BERLIN (BLK) – Die dänische Lyrikerin starb am 2. Januar 2009 im Alter von 73 Jahren. Die „Berliner Literaturkritik“ fragte nach Erinnerungen, Anekdoten und (lyrischen) Assoziationen.
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Eine Unschärfe am Himmel
eine unschärfe am himmel, ein lichtband – und eine farbwette.
kein einziges gedicht von Inger Christensen.
keiner begreift, dass es herbst gibt. ich
kenne mich aus mit flugträumen, angstträumen, verfolgungen.
weiss auch, dass das jenseits inzwischen en vogue ist.
kein einziges gedicht von Inger Christensen.
ich drücke die suchtaste des rechners:
lieber Crauss, entschuldigen Sie bitte
die verspätete antwort, aber ich war letzte woche auf urlaub.
nun kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie am 11. eingeplant sind.
an diesem abend lesen noch Helwig Brunner, Inger Christensen,
Silke Scheuermann und Raphael Urweider.
die veranstaltungen beginnen jeweils 19 uhr. wir freuen uns,
wenn Sie am 10. schon da sind und haben ein zimmer
im parkhotel reserviert. denn manchmal muss jemand kommen,
damit sich das, was um ihn ist, verschiebt. Inger Christensen
hörte ich in wien lesen – und, weil ich zwei tage angehängt hatte,
auch FM, die die veranstaltung mit Schöning nicht absagte.
auf dem tisch steht wasser nicht wein.
das. das war es. jetzt hat es begonnen. es währt.
Inger Christensen ist am freitag gestorben.
ich widme diesen text einer frau, mit der ich nicht mehr zusammen bin.
weiss jemand, wo man kondolieren kann?
ich kenne mich aus mit flugträumen, angstträumen, verfolgungen.
ich weiss auch, dass das jenseits inzwischen en vogue ist, aber:
weiss jemand, wo man kondolieren kann?
jetzt keine panik! sagt meine innere stimme ich rufe mir zur beruhigung ein
alphabet auf. träumer zwischen zwei träumen.
und aprikosenbäumen. ja.
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Angesichts der Vielen, die ihr jetzt nachrufen & an diesem Œuvre vor allen Dingen zu schätzen scheinen, daß die „Schmetterlingsfrau“ (so wurde sie allen Ernstes bezeichnet in einem deutschen Feuilleton), obwohl sie es doch mit den Naturwissenschaften hatte & dem Experiment, zwischen ihrem Modernismus & den Bedürfnissen reaktionärer Fans von „Dichtung“ vermeintlich Brücken schlug & Naturlyrik (die Aprikosenbäume!) produzierte (nein – diese wuchs natürlich, wie Blätter wachsen) & Balsam für die Seele, schön kunstvoll verrätselt – wenn sie sich überhaupt mit Semantik abgeben & nicht einfach nur besoffen zeigen vom Singsang der häufig Bezechten mit ihrem lustigen dänischen Akzent, den sie als Musik nehmen – erscheint es doch einigermaßen dringlich, sie gegen ihre Liebhaber zu verteidigen & aus einem Text zu zitieren, der den schönen Titel Die klassenlose Sprache trägt & in dem Inger Christensen schreibt, sie betrachte es als die Aufgabe des Schriftstellers, „versuchsweise eine Sprache zu gebrauchen, die nicht existiert, noch nicht. Diese nicht-existierende Sprache nenne ich die klassenlose Sprache. In demselben Sinne, wie die nicht-existierende Gesellschaft von vielen die klassenlose Gesellschaft genannt wird.“
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Inger Christensen beweist, dass es nicht aussichtsslos ist, mit Poesie Formeln der Weltentdeckung zu versuchen.
Ihre Formeln sind Flirts mit poetischem Spielen, das nicht weniger will, als den Worten zu ihrem Recht zu verhelfen: wahr zu sein.
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Dann rief sie an, die Inger, vom Hotel, und fragte, ob ich eventuell noch Zeit hätte, und sie deutete an, dass ihr die Reisetasche bei der Herfahrt nach Linz zu der Veranstaltung, zu der ich sie eingeladen hatte, gestohlen worden sei. Ich komme sofort, sagte ich, auch wenn sie höflich meinte, dass dies nicht sein müsse, da die Abendsstunde schon eine spätere sei. Im Hotel hörte ich mir dann die Geschichte an, und sie war sehr bedauerlich, war ja in der Reisetasche „nicht nur“ die Urkunde, die sie in Münster (sie kam direkt von der Verleihung des Preises der Stadt Münster für Europäische Poesie 1995) erhalten hatte, sondern etwa auch notwendigste Wäsche. Das „nicht nur“ will ich hier unter Anführungszeichen setzen, weil man da ja nie weiß, was zuvorderst erwähnt werden soll. Sprich: Es gibt Aprikosenbäume und es gibt anderes ... Es gibt und es gibt, alles gesellt sich in die gleichförmige Reihe. Weniger in die Willkür einer Reihenfolge mag da schon passen, dass auch Tagebuchaufzeichnungen unter dem verlustig Gegangenen sich befanden. Aber selbst die „gibt“ es nur, könnte man sagen. Wie auch immer, ich versuchte sie mit den Ansichten über die Gleichwertigkeit aus ihren eigenen Essays zu beruhigen, und es gelang auch. Aber wohl auch, weil wir ein paar Viertel Weißwein, mit Blick aus dem Fenster auf den Hauptplatz von Linz, dabei zu uns nahmen. Dennoch war Inger tags drauf schon am Vormittag unterwegs, um sich das Nötigste von der Zahnbürste aufwärts zu besorgen. Abends nach der Lesung war ich es, der im Lokal dann zu später Stunde kurz einnickte, und das mitten im Reden (also in der Haltung eines Sprechenden). Später soll ich dann nach dem Wiederaufwachen dort weitergeredet haben (eine gute Technik, wenn auch kaum mehr üblich in Lokalen, um dann später einfach dort weiterzureden, wo man zuvor unterbrochen hat). Um dies Detail aber darf es hier auch nicht gehen, sondern vielmehr darum, dass ich am kommenden Tag in der Früh eine Zeichnung auf meiner Handfläche vorfand. Die hat mir Inger während meines nächtlichen Nickerchens mit dem Kugelschreiber draufgezeichnet. Und mag dies alles auch nach einer fiktiven Anekdote klingen, so ist es dennoch schlicht wahr und will ich die Anekdote hier festhalten für einen „Absatz über Inger Christensen“.
Christian Steinbacher
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Als ich im Sommer 2007 ein paar Wochen in einem kleinen Haus in Dänemark verbrachte, lag eines morgens eine Werbezeitung im Briefkasten: eines jener Blätter voller Werbung, die mit ein Nachrichten aus der Region bemäntelt wird. Diesmal aber fing etwas mein Auge ein: auf der Titelseite prangte eine wirklich sehr hübsche, feste, doch wohlgeformte, selbstsicher dasitzende, dabei dänisch blickende, nämlich irgendwie leicht milde, aber verschmitzt daherkommende Grille. Über ihr stand „synger med fuld styrke“.
Nun, diesen Ausdruck konnte ich verstehen.
Und das Grüne darin, das Saftige, aber auch Methodische, Sitzen auf der Erde, und Erde ansaugen, aufnehmen, rechnen und singen – auf die Entfernung hin, die unberechenbare, ohne Ermüdung in langen Kaskaden.
Ein Vorläuferwesen, ein Inger-Wesen, dachte ich, Ader im Flügel!
Und etwas im weichen dänischen Vokalisieren, Singen wie Schaukel, umspann mein Ohr.
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Die Alphabeterin
I.C. in memoriam
Zungenzaubererzeugerin
Y-Achse-Verlängerin
X-mal-Einmalige
Wehmutsweise
Vergänglichkeitsverwalterin
Und-Elegikerin
Traumtante
Schöpfung-auf-die-Finger-Schauende
Regelfreundin
Quellenkalibriererin
Primzahlenprimat
Obstorakel
Nebenweltennaturalistin
Mundmöglichkeitsmuse
Leerstellenliebkosende
Konjunktionskreationistin
Ja-Sagerin
Intensitätsinventarisiererin
Herrlichkeitsherstellerin
Geheminisguthabenhalterin
Froschkönigin
Engpassentfalterin
Diesseitsdetaillistin
Carpe-diem-Chronistin
Bleistiftenbuddha
Atomistin
6. IV. 2009
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Ich glaube, jeder der Inger Christensen einmal lesen gehört hat, ihr wunderbar ruhig-schleppend-traumhaftes Sprechen, wird das nicht so schnell vergessen haben. Nach einer Lesung des „Schmetterlingstals“ summte einem noch tagelang das von ihr unnachahmlich zum Schweben gebrachte Wort „Sommerfugle“ (gesprochen: Sommerfuhle; Schmetterlinge) im Ohr, und ich erinnere mich, daß meine Kinder, die eine Lesung Christensens in Freiburg gehört hatten, im Sommer 2001, unter freiem Himmel, im Stadtpark, noch wochenlang und völlig abgelöst vom Ursprung des Gehörten dieses Sommerfuhle vor sich hin plapperten und sich über den eigenartigen Klang von Sommerfuhle freuten und dabei gar nicht mehr wußten, wo Sommerfuhle eigentlich hergekommen war und natürlich nichts wissen mußten vom „Tod, der dich mit eignen Augen / vom Schmetterlingsflügel aus anblickt“, wie es am Ende des 15. und letzten Sonetts dieses Requiems „Das Schmetterlingstal“ heißt.
Inger Christensens Lesungen verschlugen einem tatsächlich die Sprache. In diesem Sinne erinnere ich mich an einen Abend vor gut 12 Jahren im legendären Café Clara in der Clara-Zetkin-Straße, wo Inger Christensen den gesamten Sonettenkranz des „Schmetterlingstals“ gelesen hat, der gerade in einer Ausgabe bei „Kleinheinrich“ in der Übersetzung von Hanns Grössel erschienen war. Ich glaube, die meisten hörten dort das „Schmetterlingstal“ das erste Mal. Der Eindruck, den Christensens Lesung machte, war im ganzen Raum derart stark und von einer nahezu hypnotisierenden Qualität, dass Durs Grünbein, der als zweiter Autor für diesen Abend vorgesehen war und den es – wie uns alle – ganz offensichtlich ebenfalls erwischt hatte, nach dem Beifall etwas zu Christensen sagte wie: „Weltpoesie“ und „umwerfend“, jedenfalls etwas außerordentlich Bewunderndes, vernüpft mit der Frage, was man (also er) denn jetzt noch lesen solle, ob er denn überhaupt noch lesen solle? Worauf Inger Christensen mit einer Art unbescheidenen Zurückhaltung oder sanften Unbescheidenheit antwortete: „Ja, manchmal ist das so.“
Ich glaube, daß diese kleine Episode beiden Dichtern zur Ehre gereicht. Und natürlich wollten wir alle, daß Durs Grünbein noch liest, und so war es dann auch. Elke Erb hieß die Moderatorin dieses Abend am 7. Januar 1997 bei „Orplid & Co.“ im Café Clara, an dessen Ablauf ich mich natürlich nur mit Hilfe meines Notizbuchs so gut erinnern kann.
Lutz Seiler
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Gesammelt von „BLK“-Autorin Mona Leitner
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