MÜNCHEN (BLK) – Im März 2011 hat der Carl Hanser Verlag den lange Zeit vergriffenen Roman „Die Ausgelieferten“ von Per Olov Enquist wieder aufgelegt. Aus dem Schwedischen wurde er von Hans-Joachim Maass übersetzt.
Klappentext: Im Mai 1945 waren dreitausend deutsche und 167 baltische Soldaten der deutschen Wehrmacht von der Ostfront nach Schweden geflüchtet. Ende Januar 1946 lieferte Schweden - trotz heftiger Proteste der Internierten - die Mehrzahl der Deutschen und Balten an die Sowjetunion aus. Um das Schicksal der aus dem Baltikum stammenden Soldaten rankten sich bald politische Legenden, denen der Autor in diesem Buch auf den Grund geht. Seit Enquist in „Ein anderes Leben“ über die Hintergründe der Arbeit an diesem frühen Dokumentarroman berichtet hat, ist der Ruf nach einer Neuausgabe nicht verstummt. Jetzt ist dieses lange vergriffene Buch mit einem aktuellen Nachwort des Autors endlich wieder lieferbar.
Per Olov Enquist, 1934 in einem Dorf im Norden Schwedens geboren, lebt in Stockholm. Nach dem Studium arbeitete er als Theater- und Literaturkritiker. Er zählt heute zu den bedeutendsten Autoren Schwedens. Bei Hanser erschienen zuletzt „Der Besuch des Leibarztes“ (Roman, 2001), „Der fünfte Winter des Magnetiseurs“ (Roman, 2002), „Lewis Reise“ (Roman, 2003), „Hamsun“ (Eine Filmerzählung, 2004), „Das Buch von Blanche und Marie“ (Roman, 2005), „Kapitän Nemos Bibliothek“ (Neuausgabe, 2006) sowie seine Autobiographie „Ein anderes Leben“ (2009), für die er den renommiertesten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis, erhielt.
Leseprobe:
©Carl Hanser Verlag ©
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Wer war Peteris Vabulis? Was für ein Mensch war er? Warum hat er sich getötet?
Die Kriminalpolizei in Trelleborg nahm seine Habseligkeiten in Verwahrung und registrierte sie: eine Reisetasche mit verschiedenen persönlichen Gegenständen, darunter 3,31 Schwedenkronen, ein Pappkarton, der hauptsächlich Lebensmittel enthielt, sowie ein lettischer Pass mit der Nummer TT 011 518.
Diese nachgelassene Habe des Peteris Vabulis wurde in einem Magazin aufbewahrt, bis sein Sohn nach mehreren Jahren erschien, um die Sachen abzuholen. Vabulis’ alte Uniform war auch noch da; das Blut war schon längst verkrustet, fast schwarz. Die Uniform wurde verbrannt. Außerdem waren noch da: ein Kompass mit einer elf Zentimeter langen Trageschnur, eine deutsche Armee-Taschenlampe mit zwei verschiebbaren Filtern, einem roten und einem grünen, eine zusammengefaltete Karte von Lettland und ein kleiner Taschenkalender, der auf den ersten vier Seiten die Anschriften von schwedischen Hilfsorganisationen enthielt. In dem Kalender ist der 21. November mit einem Bleistift angekreuzt.
Es ist alles noch da, aber die Gegenstände sagen nichts aus, sie beantworten keine Fragen nach der Person des Peteris Vabulis. Eine Armbanduhr mit schwarzem Zifferblatt: sie geht nicht mehr. Ein leeres Osterei, das – vermutlich aus Versehen – unter seine Habseligkeiten geraten ist. Einige leere Briefumschläge. Staub.
In der Kiste liegt jedoch auch ein Fotoalbum.
Das erste Bild ist in Riga aufgenommen worden. Peteris Vabulis steht in der Bildmitte, neben ihm sieht man einen kleinen Jungen, den er an der Hand hält. Beide lächeln in die Kamera. Der Junge mag drei oder vier Jahre alt sein. Es ist Winter, man sieht Schnee. Vabulis trägt Uniform. Auf dem nächsten Foto trägt er Zivilkleidung, es ist Sommer, er schiebt einen Kinderwagen. Der kleine Junge auf dem nächsten Bild ist allein: er steht auf einer Landstraße und runzelt nachdenklich die Stirn: die Sonne scheint grell, am linken Bildrand sieht man den Schatten eines Menschen. Text unter diesem Foto: Imants, Riga 1942.Dann ein Porträt von Peteris Vabulis. Ein Sommerbild aus Riga – einige Gestalten, die aus großer Entfernung aufgenommen worden sind; Gesichter sind nicht zu erkennen.
Dann plötzlich: Ränneslätt. Die lettischen Offiziere haben sich für dieses Gruppenfoto hingestellt, im Hintergrund sieht man eine Wand, alle lachen in die Kamera. Dieses Bild ist offensichtlich im Sommer gemacht worden. Alle tragen noch ihre deutschen Uniformen. Dieses Foto entspricht nicht dem chronologischen Ablauf der Ereignisse; die nächste Seite ist mit Bildern aus dem Jahr 1943 gefüllt. Man sieht ein Bild von der ganzen Familie, der Junge trägt Winterkleidung, auf der Erde liegt Schnee. Das Foto ist überbelichtet. Die Qualität der Bilder lässt jetzt sehr zu wünschen übrig. Es folgen noch mehrere Bilder von Vabulis und seiner Frau, aber alle sind unscharf. Sie lachen in die Kamera.
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Dann wieder Ränneslätt. Ein völlig sinnloses Bild mit vielen uniformierten Gestalten, die planlos hin und her laufen. Ein verschwommenes Gesicht in einer in ein Gespräch vertieften Gruppe ist mit einem Kreuz, einem Pfeil und zwei Buchstaben gekennzeichnet: „P. V.“ Der Himmel ist bedeckt, man sieht Baracken und einen Teil der Umzäunung. Auf der folgenden Seite finden sich zwei Porträts von Vabulis sowie eine Großaufnahme von dem kleinen Jungen. Und dann plötzlich, auf der nächsten Seite, kommt das Bild aus der Leichenhalle. Peteris Vabulis liegt in einem Sarg, der Deckel ist abgenommen, auf seinem Bauch liegen Blumen. Das Bild vermittelt den Eindruck von Ruhe und Frieden. Auf der rechten Wange hat Vabulis eine Narbe, und das rechte Ohr scheint früher einmal durch einen Unfall deformiert worden zu sein – die Wunde ist aber gut verheilt, man kann sie nur mit Mühe erkennen.
Unter diesem Bild finden sich einige von ganz anderem Charakter. Sie zeigen zwei kleine Kinder, einen Jungen von etwa sieben Jahren und ein kleines Mädchen, die einander umarmen und lachen. Text: „Lübeck, Sommer 1945“. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Bilder, die offensichtlich alle im Deutschland der Nachkriegszeit aufgenommen worden sind. Man sieht badende Kinder am Meer, halb versunkene Schiffswracks als Hintergrund für sonnige Ausflugsbilder. Text: „Travemünde 1947“.
Bilder von Peteris Vabulis gibt es jetzt nicht mehr. Man sieht immer nur die beiden Kinder. Im Hintergrund finden sich zumeist Barackenwände, Straßen, Küchen, glatte Wände, ein Kasernenhof, eine Reihe von Nissenhütten. Der Junge muss jetzt etwa zehn Jahre alt sein. Er lächelt pflichtschuldig in die Kamera. Seine Unterlippe ist auf charakteristische Weise vorgeschoben; wenn man zurückblättert und das Bild aus der Leichenhalle betrachtet, entdeckt man, dass der (von der Seite aufgenommene) Tote das gleiche Profil hat.
Noch mehr Kinderbilder. Noch 1949 finden sich im Hintergrund fast nur Nissenhütten; diese Bilder sind alle in Lübeck aufgenommen. Dann folgen mehrere Fotos von dem kleinen Mädchen, später noch einige, die beide Kinder zeigen. Text: „Värmland“, später „Västerås“. Die zehn letzten Seiten des Albums sind leer.
©Carl Hanser Verlag©
Literaturangabe:
ENQUIST, PER OLOV: Die Ausgelieferten.Übersetzt aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. Carl Hanser Verlag, München 2011. 480 S., 24,90 €.
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