MÜNCHEN (BLK) – Im Hanser Verlag ist im Februar 2011 der Roman „Der letzte Sommer auf Long Island“ des amerikanischen Schriftstellers Colson Whitehead erschienen. Nikolaus Stingl hat ihn aus dem Amerikanischen übersetzt.
Klappentext: Jeden Sommer trifft sich auf dem Ferienparadies Long Island die New Yorker Mittelschicht. Wenn Benji und seine Freunde in der afroamerikanischen "Enklave" der Insel eintreffen, werden die neuen Klamotten, der neue Jargon, die neuen Songs diskutiert. Voll Wärme und Komik schildert Colson Whitehead einen ganzen Katalog der Kultur der achtziger Jahre, die Regeln und Riten der Gesellschaft und die Unschuld des Erwachsenwerdens. Sein stimmungsvoller Roman ist eine Liebeserklärung an einen paradiesischen Ort in Amerika - und zugleich ein präzises Porträt der schwarzen Mittelschichtjugend.
Colson Whitehead wurde 1969 in New York geboren. Dort studierte er an der Harvard University. Später arbeitete für die New York Times, Harper's und Granta. Colson Whitehead erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Whiting Writers Award (2000) und den Young Lion’s Fiction Award (2002). Er war Stipendiat der MacArthur „Genius“ Fellowship und Finalist für den Pulitzer-Prize. Bei Hanser erschienen „John Henry Days“ (Roman, 2004), „Der Koloß von New York“ (2005) und „Apex“ (Roman, 2007). Der Autor lebt in Brooklyn.
Leseprobe:
©Hanser Verlag©
Randy fuhr einen moosgrünen Toyota-Schrägheck, den er angeblich für hundert Dollar gekauft hatte. Die Stoßstangen waren zerbeult und eingedellt, Rost sprenkelte die Karosserie in leprösen Wucherungen, und der Innenraum roch, als hätten Hippieanarchisten auf der Flucht darin eine Kommune aufgemacht. Aber wie kam ich dazu, ihn mit Schmutz zu bewerfen? Randy hatte einen Führerschein, er hatte einen Wagen, und unsere Welt hatte sich verändert.
Clive saß, Radio und Kühltasche zu Füßen, auf dem Beifahrersitz.
„Was geht, was geht, was geht?"
„Seid ihr soweit?" fragte Randy leicht gereizt, als wäre er derjenige, den man hatte warten lassen.
„Vielleicht sollten wir mal durchzählen", sagte ich. Noch einmal:
Wir waren zu sechst, und es gab fünf Plätze. Es muss nicht eigens gesagt werden, dass auf dem Schoß sitzen nicht in Frage kam.
„In deinen Wagen passen nur fünf, Mann", sagte NB.
„Wir passen nicht alle rein", sagte ich.
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„Mich habt ihr beim letztenmal dagelassen", sagte Marcus.
Wir belauerten einander auf Schwächen. „Ich bin dünn", fügte ich hinzu. „Ich habe dünne Beine." Dass meine Beine wie Zweige aussahen, war nicht zu leugnen.
„Stimmt", sagte Randy. „Benji hat dünne Beine. Und nun guck dir mal deine Weihnachtsschinken an, Marcus – wie’s aussieht, brauchst du zwei Plätze." Die Sache lief in die richtige Richtung. Er tat so, als dächte er über die Möglichkeiten nach. „Vielleicht ginge ja Beifahrer, aber das ist schon Clive."
„Beifahrer bin ich", sagte Clive.
„Und es wäre nicht fair, das zu ändern", sinnierte Randy. „Und Bobby, den haben wir beim letztenmal dagelassen."
„Mich habt ihr beim letztenmal dagelassen!" sagte Marcus. Er packte das um seine Schultern liegende Badetuch wie ein Joch.
„Das war beim vorletztenmal", improvisierte Randy, „am Donnerstag. Am Freitag sind wir nach Bridgehampton gefahren, und da war kein Platz für Bobby, deshalb hat er dableiben müssen. Das heißt, dich haben wir beim vorletztenmal dagelassen." Randy sah Bobby an, der so tat, als hätte dieses fiktive Verlassenwerden ihn tief gekränkt. „Außerdem hast du ja dein Fahrrad. Du kannst mit dem Fahrrad fahren und uns dort treffen."
„Mein Fahrrad ist kaputt", sagte Bobby.
„Und ich hab noch nicht mal eins", sagte NB.
„Wenn du gleich losstrampelst", sagte Clive, "bist du vielleicht sogar vor uns da." Wir alle wussten, dass das lächerlich war.
„Ja, am besten strampelst du gleich los, Nigger!" sagte NB.
Marcus schüttelte den Kopf, fügte sich in dieses brutale Kalkül. „Ihr könnt mich alle mal." Er stieg auf sein Fahrrad. "Könnt ihr wenigstens mein Handtuch mitnehmen?" fragte er.
Randy sah ihn skeptisch an. "Ist es … trocken?" fragte er naserümpfend.
Fünf Minuten später waren wir unterwegs, und Randy redete angelegentlich von Benzingeld, noch ehe wir Azurest verlassen hatten. Es passte mir nicht, wie Randy damit umging, dass er der Junge mit dem Auto war, wie rasch ihn das korrumpiert hatte. An dem Tag, bevor der Sommer angefangen hatte, war er noch ein Niemand gewesen. Jetzt war er ein höhnisch grinsender Despot, der seine jämmerliche Hupe betätigte. Arschkriecherei belohnte er mit einem „Darfst eine Woche auf den Beifahrersitz", und er strafte mit einem „Hab vergessen, dich abzuholen", sei’s zum Kino, zum Karts-a-Go-Go, ans Meer oder welches hochwichtige Vorhaben an dem betreffenden Tag auch immer anstand. Selbst wenn wir nur zu fünft gewesen wären, hätte er Marcus vielleicht zurückgelassen. Der Rücksitz seines Toyotas besaß jene extradimensionale Eigenschaft, dass je nach Randys Laune maximal zwei oder maximal drei Leute dort Platz hatten. Reggie und ich ließen die Schiebetür zu unserem Haus immer offen, ohne Hintergedanken.
Was Randys Machenschaften begünstigte, war der Umstand, dass es keine Mädchen gab, die uns ablenkten. Auf den ersten Blick lief unsere Truppe der Geburtenstatistik zuwider. In der Altersgruppe meiner Schwester, die vier Jahre älter war, herrschte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen. Ihre Gruppe umfasste ungefähr zwanzig Kids, die die Sommer über miteinander gingen, über Jahre hinweg ineinander verschossen waren, untereinander erste Lieben, erste Küsse und diverse erste Zärtlichkeiten tauschten. In einem Sommer ging Elena mit Bill, zwei Sommer später fuhr sie mit Nat in dessen Kabrio herum, und so weiter. Reggie und ich profitierten von dieser Situation. Die großen Jungs mussten nett zu uns sein, damit keine Kunde von ihren Schikanen und Missetaten an Elenas Ohr drang und lang- oder kurzfristige Pläne vereitelte. Die älteren Jungs beförderten uns auf ihrem Rücksitz ans Meer oder ins Kino, sie kauften uns im Ideal in der Stadt Comics, rückten Geld für Eis im Tuck Shop heraus. Gar nicht übel.
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Literaturangabe:
WHITEHEAD, COLSON: Der letzte Sommer auf Long Island. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2011. 336 S., 21,90 €.
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