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Der Moloch
Jeff Warner wohnte in Newtown-Sydney. In der King Street, fast gegenüber dem Toucan Tango, einer Mischung aus Disco und Nightclub, wo sich Freaks, Transvestiten, Homosexuelle und ein Heer erlebnishungriger Normalos in vorwiegend brasilianischen Samba-Rhythmen wiegten. Eine Schickimicki-Adresse war es nicht. Aber weder diese Tatsache, noch der bis weit in den Morgen gehende Lärm hatten Warner je etwas ausgemacht. Andere, die mit ihm in dem Apartmenthaus wohnten, führten zeitweise regelrechte Privatkriege gegen das Toucan Tango und seine Besucher. Der Ideenreichtum variierte zwischen hasenherzigen Pöbeleien von den Fenstern aus über heimliche Reifenstechereien bis hin zu offenen Prügeleien. Leiser war es dadurch in all den Jahren, die Warner die Fehden mitverfolgte, allerdings noch nicht geworden. ![]() Secada zuckte vor der dämonischen Erscheinung zurück, in die sich die Frau verwandelt hatte, nachdem er sie über das Geländer gestoßen hatte. Hatte sie gelogen, als sie davon sprach, der Weg hinaus führe nur über den Keller? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass der Keller näher lag. Er floh die letzten Stufen nach unten und sah nicht mehr zurück zu dem feuerspeienden Drachenmaul, das ebensogut Illusion wie Wirklichkeit sein konnte. Secada unterschied nicht mehr zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Er wollte nur noch dem Horror entkommen! Alles, was er je über paraphysikalische oder parapsychische Phänomene zu wissen glaubte, hatte er von sich gestreift. Es war nutzlos. Es war lächerlich. Absolut lächerlich gegen das, was tatsächlich möglich war! Seit Betreten dieses verschlingenden Gebäudes glaubte er an Satan, Belzebub, Hexerei, Nekrophilie, alles Okkulte und an Magie. Ganz besonders an Magie. Vorbehaltlos! Hatte Virgil Codd gewusst, wohin er ihn schickte? Dass er ihn ins Verderben schickte? Secada arbeitete mit Codd seit einem Jahr zusammen. Der Polizeichef hatte ihm in Aussicht gestellt, mittelfristig eine eigenständige Abteilung innerhalb der Behörde aufzubauen, deren Leitung Secada übernehmen sollte. Angeblich ging es darum, sich die Möglichkeiten der Parapsychologie für kriminalistische Ermittlungen zunutze zu machen. Damit war Jahrzehnte zuvor schon einmal – vorwiegend in den Ländern des damaligen Ostblocks – experimentiert worden. Greifbare Ergebnisse schien man trotz spektakulärer Einzeltalente nie erzielt zu haben. Dass ausgerechnet die Polizei von Sydney nun darauf zurückkam, hatte Secada von Anfang an verwundert. Doch die in Aussicht gestellte einmalige Chance hatte er sich nicht entgehen lassen wollen, auch wenn sich die Zusammenarbeit mit Codd bereits nach kurzer Zeit als äußerst strapaziös entpuppt hatte. Was Secada immer noch nicht begriff, war, dass Codd ihn schon vor Wochen auf "ein Gebäude, das nicht betreten werden kann", hingewiesen hatte – lange vor dem Zwischenfall, der die Polizeiaktion ausgelöst und zur Absperrung dieses Hauses in der Paddington Street geführt hatte, auf das Codds Umschreibung absolut zutraf. Hatte er dieses Gebäude gemeint, oder war es doch eine rein zufällige Übereinstimmung? Wenn er es aber gekannt hatte, warum hatte er nicht schon vorher etwas dagegen unternommen oder ihn, Secada, vorbeigeschickt? Ein infernalisches Geräusch machte Secada darauf aufmerksam, dass er sich einen ungünstigen Zeitpunkt ausgewählt hatte, um alte Kamellen auszugraben. Das Fundament, das das Haus trug, schien die Last abschütteln zu wollen. Von überallher drang Knirschen, als käme es zu Verschiebungen im felsigen Untergrund, die sich auf das darauf Erbaute übertrugen. "Wohin willst du? Warte!" Sie tauchte am Ende der Treppe auf und war noch perfekter als zuvor. "Nenn mich Esha!" Seine Jugendliebe hatte Esha geheißen. Vor langer, langer Zeit... "Verschwinde!" zischte Secada. "Oder zeig mir den Ausgang! Entscheide dich!" Es war kein Mut, der ihn so auftreten ließ. Es war der Beginn völliger Resignation. "Einmal noch", bat sie. "Liebe mich noch einmal! Ich brauche dich so sehr...!" Sie nannte sich nicht nur Esha, sondern sah jetzt auch so aus. Secada begriff, dass sie seiner unerwidert gebliebenen Liebe schon vorher geähnelt hatte, ohne dass es ihm bewusst geworden war. Der Gedanke machte ihn rasend. "Warum tust du mir das an?", schrie er. Esha trat ihm nackt entgegen und drehte ihm den Rücken zu. "Nimm mich!", bat sie. Er schüttelte den Kopf. Er ging auf sie zu. Streckte die Hand aus. Berührte das Trugbild, das sich echter als die Wirklichkeit anfühlte. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Sein Verstand schrumpfte zur Größe einer Erbse. Seine Finger machten sich selbständig. Er riss sich die Kleidung vom Leib. Esha wartete geduldig. Dann streckte sie ihm ihren wundervollen Po noch fordernder entgegen und liebkoste ihn mit Worten, bis er ihr gab, wonach ihr der Sinn stand. Seine Hände krallten sich in ihr Fleisch. Den Rhythmus bestimmte sie. Secada vergaß, dass sie beide standen. Er vergaß, wo er war. Bis sie unter seinen Händen hart wurde. Hart wie... knorriges, totes Holz! Ungläubig starrte er auf das, in das sie sich verwandelt hatte: ein monströses, alraunenähnliches Wurzelgebilde, das zu Boden stürzte und sich in seine morschen Teile auflöste, als er es losließ! Secada zerrte die Hosen nach oben. Der Wahnsinn flackerte nun endgültig in seinem Blick. Über, unter und neben ihm knirschte das Haus. Der Kellerboden war an etlichen Stellen aufgebrochen. Mächtige Wurzeln sprengten den Stein. Secada begriff, dass es von hier aus nur einen Weg in die Erde, niemals jedoch aus ihr und diesem Gefängnis heraus geben konnte. Er wandte sich der Treppe zu, die bis zur Hälfte ihrer Höhe auch wie eine Riesenwurzel aussah. Von seinen Kräften verlassen, zog Secada sich am Geländer nach oben. Stufe um Stufe. Mühsam entfernte er sich aus der Tiefe. Eine Ewigkeit quälte er sich nach oben. Er wagte nicht, zurückzublicken. Er hatte Angst, sie könnte wieder unten stehen und nach ihm winken. Ihn locken und verschlingen. Halbtot erreichte er das Ende der Treppe und trat durch die Kellertür. Das Haus strahlte in rotem Schein. Rahmen an den Wänden zeigten bewegte Bilder. Auf einigen erkannte Secada sich wieder. Während seiner High-School-Zeit. Mit Esha. Mit Freunden, die er aus den Augen verloren hatte... Er torkelte weiter. Da war Licht geradeaus, das sich von der nebligen Röte unterschied. Er stolperte, fing den Sturz mit den Händen auf, schlug sich aber trotzdem die Knie blutig. Sofort schien der Boden tausend Zungen zu gebären, die ihm das Blut ableckten. Secada rappelte sich krächzend auf und taumelte weiter. Auf das Licht zu, das ihn zu der Türattrappe führte. Die Tür stand sperrangelweit offen. Ein Widerspruch in sich. Aber das war Secada längst egal. Er zog Kraft aus der Hoffnung, es vielleicht doch noch zu schaffen. Die letzten Meter legte er auf allen Vieren zurück. Das Haus seufzte glückselig, als er es verließ. Es ließ ihn gehen. Es widmete seinen Hunger denen, die draußen waren. Es folgte Secada... [Zurück zum Buch] |
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