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Grauert im Einsatz!
as Telefon riss den Kommissar aus seinem unruhigen Schlaf.
Er wischte sich die Augen und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zwei.
Aber es war kein Anruf, sondern ein auf dem Hauptanschluss des Reviers eingehendes Fax. Er verdrehte die Augen. Entweder handelte es sich bei diesem Fax um einen Irrtum oder aber es war verdammt wichtig.
Der Wunsch weiterzuschlafen - eigentlich bis das ganze Dilemma hinter ihm lag - war groß, aber nicht größer als der zu wissen, was der Inhalt dieses Schreibens sein mochte.
Schlaftrunken wälzte Mathesdorf sich vom Sofa und wankte zum Schreibtisch hinüber.
Er hoffte nur, dass es nichts mit diesen beiden Farbigen zu tun hatte. Die beiden Weltuntergangsjünger gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Und irgendwie hatte ihn längst das Gefühl beschlichen, dass es doch besser gewesen wäre, ihre Personalien festzuhalten... Der Inhalt des Schreibens aber war ein vollkommen anderer.
Tatsächlich war es seit Tagen der erste Sonnenstrahl, der die dunklen Schatten dieses Falles zu durchdringen vermochte.
Und genaugenommen schien dieses Fax die Rettung seiner Karriere.
Wittgenstein hatte, was immer er von den Bergungsaufzeichnungen noch besaß, seinem Freund Grauert überlassen. Wenn dieser bezüglich der seltsamen Todesfälle etwas herausfand und Wittgenstein der Polizei daraufhin einen anonymen Tipp geben konnte, der dazu beitrug das Ganze zu beenden, dann würde er wieder in Ruhe schlafen können.
Jedenfalls wusste Wittgenstein, dass Grauert der einzig richtige für diese Aufgabe war. Er hatte ihm schließlich noch jedes Mal geholfen.
Vor einem Jahr hätte er wahrscheinlich noch selbst versucht, das Ganze aufzuklären. Inzwischen aber war er es gewohnt, andere Leute seine Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Er selbst konnte gar nichts mehr tun, klemmte aufgedunsen im großen Fernsehsessel des Lebens fest, war dazu verdammt, diesen Film an sich vorüberziehen lassen und von Zeit zu Zeit mittels verbotener Substanzen die Farben und den Kontrast zu regulieren.
Genaugenommen war Wittgensteins Leben eine Art Pay-TV. Simon Grauert hätte sich das schwerlich leisten können. Er saß zuhause an seinem Schreibtisch und hatte besseres zu tun als sich über seinen kaputten Fernseher zu ärgern.
Er hatte den Bergungsbericht inzwischen wohl drei Mal gelesen. Ganz zu schweigen von den diversen Malen, die er ihn im Zuge der Bergung gelesen hatte. Und die Hälfte hatte er damals sogar selbst geschrieben.
Abgesehen von dem Bericht hatte Wittgenstein ihm auch die Photos mitgegeben. Und auch die hatte er in den letzten Stunden mehr als einmal durchgesehen. Ohne nennenswertes Ergebnis. Aber da war noch etwas Anderes, das Wittgenstein ihm überlassen hatte: die goldene Schatulle, die nun, in ein helles Leinentuch eingeschlagen, zwischen Pizzapappen, Comics, einer alten Polaroid und einigen amerikanischen Ausgaben des Hustler vor ihm auf seinem Schreibtisch lag. Hätte der Herrgott ihm nicht Comics und Pornographie in den Weg gelegt, hätte aus Grauert sogar etwas Vernünftiges werden können. So aber studierte er nunmehr im 23. Semester, und zwar ohne dass ein Ende in Sicht gewesen wäre.
Doch dafür konnte er zumindest seiner Neugier frönen.
Tatsächlich sogar öfter als er seine Miete zahlen konnte.
Und obwohl weder der Bergungsbericht noch die Fotos ihn weitergebracht hatten, hatte er plötzlich wieder alles vor Augen. Das Meer, die Carmen, der kleine Kutter, den sie gemietet hatten, die Dekompressionsanzüge und dann das Wrack der Neruda. Aber auch diese Erinnerungen halfen ihm jetzt kaum weiter. Da kam ihm plötzlich noch ein ganz anderer Ansatz in den Sinn. Womöglich gab es noch etwas Anderes, das ihn weiterbringen konnte: Das Logbuch des Kapitäns der Neruda. Das Original war inzwischen in irgend einem spanischen Museum gelandet, aber Grauert besaß die englische Übersetzung der Taschenbuchausgabe von Antonio Minguez.
Der Kapitän der Neruda war ein gewisser Octavio del Flores gewesen, der sich bereits 1497 unter Vasco da Gama als Kommandant der San Raffael durch sparsame Rationierung hatte hervortun wollen. Del Flores eigenwillige Einteilung der Vorräte hatte zur Folge gehabt, dass der größte Teil seiner Mannschaft kurz hinter dem Kap der guten Hoffnung an Skorbut zugrunde gegangen war. Und letztendlich hatte die San Raffael, deren Besatzung zum Führen des Schiffes nicht mehr ausgereicht hatte, versenkt werden müssen.
Nach seinen Verfehlungen unter da Gama hatte Octavio del Flores nach zwei Jahren ohne eigenes Schiff schließlich das Kommando über die Neruda erteilt bekommen, mit deren ehrgeiziger Reise er Cabral hatte imponieren wollen, an dessen nächster Expedition er unbedingt hatte teilnehmen wollen.
Pedro Álvarez Cabral aber hatte del Flores nie zu Gesicht bekommen.
Drei Monate bevor er sich auf den Weg nach Indien gemacht hatte, war die Neruda mit Mann und Maus nahe Malindi gesunken.
Drei Überlebende hatte es gegeben.
Del Flores war nicht darunter gewesen.
Der Aussage eines überlebenden Matrosen zufolge war der Kapitän ertrunken, und an der Oberfläche war nicht mehr als sein wurmstichiges hölzernes Gebiss zurückgeblieben, das zwischen den Wrackteilen seine Kreise zog.
Einer anderer Überlebender hatte jedoch sowohl das Tagebuch als auch das Logbuch des Kapitäns retten können. Beides hatte er mitsamt dem Rosenkranz und dem Astrolabium des Kapitäns in einer lackierten schwarzen Schatulle bald an einen portugiesischen Navigator verkauft.
Diese beiden Bücher waren es, die Abenteurer auf der ganzen Welt nach dem Wrack hatten suchen lassen, in dessen Frachtraum sich neben der üblichen Ladung angeblich ein nicht zu verachtender Goldschatz befand.
Die Reichtümer im Inneren der Neruda aber waren beileibe nicht so prächtig gewesen wie Minguez sie in seinem Buch beschrieben hatte. Aber es hatte sich gut verkauft und war weltweit in zwölf Übersetzungen in den Regalen verschiedenster Möchtegern-Archäologen zu finden. Allein Wittgenstein besaß drei. Minguez hatte sein Werk mit einiger Dramatik, Mystik und Action angefüllt. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Grauert das Buch schon beim ersten Lesen für denkbar schlecht befunden.
Was ihn in dieser Nacht dennoch veranlasste, es ein weiteres Mal zur Hand zu nehmen, war jene Schatulle, die inmitten seines Zimmers mehr wie billiger Nippes denn wie massives Gold anmutete. Nachdenklich betrachtete er das Kästchen und den schmutzigbraunen verkrusteten Fleck an seiner Oberseite.
Dann nahm er das Buch zur Hand und begann von neuem darin zu blättern; er erinnerte sich ganz genau, dass irgendwo darin von genau einer solchen Schatulle die Rede gewesen war...
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