Von Björn Hayer
Rainer Maria Rilke hat einmal in einem seiner bekanntesten Gedichte mit dem Titel Kindheit gesagt: „Es wäre gut viel nachzudenken, um/ von so Verlorenem etwas auszusagen,/ von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,/ die so nie wiederkamen-“. Ebenso hat sich Frank McCourt in seinem autobiographischen Weltbestseller „Die Asche meiner Mutter“ mit diesem Verlorenen beschäftigt. Der Roman liegt jetzt als Hörbuch vor.
Doch sind jene prägenden Bilder auch wahrhaftig verloren oder sind sie ewiglich Teil unserer eigenen Identität? Zurückkehren werden sie wahrscheinlich nie, doch loslassen werden sie uns wohl auch nicht. Immerzu bestimmt der Blick zurück auch die Zukunft.
Als Frank, der Ich-Erzähler, am Ende seines Romans auf einem Schiff seine Heimat, das Irland der 30er Jahre, verlässt, trübt die Weite des Meeres eine tiefe Melancholie. Einsam blickt er zurück auf jene Insel, auf der er wohl die leidvollsten, zugleich erfahrungsreichsten Jahre seines jugendlichen Dasein verbrachte und hält in ruhigem Tone fest: „Ich möchte, dass die Bilder von Limerick in meinem Kopf bleiben, falls ich nie wieder zurückkomme.“ Amerika war sein Traum, seine Sehnsucht, für die er kämpfte und letztlich alles, was bislang seine Existenz charakterisierte, zurücklassen muss.
Was jedoch bleibt, ist die Asche, die nie vergehen wird. Die Asche seiner toten Mutter, verstreut in der Irischen See. Der Wind der Zeit endet im Roman genau dort, wo die Emanzipation, das Loslösen an seine Grenze gerät und Kindheitserfahrung zum ewigen Bindeglied der eigenen Identität wird.
Aus der szenischen Analepse heraus stellt „Die Asche meiner Mutter“ eine ergreifende Retrospektive des Ich-Erzählers auf die Vergangenheit seiner Kindheitstage im religiös bigotten Irland dar. Nach dem Tod seiner einzigen Schwester verlässt er mit seiner Familie Amerika, um in dem streng katholischen Inselstaat einen Neuanfang zu wagen.
Was hier beginnt, entpuppt sich als leidvolle Odyssee der Verelendung, der Verarmung, der ewigen Suche nach Geborgenheit und Heimat. Anfangs hilflos wachsen Frank und seine Geschwister ohne Perspektive auf – zwischen der chronischen Trunkenheit des arbeitslosen Vaters und dem verzweifelten Bemühen der Mutter, die Familie gerade so durch zu bringen. Das Leben wird zu einem Überleben des Augenblicks. Selbst zum Betteln ist sich die Mutter nicht zu schade, obgleich der Vater darin die „Schlimmste Schande“ zu erkennen vermag.
Es folgen Jahre des Hungers, der Umzüge und der Verzweiflung. Der junge Frank wird sogar zum Dieb, seine Zukunft bleibt ungewiss. Dennoch verliert der Autor in seiner rührend-naiven Kindheitssprache nie den Humor. Obgleich der Tod in dieser Lebensgeschichte, in der nach und nach zwei weitere seiner Geschwister aufgrund der finanziellen Knappheit an Erkrankung sterben, allgegenwärtig ist, ruft es doch Erstaunen hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, wie es der Hauptfigur letztlich doch glückt, aus dieser morbiden Atmosphäre auszubrechen.
Als die Mutter erkrankt, hält ihn nichts zurück, für die Brüder einen Laib Brot und die rege kämpfende Mutter Limonade zu stehlen. Die Zwänge der Armut machen aus Frank frühzeitig einen Erwachsenen, der die Unbefangenheit der Kindheit nur in seltenen Momenten erleben durfte. Nachdem die Familie nun sogar das Haus wegen des Mietrückstandes verliert und zum jähzornigen Vetter übersiedeln muss, zieht Frank aus. Durch Gelegenheitsjobs als Telegrammbote, Schreiberling oder Zeitungsausträger spart er für die Erfüllung seines Traums: Amerika.
McCourts Erinnerungen fügen sich zu einem rührenden Album zusammen. Nach und nach taucht der Hörer tiefer in den Raum des Erzählers ein. Jede Erfahrung wird zum nachwirkenden Zeitportrait. Die ersten erotischen Liebeserfahrungen mit der ebenfalls todkranken Theresa, der religiöse Rigorismus, die Heimatlosigkeit. Die unfreiwilligen Ortswechsel spiegeln dabei einen schockierenden Realismus wieder.
Doch in der literarischen Verarbeitung gibt es weit mehr zu entdecken. Die Wirklichkeit ist einerseits tragisch, steht für sich; doch bisweilen nimmt der Autor ihr die Schwere. Mit den ironischen Worten „Gott klebte mir am Gaumen fest“ beschreibt er bei seiner Erstkommunion den Empfang des Sakraments. Gott ist immer und überall in diesem regnerischen Jammertal, das ihn allerdings mehr als Schein denn als etwas Wahrhaftiges repräsentiert. Anstatt Nächstenliebe äußert die fromme Großmutter, dass es an diesem Ort für sie „keinen Platz“ gäbe.
Wer verstehen will, was das Credo der Geschichte und schließlich die Flucht nach Amerika begründet, der muss neben der materiellen Armut als einen Beweggrund erkennen, dass gleichwohl die immer währende Fremdheit, das ewig Heimatlose McCourt dazu getrieben hat, seiner Sehnsucht Raum zu geben. Es ist ein wirkungsreiches, liebenswertes Kleinod, welches in den Stimmen der Sprecher ein fast nostalgisch-romantisches Flair widerspiegelt. Das Werk träumt und ist trotzdem in einer Schrecken erweckenden Realität verhaftet.
Einzig und allein mit Humor gelingt es dem Autor, seine Kindheit literarisch zu reflektieren. Nur indem er Bilder und Träume in jener regnerischen Tristesse entwickelt und etwa das Obergeschoss des Wohnhauses als warmes Paradies, als Traum von Italien beschreibt, hält er den Frank aus dem Roman am Leben. Der äußert sich nachdenklich: „Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich manchmal, wie ich überhaupt überlebt habe“. Ja, ohne Zweifel treibt ich ihn die Vorstellung der Hoffnung und Sehnsucht, die ihn eines Tages über den Atlantik führen wird. Es schwingt im Traum und ist Gefangener im realen Dasein der äußeren Zwänge. Das innere ist Refugium vor der äußeren Zurückgeworfenheit auf das einsame Ich. Dieser neue Realismus bewegt.
Kaum ein Hörbuch der vergangenen Jahre weist eine derartige Authentizität auf wie dieses. Sowohl nüchtern als auch süffisant erzählt McCourt seine Biographie – ohne Ornamentik und direkt, sensibel und dabei ohne Sentimentalität.
In ihrer Offenheit und simplen Darstellungsweise ist die Geschichte weitaus mehr als bloße l’art pour l’art. Während McCourt einerseits ein Einzelschicksal skizziert, liegt in diesem Sumpf aus Hoffnungslosigkeit, Alkohol und Elend auch das Fatum einer immer zunehmenden Gruppe inmitten der Gesellschaft: Armut ist unter uns. Ausgrenzung und Kinderarmut sind Stichworte gesellschaftlicher Gegenwart. Sie symbolisieren das moderne Ghetto. McCourts Schicksal, der Ausbruch aus dieser Realität erscheint vor diesem Hintergrund als Einmaligkeit. Obwohl er die Befreiung geschafft hat, bleibt sie Millionen anderen nahezu verschlossen.
Am Ende sieht Frank nachdenklich zurück auf ein Land, das weit in die Ferne zu rücken scheint. Gleichwohl wird die Asche eines ganzen Lebens, jene seiner Mutter, ihm immer im Gedächtnis bleiben. Denn nichts verblasst.
Von leichter Musik getragen, entfaltet das Hörspiel eine einzigartige Klanglichkeit. Wohingegen die Klaviermusik bisweilen dem Regen ein Gesicht gleich Tränen gibt, scheint der Geschichte nichts Tragisches anzuhaften. Nur selten gelingt einem Autor im einfachen Stil, die Kunst der Melancholie neu zu leben. Der Grad zwischen Melancholie und Trübsinn ist McCourts literarische Meisterleistung. Eben das träumerische Bild des Fremden, der die Ferne sucht und von der Hoffnung lebt, ist modern und zeitlos, wundersam und real, poetisch und gegenwärtig.
Literaturangaben:
McCOURT, FRANK: Die Asche meiner Mutter. Hörbuch. Gesprochen von Christian Brückner. 14 CDs. Steinbach sprechende Bücher, Schwäbisch Hall 2008. 44,90 €.
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