Werbung

Werbung

Werbung

Reifeprüfung in Zeiten des Faschismus – Vittorinis „Die rote Nelke“

Eine erneute Lektüre des Klassikers lohnt

© Die Berliner Literaturkritik, 23.07.08

 

Am 23. Juli 2008 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag des Schriftstellers, Übersetzers und Publizisten Elio Vittorini. Er wurde in Syrakus auf Sizilien geboren und gehört zu den Mitbegründern des „Neorealismo“. Zudem ist er im Kanon der italienischen Nachkriegsliteratur nicht wegzudenken – sein Meisterwerk „Gespräch in Sizilien“ ist bis heute ein Klassiker. Mindestens ebenso wichtig wie seine schriftstellerische Leistung ist sein Wirken als Publizist und Herausgeber verschiedener Buchreihen, wie den „I gettoni“ (ab 1951), in welchen er jüngere Autoren vorstellte und förderte. Zu diesen Autoren gehörten Italo Calvino, Beppe Fenoglio, Mario Rigoni Stern und Anna Maria Ortese. Vittorini starb am 13. Februar 1966 in Mailand an Magenkrebs.

Zum Anlass des 100. Geburtstags Vittorinis erscheint im Verlag Klaus Wagenbach sein Roman „Die rote Nelke“ in der Neuübersetzung von Barbara Kleiner. Dieser Roman erschien erstmals in der berühmten florentinischen Literaturzeitschrift „Solaria“ in Fortsetzungen von 1933 bis 1936. In dieser Zeitschrift veröffentlichte die damalige Avantgarde (unter anderem Eugenio Montale, Leone Ginzburg und Carlo Emilio Gadda) ihre Texte. Die faschistische Zensur stempelte 1934 jedoch die Romanfolge VI der „Roten Nelke“ als Pornografie ab, sodass diese Ausgabe von der Präfektur eingezogen wurde. Die darauf folgenden „Solaria“-Ausgaben mit den Folgen VII und VIII der „Roten Nelke“ erschienen erst 1936 (datiert jedoch 1934), bis das Heft aufgrund interner Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten mit der faschistischen Zensur eingestellt wurde.

Erst 1948 konnte Vittorini den Roman nach einer Überarbeitung beim Mondadori Verlag als Ganzes veröffentlichen. Im Vorwort „mystifiziert“ Vittorini den Roman als Opfer der faschistischen Diktatur, da er kommunistisches Gedankengut beinhalte. In Deutschland verlegte erstmalig der Claassen Verlag 1951 diesen Coming-of-Age-Roman, den Otto Eugen Zöller übersetzte.

Vittorini wird zwar – wie oben erwähnt – zu den Mitbegründern des „Neorealismo“ gezählt, doch kommt „Die rote Nelke“ dem nur eingeschränkt nach: Das Buch ist dem poetischen beziehungsweise psychologischen Realismus viel näher. Dies kommt nicht von ungefähr: Vittorinis Vorbilder, die er teils ins Italienische übersetzte, sind neben den französischen Romanciers Alain-Fournier und Jacques Rivière, die englischsprachigen Schriftsteller D.H. Lawrence und James Joyce. Gerade „Die rote Nelke“ ist eine Reminiszenz an D.H. Lawrence’ Romane „Sons and Lovers“ und „Lady Chatterley’s Lover“ – ironischerweise auch in der Beschlagnahmung durch die Zensur aufgrund freizügiger sexueller Beschreibungen.

Doch zum Inhalt des Romans, der in das Jahr 1924 auf Sizilien, besser gesagt in Syrakus und in einem Hof im Landesinneren der Mittelmeerinsel, eingebettet ist. Bedeutende politische Ereignisse der vorangegangenen Jahre sind nicht nur erwähnt, sondern beeinflussen die Handlung – der „Marsch auf Rom“ 1922 und in Folge die Machtergreifung Mussolinis, ebenfalls 1922 die Ermordung des Vorsitzenden der sozialistischen Partei, Giacomo Matteotti, durch eine geheime faschistische Mannschaft sowie eine neue Schulreform, die 1924 in Kraft trat.

Alessio, der 16-jährige Ich-Erzähler und Protagonist des Romans, ist im letzten Schuljahr und bereitet sich auf das Abitur vor. Anfangs trifft er sich mit seinem Kumpel Tarquinio, der zwei Jahre älter ist und sich privat auf das Abitur vorbereitet, in einer verlassenen Schreinerei, die sie „die Höhle“ nennen. Hier sprechen sie über die faschistische Revolution, die sie befürworten, und bewundern gleichzeitig Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg für ihre Haltung. Und schließlich gibt es noch jene rote Nelke, die Alessio von der Generalstocher Giovanna in einem Umschlag bekam, und die er später an die Prostituierte Zobeida weitergibt.

Der Roman strotzt nur so von jugendlichem Aufbegehren und sexuellem Verlangen. Alessio ist in Giovanna verliebt und prügelt sich für sie am Hafen mit einem Querulanten namens „Frosch“ um die rote Nelke; Tarquinio hingegen begehrt die Prostituierte Zobeida. Doch als Alessio seine Giovanna nicht bekommt, geht er zu Zobeida und verbringt zwei Tage bei ihr, während Tarquinio aus Rache, dass Alessio ihn mit Zobeida „verraten“ hat, Giovanna verführt.

Der Roman spiegelt treffend den Zeitgeist dieser Jahre wider. Dabei wählte Vittorini klugerweise Heranwachsende, die für revolutionäre und idealistische Ideen offen sind. So verbindet er die stürmische, vor sexueller Energie strotzende Physis eines Heranwachsenden kongenial mit den radikalen Ideologien der Zeit. Zudem wird das Abitur zur eigentlichen Reifeprüfung für das Leben: zwar bestehen es beide Freunde nicht, doch sie bestehen ihre Reifeprüfungen für das Leben. Im ganzen Roman findet sich diese Ambiguität wieder: die bürgerliche Tochter Giovanna im Gegensatz zur der Prostituierten Zobeida; die Stadt im Gegensatz zum Land; archaisches im Gegensatz zu rationalem Verständnis; Faschismus im Gegensatz zum Kommunismus; interne Gefühle im Gegensatz zu externen Ereignissen; Italien als Mutterland im Gegensatz zu den eroberten osmanischen Gebieten, wie etwa Libyen; Revolution von unten im Gegensatz zu Korporatismus mit der bürgerlichen Schicht – die Liste lässt sich so weiter fortsetzen.

Doch bezieht dieser Roman eindeutig eine antifaschistische Stellung, wie sie später von den Neorealisten wie Vittorini gefordert worden ist? – Nein. Denn inhaltlich spiegelt der Roman nur die Ereignisse dieser Zeit wider, ohne eindeutig Stellung zu beziehen. Auch wenn Alessio über anarchische, sozialistische und kommunistische Ideen sinniert, befürwortet er trotz allem die faschistische Idee „von unten“. Das war in Italien zu jenen Jahren nichts Ungewöhnliches, und auch Vittorini war zu Beginn der faschistischen Idee, besser gesagt der linksfaschistischen Idee, gar nicht abgeneigt. Davon zeugen einige Briefe und Artikel, allen voran in der Zeitschrift „Bargello“. Sowohl im Roman als auch in diesen Artikeln kritisierte Vittorini, dass die ursprüngliche faschistische Revolution nicht mehr von unten komme und dass Mussolini ab den dreißiger Jahren die Zusammenarbeit mit der Bürgerschicht verstärkt habe.

In seinen darauf folgenden Werken bezieht Vittorini eindeutig eine antifaschistische Haltung, so in seinem berühmten „Gespräch in Sizilien“ (ebenfalls im Verlag Wagenbach 2007 erschienen) – das er im Zuge der Ereignisse von Guernica während des Spanischen Bürgerkrieges schrieb. Zudem trat er 1942 der damals verbotenen kommunistischen Partei bei und wurde 1943 für zwei Monate inhaftiert; anschließend beteiligte er sich an der „Resistenza“. So zwiespältig wie sein Roman ist sein Leben verlaufen: Er versuchte immer wieder, seinen Lebensweg widerspruchsfrei zu deuten beziehungsweise durch aktuelle Ereignisse seine Biografie neu zu werten. So setzte er auch den Mythos in die Welt, dass der Fortsetzungsroman „Die rote Nelke“ unter den Faschisten aufgrund des linken Inhalts zensiert worden sei.

Nichtsdestotrotz ist der Roman zu Recht ein Nachkriegsklassiker, mit dem der Verlag Klaus Wagenbach richtigerweise wirbt. Von der jugendlichen Wucht des Romans können sich heute noch einige deutsche Debütanten, wie beispielsweise Finn-Ole Heinrich (auch wenn er ein sehr guter Erzähler ist), eine Scheibe abschneiden. Selbst die Sexszenen sind im richtigen Ton beschrieben, so dass sie weder beschämend noch vulgär erscheinen.

Das liegt wohl auch an der deutschen Übersetzung, die Barbara Kleiner gemeistert hat. Der Text liest sich flüssig und behält doch die genuine Art und Weise der Schreibe eines Heranwachsenden voller Vitalität. Zudem hat Kleiner feststehende italienische Begriffe jener Zeit übernommen und mit Anmerkungen am Ende des Buches sehr gut ergänzt – wie bereits in ihrer besonders gelungenen Übersetzungsarbeit von Italo Calvinos Briefen („Ich bedauere, daß wir uns nicht kennen“, erschienen im Hanser Verlag 2007). Einschränkend sei hier erwähnt, dass unverständlicherweise in der deutschen Übersetzung Markennamen, die zu jener Zeit üblich waren, ausgespart sind: wie beispielsweise die Rasiermarke „Gillette“ – eine falsch verstandene Kapitalismuskritik?

Ärgerlich ist zudem, dass das Nachwort – trotz des hohen und guten Informationsgehaltes – nicht aktualisiert worden ist, denn diese „Neuübersetzung“ ist bereits 12 Jahre alt und wurde 1996 erstmals im Brückner & Thünker Verlag veröffentlicht. Der Verlag Klaus Wagenbach hätte hier ein paar Worte zu Vittorinis 100. Geburtstag verlieren oder gar neue Erkenntnisse zum Roman geben können oder auch erklären können, weshalb sie diese Neuübersetzung wiederauflegen. Eine verpasste Gelegenheit!

Doch abgesehen von diesen ärgerlichen Kleinigkeiten lohnt es sich wirklich, diesen Klassiker wieder zu lesen. Allen voran die Jugendlichen und Heranwachsenden: Mögen sie genauso sinnliche Erfahrungen machen – am besten mit einer roten Nelke!

Von Angelo Algieri

Literaturangaben:
VITTORINI, ELIO: Die rote Nelke. Roman. Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 240 S., 10,90 €.

Mehr zum Autor

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: