Plastikband könne jeden Moment reißen.
»Soll ich Martin sagen, du besuchst ihn und gratulierst ihm nächstes Wochenende zum Geburtstag?«
»Oh, mein Gott!«, entfuhr es ihm. Seine Hand sank herab. Das Handy war außer Hörweite, er nahm Renates Rufen nicht mehr wahr, sondern starrte auf den verdrehten Körper, der mitten auf dem Zebrastreifen lag. Mit weißer Kreide waren die Umrisse der Gestalt auf den Asphalt gezeichnet. Er hatte Kardinal Reichenvater nur flüchtig aus den Medien gekannt, trotzdem kribbelte ihm eine eiskalte Gänsehaut über den Nacken, als er die reglose Gestalt im schwarzen Anzug auf der Straße liegen sah. Lohmanns Blick zuckte unruhig hin und her und wurde immer wieder von Polizisten, Medizinern und Kriminalbeamten verdeckt, welche die Inhalte ihrer Aktenkoffer auf dem Asphalt ausbreiteten und zwischen Polizeiautos und dem Krankenwagen umherliefen.
»Wurde der Kardinal ermordet?«, fragte Lohmann den Pressefotografen neben sich, den er vom Wiener Blatt zu kennen glaubte.
»Ermordet?«, rief der Mann, ohne den Blick vom Sucher der Kamera zu nehmen. »Geschlachtet!« Das Zoom fuhr mit einem Surren aus, eine Salve Blitzlichter flammte auf. Geblendet schloss Lohmann die Augen. Mechanisch steckte er das Handy an den Hosengürtel, zog den Notizblock aus der Brusttasche und begann zu schreiben. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mediziner mit weißen Handschuhen. Er kniete sich neben dem Leichnam nieder und entwand den verkrümmten Fingern mit der Pinzette einen winzigen Gegenstand.
»Was ist das, Doktor?«, hörte Lohmann die nuschelnde Stimme eines Mannes. Nachdem er sich erste Stichworte notiert hatte, blickte er auf. Eine stämmige Gestalt im maßgeschneidertem, dunkelblauen Anzug beugte sich ebenfalls zu dem Leichnam hinunter. Lohmann kannte den Mann von diversen Reportagen und wusste, dass er Kommissar war. An seinen Namen konnte er sich jedoch nicht erinnern.
Der Mediziner reichte dem Kriminalbeamten ein Stück Papier.
»Halt drauf, halt drauf!«, quiekte die Stimme einer Reporterin neben Lohmann.
»Ja, sicher«, brummte der Pressefotograf gleichgültig.
»Kommissar Riedl, haben Sie eine Spur?«, rief die Frau vom Wiener Blatt. Ihre Stimme schnitt Lohmann wie ein glühendes Eisen durch den Kopf. Der Kommissar machte sich nicht einmal die Mühe aufzublicken, sondern faltete das zusammengeknüllte Papier auseinander, das der Tote gehalten hatte. Lohmann lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er kannte das Logo auf der Rückseite der Visitenkarte! Seine Hände begannen zu zittern, Notizblock und Druckbleistift fielen ihm aus den kraftlosen Fingern. Das Logo war ihm so vertraut, die beiden aus dem Internet heruntergeladenen verschnörkelten, blauen Initialen: E. L. Mit einem Mal wusste er, dass er so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte.
»Beweismaterial, meine Dame. Mehr brauchen Sie im Moment nicht zu wissen.« Kommissar Riedl ließ die Karte in einer Plastiktüte verschwinden.
»Hast du´s, hast du´s?«
»Gestochen scharf!«
Lohmanns Gaumen trocknete aus - er hatte kaum genug Speichel, den bitteren Geschmack hinunterzuschlucken, den er stoßweise heraufwürgte. Sein Magen rebellierte, sein Herz pochte bis zum Hals. Er sah nur verschwommen, wie sich der Kommissar zu seinen Mitarbeitern umdrehte, die Plastiktüte weiterreichte und ihnen etwas zuflüsterte. Unmittelbar darauf griffen die Männer nach ihren Funkgeräten. Lohmann wandte sich ab und drängte sich aus der Menschentraube.
»Wir müssen das Bild an die Redaktion mailen«, bohrte sich die schrille Stimme in Lohmanns Kopf. »Hast du´s? Was steht auf der Visitenkarte?«
»Erich Lohmann oder so ähnlich ... den Namen kenne ich doch! Ist das nicht einer von Kohlers Reportern?«, murrte der Pressefotograf.
Lohmanns Herz begann zu rasen. Eilig zwängte er sich zwischen den Schaulustigen hindurch, aber jemand hielt ihn am Hemdsärmel fest. Lohmann riss sich los. Kurz darauf wurde er jedoch am Handgelenk gepackt.
»Herr Lohmann?«, flüsterte ein Mann, der Lohmann bis zur Schulter reichte. Er drängte sich an seine Seite.
»Sie müssen mich verwechseln!« Lohmann blickte in zwei fingerdicke, beschlagene Brillengläser, die auf der Nase des untersetzten Mannes klemmten. Er trug blondes, kurzgeschorenes Haar und schwitzte, als wäre er eben über den gesamten Gürtel gerannt. Der Fremde musste etwa in Lohmanns Alter sein, Ende dreißig, mit feinen, beinahe femininen Gesichtszügen.
»Geben Sie eine Großfahndung an die Medien, Kommissar?«, drang die schrille Stimme ein letztes Mal über den Platz. Dann war sie zu weit entfernt, Lohmann konnte sie nicht mehr verstehen.
»Lesen Sie in der Bibel ...« Der Zwerg schob sich an Lohmanns Seite aus der Menschentraube.
»Nein.« Im selben Moment wurde Lohmann klar, dass es keine Frage, sondern eine Aufforderung gewesen war.
»... das Evangelium des Matthäus, Kapitel vierundzwanzig«, fügte der Fremde hinzu. »Und betrachten Sie Kohlhammers Vision von der Apokalypse genauer!«
»Lassen Sie mich in Ruhe! Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?« Lohmann riss sich von dem Mann los, um den Gehsteig zur Tiefgarage zurückzulaufen. Er fühlte sich beengt, musste weg und dringend frische Luft schnappen, damit sich sein Herzschlag beruhigte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie eine Gestalt mit einem bodenlangen, schmuddeligen Mantel aus dem Schatten einer Hauseinfahrt trat und auf dürren Beinen die Hausmauer entlangstakste. Um den Hals trug die Gestalt eine Kette, an der ein glitzernder Gegenstand auf und ab wippte. Der Dürre erinnerte Lohmann an Salvador Dalís Vision von einer Brennenden Giraffe.
Der kleine Mann lief immer noch keuchend neben ihm auf dem Gehsteig her, blickte gehetzt über die Schulter und redete hastig auf ihn ein. »Ich muss weg! Passen Sie gut auf sich auf und gehen Sie dorthin!« Nachdem er Lohmann einen Zettel in die Hand gedrückt hatte, war er verschwunden.
Woher kannte der Mann seinen Namen? Lohmann sah sich nach dem Fremden um, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Er hetzte weiter, bei Rot über die Fußgängerampel, vorbei an den stockenden und hupenden Autos, bis er endlich das neonblaue Schild der Tiefgarage an der Hausfassade erblickte.
Der plötzliche Adrenalinschock hatte den Druck in seinem Kopf verschwinden lassen. Keuchend umklammerte er das Geländer am Beginn des Treppenabgangs. Er starrte auf den zerknüllten Zettel in seiner Hand. Die achtlos hingekritzelten Zeilen waren kaum zu entziffern. Schließlich glaubte er einen Namen, eine Mödlinger Adresse und eine merkwürdige Bezeichnung zu erkennen. Die Bruderschaft der letzten Wache, was immer das zu bedeuten hatte; jedenfalls klang es, als wäre es ein billiger Witz.
So viele Fragen quälten ihn - allen voran, wie eine seiner Visitenkarten in die Hand des ermordeten Kardinals gelangt war?
Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|
|