Swift, Rowlandson, Hogarth, Wilde: Die Briten haben ein Faible für gescheite Satiren, für hintersinnige Ironie und sublime Bosheiten. Selbst der fromme Chesterton war gegen Anwandlungen solcher Art nicht gefeit. Sie alle haben in dem 1934 geborenen Dramatiker Alan Bennett einen würdigen Nachfolger gefunden. Er nimmt sich die englische Monarchie vor, genauer, die quasi seit je das Commonwealth repräsentierende Königin Elizabeth II.
„Man kann, wie Sie alle wissen, auf eine lange Regierungszeit zurückblicken. In mehr als fünfzig Jahren habe ich zehn Premierminister, sechs Erzbischöfe von Canterbury, acht Sprecher des Unterhauses, und, wenn diese Statistik vielleicht nicht hierhergehört, dreiundfünfzig Corgis erlebt, um nicht zu sagen, überlebt. Ein Leben, wie Lady Brackwell sagte, voll der Vorkommnisse“, sagt sie ihrem Kronrat, und auch dies: „Man hat zahlreiche Staatsoberhäupter bewirtet, von denen einige unsägliche Schurken und Kanaillen waren, und ihre Gattinnen kaum besser als sie. Man hat mit Glacéhandschuhen bluttriefende Hände geschüttelt und man hat höflich mit Männern parliert, die eigenhändig Kinder hingemetzelt haben. Der Monarchie scheint dieser Tage vor allem die Rolle eines Regierungsdeodorants zuzukommen.“
Starker Tobak? Es gibt in Bennetts Buch „Die souveräne Leserin“ noch mehr davon, wenn schon nicht als geballte Ladung wie in dieser Ansprache an den Kronrat – einem Gremium, das nichts zu sagen hat, dem aber alle die angehören, die bei Hofe und in der Regierung einmal eine wichtige Rolle gespielt haben – aber die steht ganz am Ende des Buchs.
Angefangen hat, was Bennett erzählt, ganz anders: eben mit ihren Corgis, die sich laut kläffend bei einem Spaziergang im Garten des königlichen Schlosses auf einen Lieferwagen stürzten, der in einem Seitenhof nahe der Küche geparkt hatte. Ihre Majestät, neugierig geworden, folgte den kleinen Biestern und traf auf eine rollende Buchausleihe der City of Westminster und Norman Seakins, einen rothaarigen jungen Mann, der gerade etwas ausleihen wollte und der, gefragt, was er tue, als seine Profession Küchenjunge im Palast angab. Höflich, wie Elizabeth zu sein pflegt, meinte sie, auch etwas ausleihen zu sollen, da sie nun schon mal da war.
So beginnt die schleichende Verwandlung einer Person, die bis dahin allenfalls offizielle Dokumente zu lesen pflegte, in jemand, dem durchs Lesen eine andere Welt aufgeht. Penibel und korrekt quält sie sich durch das ausgewählte Buch, einen Roman von Ivy Compton-Burnett, von der sie wusste, dass sie diese irgendwann geadelt hatte. Das Buch gefällt ihr nicht sonderlich, aber da sie nun einmal angefangen hat zu lesen, macht sie weiter, beraten von Norman, einem leidenschaftlichen Leser, der allerdings homosexuelle Romanhelden bevorzugt, weil die seinen Neigungen entsprechen.
Dann stößt sie auf Nancy Mitford, findet deren „Englische Liebschaften“ spannend – und es ist um sie geschehen. Sie befördert den Küchenjungen zu ihrem „Amanuensis“ („veraltete Beschreibung für den Schreibgehilfen oder Sekretär eines Gelehrten; literarischer Assistent“, sagen das Wörterbuch und Bennett), er bekommt einen Stuhl im Flur vor ihrem Arbeitszimmer und wird zurate gezogen, obwohl sie seine literarischen Vorlieben nicht so recht teilt. Bald benutzt die Königin jede freie Minute zum Lesen, etwa auf der Kutschenfahrt zur jährlichen Thronrede – sie hat kein neues Hobby (Majestäten haben keine Hobbys zu haben!), vielmehr eine neue, sie wunderbar erfüllende Arbeit, der sie so pflichtbewusst obliegt wie all den anderen, mit denen sie Hof und Regierung versorgen. Dann kommt der Bücherbus eines Tages nicht mehr. „Als der empörte Norman der Queen Bericht erstattete, wirkte sie keineswegs überrascht, denn sie fand nur ihren Verdacht bestätigt, dass nämlich Lektüre, oder zumindest ihre Lektüre, in Hofkreisen nicht wohlgelitten war.“
Sie hat längst begonnen, ihre Lektüre zu systematisieren, und so kann sie auch weiterlesen, als man ihren Norman mit einem Stipendium zum Studium auf die Universität von East Anglia schickt. Sie vertieft sich einfach in die Bücher – meist klassischer Natur, die so zahlreich in den nie benutzten Palastbibliotheken stehen. Sie beginnt, sich Notizen zu machen, zuerst sind es nur Exzerpte, dann auch eigene Bemerkungen. Sie verlässt die moderne Literatur (bei deren Erwähnung Bennett selten auf ein paar mehr oder minder boshafte oder zustimmende Bemerkungen verzichtet), sie ändert bei den zahllosen Visitationsreisen ihre standardisierten Fragen an die Untertanen (auf die diese von Hofschranzen vorbereitet werden) und fragt nach den Lektüren der jeweiligen Gegenüber, nicht ohne diese in arge Verlegenheit zu bringen.
Sie lädt sogar Schriftsteller zu einem Nachmittagstee ein, von denen sie den deprimierenden Eindruck mitnimmt, dass es besser sei, deren Bücher zu lesen, als ihnen selbst zu begegnen. Dabei schafft sie ihr königliches Pflichtpensum korrekt wie eh und je, allerdings mit steigender Unlust, weil es sie vom Lesen abhält. Sogar ihre Garderobe wird nachlässiger. (Zweimal hintereinander dasselbe Kleid, dieselbe Brosche: shocking!) Irgendwann entdeckt sie, die ihren Beruf immer als den einer Handelnden aufgefasst hat, dass das schiere Lesen ihr nicht mehr genügt, dass sie eigentlich, obwohl doch alles zu spät ist, ernsthaft zu schreiben beginnen sollte!
Und als sie damit beginnt – unter dem Einfluss ihrer Proust-Lektüre – wähnt der Hof, der dem königlichen Treiben mit äußerstem Befremden, ja mit Empörung zugesehen hat, sie leide vielleicht an Alzheimer. Dabei ist sie so klar wie nie zuvor – und als sie den Kronrat einberuft, dem sie ausführlich erklärt, dass sie nicht Memoiren zu schreiben gedenke (was immerhin einige wenige erlauchte Vorfahren auch versucht haben), sondern sich mit „Analysen und Reflexionen“ befassen wolle, ruft der Premierminister den Generalstaatsanwalt an. Was zu viel ist, ist zu viel. Wie die Königin darauf reagiert, auf diesen letzten Paukenschlag einer emanzipierten Greisin, das sei nicht verraten.
Bennett, das wird von Seite zu Seite klarer, liebt Königin Elizabeth – und verachtet ihren Hof. Er spart nicht mit witzigen und sogar gemeinen Sottisen über den ganzen in Jahrhunderten gewachsenen, längst stockfleckig gewordenen rituellen Unfug und er schildert das Abenteuer des Lesens als einen Akt der Befreiung. Bücher als Einführung in eine wirklichere Welt und das Selber-Schreiben als notwendige Folgerung aus dieser Erkenntnis, das ist es, was er der „souveränen Leserin“ zumutet. Er macht das mit wunderbarer Grazie, voller Verständnis für seine Heldin. Er mag kein in der Wolle gefärbter Monarchist sein – aber die Queen, die er sich erfunden hat, die liebt er. Und natürlich die Bücher.
Eine witzigere, mildere und doch wünschenswert offene Satire und eine vergnüglichere Lektüre sind schwer vorstellbar. Hail to the Queen.
Literaturangaben:
BENNETT, ALAN: Die souveräne Leserin. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 115 S., 14,90 €.
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