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Kapitel Achtundzwanzig
Etliche tausend Meilen ostwärts und Stunden in der Zeit versetzt schlug Thomas seine Augen auf. Im Licht der Straßenlampen, das durch schmutzige Fenster fiel, sah er, dass er nicht alleine auf den Tag der Entscheidung wartete. Nebenan schlief David und drehte sich auf seinem Feldbett unruhig hin und her. Roland zog es vor, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. Wie gut, dass der Häuptling an alles dachte. Wie gut, dass er alles im Griff hatte. Bei diesen Gedanken drehte sich Thomas der Magen um. David hatte bei Rolands Abschied kein Wort erwidert und genickt. Wie er es immer machte, wenn Ungemach drohte.
Thomas gefiel nicht, was seine innere Stimme sie war in den vergangenen Stunden zu alter Größe gelangt ihm zuflüsterte.
Auch damals hast du genickt, David, als wir Marc an den Marterpfahl stellten und ahnten, dass er dort sehr, sehr lange auf uns warten würde. Glaubst du, ich habe das vergessen? Jetzt lässt du Roland erneut freie Hand. Weil du immer noch denkst, dass er alles unter Kontrolle hat. Weil du immer noch hoffst, dass du deine Hände in Unschuld waschen kannst. Aber diesmal, David, irrst du dich. Diesmal ist es nicht damit getan, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich war damals ein naiver, dummer Junge, habe Roland bewundert, zu ihm aufgeschaut und hätte alles getan, was er von mir verlangt. Ich war stolz darauf, an seiner Seite sein zu dürfen. David, wenn du ehrlich bist, dann gibst du zu, dass es dir genau so ging. Auch du hast bewundert, wie er es geschafft hat, Sonja zu beeindrucken. Auch du warst in sie verliebt. Das habe ich dir angesehen.
Du hättest alles dafür gegeben, so zu sein wie Roland. Und jetzt? Was ist aus uns geworden? Keiner von uns hat Sonja bekommen. Sie ist tot, und wir haben einen unschuldigen Jungen auf dem Gewissen, der seit mehr als zwanzig Jahren in einem Erdloch steht. Seinen Eltern haben wir das Herz gebrochen. Sonja hat uns unsere Feigheit niemals verziehen. David, wir zwei waren so weich wie Butter. Und irgendwie sind wir es immer noch. Nach all den Jahren.
Nach all der Zeit.
Ihm war schlecht. Und er hatte Durst. Großen Durst. Wie lange war er jetzt schon trocken? Zwei Wochen? Drei Wochen? Lange genug jedenfalls, um die Zunge in seinem Mund in ein pelziges Etwas zu verwandeln. Er drehte sich auf die Seite. Das Bett quittierte die Bewegung mit beleidigtem Knirschen. Er hoffte, der Durst würde verschwinden und Müdigkeit Platz machen. Das hatte ihn schon so manches Mal vor Dummheiten bewahrt. Thomas fragte sich, was David und Roland von ihm hielten. Er wusste, dass sie ihn als den Geist erkannt hatten, der er war ein Mann mit großem Durst. Ein Mann, dem nichts heilig war, sofern ein gut gefüllter Kühlschrank in der Nähe stand.
In der Küche nebenan wartete eines dieser Retro-Dinger: blau lackiert, mit silbrig schimmernden Schriftzügen, rundem Bauch, stilvoll geschwungenen Griffen und von der Größe eines ausgewachsenen Mannes. Einen solchen Kühlschrank hatte Thomas sich immer gewünscht, einen dekadenten Stromfresser, der Tag für Tag die Kapazität eines halben Kernkraftwerks für sich beanspruchte, voll gestopft mit Köstlichkeiten aus aller Herren Länder. Ein Kühlschrank, der so aussah, als habe ihn irgendwann in den 60er Jahren ein Zeitstrahl erwischt und geradewegs hierher gebracht. Roland hatte das gute Stück bis zur Ladekante gefüllt. Es sollte den Kriegern im Wigwam an nichts fehlen. Noch zwei Squaws, und die Nacht wäre perfekt.
Bislang hatte Thomas dem Klirren der Bierflaschen, die bis unter das Eisfach gestapelt waren, tapfer widerstanden wie dem Gesang von Sirenen, die ihn mit verführerischen Melodien immer aufs Neue peinigten. Jetzt aber war der Durst unerträglich. Er breitete sich in ihm aus wie ein Lauffeuer, das selbst Red Adaire niemals in den Griff bekommen hätte.
Thomas rang mit sich selbst, immer in der Hoffnung, dass der Schlaf ihn doch noch übermannte und jede Meuterei im Keim erstickte.
Ich muss was trinken. Unbedingt. Warum musste ich auch Pizza mit Peperoni in mich hineinstopfen? Das Zeug hat der Teufel höchstpersönlich belegt. Satan versklavt seine Jünger mit italienischer Teigware und entzündet in ihnen das größte Höllenfeuer, das Menschen sich vorstellen können.
Thomas kam zu dem Schluss, dass es auch ein Schluck Wasser tat.
Das reicht. Fürs erste.
Er schwang zunächst seine Füße aus dem Bett und danach den Rest seines Körpers, der sich so anfühlte wie von einer Dampfwalze überrollt. Der Holzboden unter seinen Fußsohlen war kalt. Ein Frösteln arbeitete sich an seinen Beinen bergauf und klang erst kurz vor seinem Wasserwerk ab.
Zum Klo gehe ich auch noch, obwohl die Spülung so laut ist wie ein ICE am Döppersberg. Was reinkommt, muss auch wieder raus. So einfach ist das. Vorausgesetzt, man steht nicht an einer Eisenstange und ist mit Ledergürteln gefesselt. Sie wurde größer und größer die Sehnsucht nach einer gekühlten Glasflasche, die im Lichtschein der Zeitmaschine verführerisch glänzte. Wie ferngesteuert verließ Thomas das Schlafzimmer, darauf bedacht, David nicht zu wecken. Was sollte er zuerst erledigen? Ebbe oder Flut? Rein oder raus? Null oder Eins? Plus oder Minus? Und was ist eigentlich, wenn kein Wasser mehr da ist, sondern nur noch Bier, Bier, Bier? Vielleicht stehen weiter hinten auch ein paar härtere Sachen. Wie lange hatte er kein Bier mehr getrunken, seitdem er den Säufermond, der sein Zuhause war, per Apollo-Kapsel verlassen hatte? Entschuldigung, Herr Wagner, bei uns an Bord gibt es nur Nichtalkoholisches. Alles andere müssen wir Ihnen in Rechnung stellen.
Thomas entschied sich für die Flut.
Dem brennenden Durst konnte er kaum noch standhalten, so sehr er sich auch bemühte. Er vermied es, das Licht einzuschalten. David durfte nicht mitbekommen, dass er schwach wurde, dass er einmal mehr seine Seele an den Flaschenteufel verhökerte und sich ein eiskaltes Bier gönnte. Und da war sie wieder, die Polka-Band, die in Thomas Kopf zu ihren Instrumenten griff.
Tanzt mit uns, Leute, tanzt mit uns bis Sonnenaufgang. Dann brechen wir auf in den Wald ohne Wiederkehr, um eine verlorene Seele zu retten. Einer für alle und alle für einen!
Thomas stand vor dem Kühlschrank und fühlte sich wie ein Archäologe, der in einem Maya-Tempel die Entdeckung seines Lebens gemacht hat. Er lauschte dem Summen, in das sich die zweihundertzwanzig Volt jenseits der Kabel und Stecker verwandelten, zog am Griff und lauschte dem Schmatzen der Türdichtung, als sich ihre Gummilippen widerwillig trennten. Er stand im Licht der Innenbeleuchtung und spürte, wie klamme Kälte durchs T-Shirt und durch die Shorts auf seine Haut kroch, mit eisigem Griff das Wasserwerk erreichend, in dem dringend das Hauptventil zu öffnen war, sollte nicht doch noch ein Rohr platzen. Thomas rieb sich die Hände in Aussicht auf einen aufregenden Flaschenflirt bei fünf Grad Celsius. Wie oft hatte er vor Ungetümen dieser Art gestanden? Das Klirren ihrer gläsernen Innereien war eine Sprache, die überall auf dem Erdball verstanden wurde unerheblich, ob es sich um Minibars auf Hotelzimmern handelte oder um Monster dieser Größenordnung.
Hinter der Tür des Eisfachs schlummerte Mr Peperoni. Thomas bemühte sich, ihn auf der Suche nach einer Flasche Bier nicht zu wecken. Die Wasserflaschen, die Spalier standen, ignorierte er. Der Durst, der ihn heute Nacht quälte, war nur mit Dr. Hopfen und Professor Malz in Schach zu halten, gebraut nach Deutschem Reinheitsgebot, mit Quellwasser zum Ritter geschlagen, würzig und gut, aufrichtiger als ein Pastor bei der Sonntagspredigt.
Nur eine halbe Flasche, den Rest schütte ich in den Ausguss. Ehrenwort!
Er schob zwei Päckchen Aufschnitt zur Seite, um ans Bier zu gelangen. Doch alles, was er sah, war ein Gesicht mit leeren Augenhöhlen, das sich ihm entgegenstreckte, gefolgt von kreideweißen Armen, die aus bodenloser Tiefe hervor schossen wie hungrige Raubtiere.
Thomas konnte noch nicht einmal schreien.
Eisige Hände schlossen sich um seinen Hals. Es waren die Hände eines Kindes, aber sie hatten die Kraft eines Erwachsenen. Thomas würgte, lief blau an und rang nach Luft. Einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen dann sah er die Eisenkanten der Kühlschrankregale auf sich zu rasen. Sein Kopf schlug gegen eines der Gitter, und wieder rissen ihn die Arme mit unglaublicher Präzision zu sich. Thomas schmeckte Blut, das sich in seinem Mund ausbreitete wie verschüttete Tinte auf einem Stück Löschpapier.
Hallo Thomas, rief eine vertraute Kinderstimme, schön, dass du mich besuchst. Die Schraubstock-Finger lockerten ihren Griff. Gierig holte Thomas Luft, bevor die Hände seine Kehle erneut umklammerten und ihn noch weiter in das Innere des Schranks zogen.
Die verbeulten Gitter erinnerten an die Reling eines Frachtschiffs mit schlecht gesicherter Ladung, das durch die Unachtsamkeit seines Navigators in einen Tropensturm geraten war. Die ersten Flaschen polterten in die Tiefe und zerplatzten auf dem Boden wie Fliegerbomben.
Thomas spürte, wie seine nackten Füße durch Glasscherben geschleift wurden vor, zurück, vor, zurück. Er versuchte noch verzweifelter, sich vom Teufel im Kühlschrank loszureißen.
Hallo Thomas, einen Schluck Bier möchtest du? Dann komm her und hol es dir! Aber erst einmal werde ich dir zeigen, was es heißt, wirklich Durst zu haben.
Thomas Kopf brach durch die Tür des Eisfachs. Er spürte, wie seine Wangen über die Eisfläche rutschten. Dann stand jemand hinter ihm, packte seine Schultern und zog ihn zurück. Der Kühlschrank wurde weich und warm ein Feldbett in der Dunkelheit, das nach Angstschweiß roch.
David hockte davor und schüttelte Thomas.
Wach auf!, rief er und ließ erst ab, als er in Thomas weit aufgerissene Augen sah. Was träumst du da?
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