Von Susanna Gilbert-Sättele
Nichts als Pech hat Wilbur, und dies bereits bei seiner Geburt: Die Mutter stirbt im Kreißsaal, der Vater macht sich aus dem Staub, und die Krankenschwestern verlassen eine nach der anderen die Säuglingsstation. Nur Alice will das apathisch wirkende Frühchen zu sich nehmen. Doch dann holen Wilburs Großeltern den Enkel zu sich nach Irland. Mit viel erzählerischem Schwung und einem sehr genauen Blick für Details schreibt Rolf Lappert in seinem Entwicklungsroman „Nach Hause schwimmen“ von einem Jungen, der so lange durch Kinderheime, Sanatorien und Hotels strampelt, bis er dank der Liebe einer Frau Boden unter den Füßen spürt.
Das Werk überzeugt in mehrfacher Hinsicht, durch seinen lakonischen Stil, seine geschickte Dramaturgie und die unbändige Fabulierkunst des in Irland lebenden Schweizers. Auch die Tatsache, dass der Roman offensichtlich literarische Vorbilder hat – mal fühlt sich der Leser an John Irvings „Gottes Werk und Teufels Beitrag“, dann wieder an Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ oder Günter Grass „Blechtrommel“ erinnert – kann den mitreißenden Gesamteindruck nicht schmälern.
Wilburs „Reise im Kreis“ kostet ihn die Jugend: Auch wenn er sich ein paar Jahre bei seiner irischen Großmutter Orla in Sicherheit wiegt und sogar Freundschaft mit seinem Klassenkameraden Conor schließt, ist das Glück nicht von langer Dauer. Durch die Schuld des Freundes stirbt Orla bei einem Verkehrsunfall. Der ohnehin sonderbare und bedrohliche Großvater verfällt endgültig dem Wahnsinn, und auch bei Colm, einem benachbarten Bauern, lassen die Behörden das Kind nur kurz bleiben. Wilbur gerät an bigotte Pflegeeltern, findet einige Zeit Trost im Cellospielen, und landet schließlich in einer psychiatrischen Klinik, nachdem er versucht hat, sich zu ertränken. Seine Pflegerin Aimee gefällt ihm, doch auch sie kann ihn zunächst nicht von seinem Entschluss abbringen, sich dem Leben schweigend zu verweigern.
Der Leser begleitet den schmächtigen Helden mit einiger Anstrengung auf seinem Parforceritt durch irische, amerikanische und schwedische Schauplätze. Er nimmt Anteil an Wilburs hartnäckiger Suche nach dem Vater, den er nie gesehen hat, und schüttelt immer mal wieder den Kopf über die vielen, zu vielen Schicksalsschläge, die dem jungen Mann widerfahren. Auch erfährt er, „wozu ein Mensch fähig war, wenn man eine Linie überschritt, die unsichtbare Grenze zu einem Land, wo Ungeheuer lebten.“
Wilbur weigert sich lange, dem Leben Paroli zu bieten, zumal es sich dem Kind ebenso wenig von seiner besten Seite gezeigt hatte wie Gott, der „böse alte Mann“. Doch auch der Tod bietet ihm immer weniger Ausflucht: Er ist, so erkennt Wilbur schließlich, „nicht der Sensenmann, der nachts taktvoll an dein Bett tritt und dir sagt, deine Zeit sei abgelaufen“, sondern ein „mies gelaunter Beamter, der Überstunden schiebt und seinen Frust an Dir auslässt“. Schließlich ist es die forsch auftretende, aber dennoch verletzliche Aimee, die ihn aus einem Meer aus „Angst, Schmerz und Verlorenheit“ zieht. Wilbur geht nicht mehr unter, er schwimmt, „wie ein Hund, eher schlechter“, aber immerhin.
Der Roman des 50 Jahre alten Autor wurde in den Feuilletons hymnisch gelobt: Die „Neue Zürcher Zeitung“ nannte ihn einen „großen Wurf“, „Die Zeit“ eine „wunderbare Andacht an das Leben“, während die „Süddeutsche Zeitung“ ihn als zwar „unzeitgemäß, doch nicht altmodisch“, sowie ungemein vielschichtig würdigte.
Literaturangaben:
LAPPERT, ROLF: Nach Hause schwimmen. Carl Hanser Verlag, München 2008. 544 S., 21,50 €.
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