Werbung

Werbung

Werbung

Einer von uns: War Franz Kafka im Grunde seines Herzens ein Berliner?

Hans-Gerd Koch spürt den Wegen des Prager Schriftstellers Franz Kafka in Berlin nach

© Die Berliner Literaturkritik, 13.10.08

 

Am 3. Dezember 1910 fährt Franz Kafka von Prag nach Berlin und stürzt sich in das Großstadtleben. Er geht zwar auch ins Metropoltheater, ist aber von der Revue „Hurra!!! Wir leben noch!“ wenig begeistert, sieht dafür aber im Deutschen Theater hingerissen Max Reinhardts „Hamlet“-Inszenierung mit Albert Bassermann in der Titelrolle und will gleich weitere Theaterkarten „im Vorrat“ kaufen. Er besucht vegetarische Restaurants, ist tief beeindruckt von der Lebendigkeit und Modernität der Metropole. Dieser Berlin-Besuch zeigt eine nachhaltige Wirkung, wird in Briefen und im Tagebuch festgehalten. Noch im Mai 1912 trägt Kafka ein Traumerlebnis von Berlin in sein Tagebuch ein und errichtet hier dem auf Lungenkrankheiten (!) spezialisierten Mediziner Ernst von Leyden ein eigenes Denkmal. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Berlin nicht nur im Traum, sondern in Kafkas konkreter Lebensplanung eine besondere Rolle zu spielen begann. Denn der zweite Aufenthalt in Berlin ab 22. März 1913 galt dann schon nicht mehr touristischem Interesse, sondern der vier Jahre jüngeren Berlinerin Felice Bauer, einer Vertreterin des modernen Großstadtlebens, die er ein Jahr zuvor bei seinem Freund Max Brod in Prag kennen gelernt hatte. Es war ihre zweite Begegnung, nachdem vorher schon an die 400 Briefe zwischen beiden gewechselt wurden. Kafka unternahm mit ihr einen Ausflug an das Kleist-Grab am Kleinen Wannsee, was ihr gar nicht behagte, ging ihr zuliebe dann aber mit ins Metropol, wo ihn 1910 noch „ein Gähnen…größer als die Bühnenöffnung“ überfallen hatte – jetzt musste er sich die Operette „Die Kino-Königin“ von Jean Gilbert ansehen. Mit Schriftstellern traf er im Café Josty  am Potsdamer Platz, dem „Präsentierteller von Berlin“, zusammen.

Der Literatur- und Editionswissenschaftler Hans-Gerd Koch, der seit 1982 die Kritische Kafka-Ausgabe betreut, hat ein erbauliches, mit vielen zeitgenössischen Fotos versehenes Büchlein „Kafka in Berlin“ veröffentlicht. Er verfolgt die Besuche Kafkas in Berlin bzw. Kafkas Eindrücke von Berlin, die dieser in Briefen oder Tagebüchern festgehalten hat. Da Kafka aber keine ausführlichen Berlin-Berichte gab, ergänzt er sie durch die Sichtweisen anderer Autoren von Fontane bis Robert Walser, Egon Erwin Kisch oder Kurt Tucholsky auf das damalige Berlin. Er zieht Längs- und Querschnitte durch das wilhelminische und nachwilhelminische Berlin, sein Vergnügungs- und Theaterleben. Denn auch Felice hat dem Prager Dichter, der bald ihr zweimaliger Verlobter wurde, von ihrer täglichen Arbeitswelt, ihren Besuchen im Metropoltheater und im Kino, ihren Tanzvergnügungen – man tanzt gerade den Tango in Berlin – und vielem anderen berichtet. Kafka erwartete täglich ihre Briefe – er macht sogar Vorschläge zur Vermarktung der phonographischen Apparate in ihrer Firma -, und sie musste ihm auch das Unbedeutendste in ihrem Berliner Tagesablauf erzählen. Koch stellt die berechtigte Frage: War Kafka nun eigentlich in Felice oder in Berlin verliebt? Während ihrer fünfjährigen Beziehung war Kafka allein nur 20 Tage in Berlin gewesen, aber ihre paradoxe Beziehung, die von Ferne und Nähe, prägte Linien, die auch ins literarische Werk Kafkas führen.

Kafka investierte in seine Brieffreundschaft mit Felice Bauer, der Berliner Prokuristin, so viel Energie und Zeit, dass für die Fertigstellung seines Romanes „Der Verschollene“ nicht viel übrig blieb. Er beteuert ihr seine unerschütterliche Liebe und zählt zugleich seine „augenblicklichen, wirklichen oder eingebildeten Leiden“ auf: seine angeschlagene Gesundheit, Schwierigkeiten mit ihr, mit dem Schreiben, mit seiner Familie, mit der Arbeit, das Problem, an einem Ort – in Prag – festzusitzen, er zeichnet das Porträt des einsamen Kafka, der sich in klösterlicher Abgeschiedenheit der Kunst des Schreibens widmet, das Bild des leidenden Hypochonders, gibt seiner Angst Ausdruck, dass ihre Beziehung gefährdet würde , wenn sie dauernd zusammen wären, usw. Das gewaltige Ausmaß des Briefverkehrs mit Felice verdankt sich ihrer körperlichen Abwesenheit. Die durch sie gegebene Verbindung aus menschlicher Nähe und Distanz wurde für Kafka zum einigermaßen erträglichen und daher fast idealen Bedingung einer literarischen Existenz. Nur in dieser prekären Balance überhaupt ließ sich ein Liebesverhältnis so lange aufrechterhalten, das Kafka nach dem zweiten Besuch in Berlin 1913 mit dem Satz charakterisiert: „Ohne sie kann ich nicht leben, und mit ihr auch nicht“. Zehn Monate nach der ersten Begegnung und nach insgesamt nur 3 Treffen mit ihr unter nicht gerade glücklichen Umständen machte er ihr einen Heiratsantrag. Und beginnt zugleich mit dem von nun an zäh geführten Kampf, seine Untauglichkeit zur Ehe nachzuweisen.

Der Autor des „Urteils“ – in dieser Erzählung lässt sich der Bräutigam Georg Bendemann zum Tod durch Ertrinken verurteilen – sitzt am 1. Juni 1914 als Verlobter in Berlin, „gebunden wie ein Verbrecher“. Gleich in seinem ersten emphatischen Silvesterbrief an Felice hatte er sich mit ihr an den Handgelenken zusammengebunden vorgestellt: auf dem gemeinsamen Weg zum Schafott. Das Bild der Stricke, der Ketten wird immer wieder auftauchen, wenn der Junggeselle seine Angst vor Fesselung ans Leben, vor Bindung an bürgerliche Normalität und an Frauen in Sprachbilder projiziert.

Sechs Wochen später wurde nach einer anklagenden Auseinandersetzung im „Askanischen Hof“ unweit des Anhalter Bahnhofs die Verlobung wieder aufgelöst und Kafka spricht dann im Tagebuch von einem „Gerichtshof im Hotel“, von dem er sich widerstandslos verurteilen ließ. Diese Aussprache hat ihm zugleich für die Entstehung des Romans „Der Prozess“ einen Impuls geliefert. Im Juli 1916 kam Felice abermals nach Prag und die beiden verlobten sich ganz offiziell zum zweiten Mal. Kafka erwog jetzt ernsthaft seine Übersiedlung nach Berlin. Sollte der fünfjährige Kampf doch noch ein glückliches Ende finden? Im Blutsturz aus der Lunge am 9./10. August 1917 sah Kafka die Kulmination seines 5 Jahre währenden Ringens um die Ehe mit Felice. Das Schicksal hatte entschieden, in seiner Krankheit sah Kafka „zweifellos Gerechtigkeit, es ist ein gerechter Schlag, den ich…als etwas …durchaus Süßes (fühle)“. Die Lungenwunde sieht er als Sinnbild an, „deren Entzündung Felice und deren Tiefe Rechtfertigung heißt“, schreibt er ins Tagebuch. Die Krankheit hatte ihn befreit, die selbstquälerischen Zweifel von ihm genommen.

Kafkas Traum von Berlin schien also 1917 ausgeträumt gewesen zu sein. Aber im Juli 1923 lernte er an der Müritz, wohin er seiner Schwester Elli gefolgt war, in einer Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes Dora Diamant kennen. Dora war 25 und Kafka soeben 40 geworden. Konnte ihn diese selbstbewusste und tüchtige junge Frau aus den Gedanken reißen, dass ihm die „Menschenwelt“ zusehends entgleitet? Konnte er mit ihr der Wiederholung alter Lebensmuster entgehen? Am 23. September 1923 begab sich der geschwächte Kafka abermals nach Berlin und nahm in Steglitz Quartier. Mit einiger Kontinuität besuchte er die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Am 1. Februar 1924 zog er mit Dora nach Zehlendorf; sie war die einzige Frau, mit der er je zusammenlebte. Seine früheren Beziehungen, zumal jene mit Felice, waren an seiner Angst gescheitert, zu große Nähe könnte sein Schreiben und damit ihn selbst auf unerträgliche Weise gefährden. Doch Dora hatte plötzlich von seinem Leben Besitz ergriffen – und dies schien ihm keinerlei Probleme bereitet zu haben. In ihr schien er gefunden zu haben, was er sein Leben lang vermisst hatte: eine natürliche, verständnisvolle Partnerin. Durch die Liebe zu Dora war Kafka nicht nur der Einsamkeit entronnen, sondern auch Prag. „Ich möchte wohl wissen, ob ich den Gespenstern entkommen bin“, habe er immer wieder gesagt, so erinnerte sich Dora später. Nein, die Gespenster tanzten noch immer. Die besorgniserregende Krankheit erzwang Mitte März 1924 eine Rückkehr nach Prag und von dort weiter – hingebungsvoll von Dora umsorgt – ins Sanatorium in Kierling, wo er am 3. Juni, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag, starb.

Eigentlich kulminiert das Thema „Kafka in Berlin“ vor allem in der Beziehung Kafkas zu Felice Bauer und Dora Diamant. Aber Hans-Gerd Koch gestaltet es höchst anschaulich zu einer historischen Stadtreise durch das Berlin Kafkas, die eben ein wichtiges Kapitel der Kafkaschen Biographie darstellt und die man mit ebenso viel Genuss wie Gewinn liest.

Literaturangaben:
KOCH, HANS-GERD: Kafka in Berlin. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 144 S., mit zahlreichen Abbildungen, 15,90 €.

Mehr von „BLK“-Autor Klaus Hammer

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: