Kaum ein anderer Autor der Literaturgeschichte hat eine vergleichbare Rezeptionsgeschichte wie Franz Kafka aufzuweisen. Deutungen und Interpretationen, wohin das Leserauge blickt. Von Eric Heller, Hans Gerd-Koch bis Günther Anders reicht die Palette derer, die glaubten, den phantastischen Sinn Kafkas durchschaut zu haben. Doch entgegen dieses Credos stellt sich doch die berechtigte Frage, welche Franz Josef Czernin, ebenfalls ein renommierter Kafka-Kenner, in einem metaphorischen Aphorismus verdeutlicht: „gedicht, interpretation: wer bäume zählt, vermehrt die bäume; wer die bäume vermehrt, macht den Wald tiefer.“ Ja, auch Interpretationsvielfalt kann den Blick verschleiern und dazu führen, dass das Eigentliche verloren geht.
Wem also noch vertrauen in Fragen Kafka, wenn doch die literaturtheoretische Interpretation aus der Vogelperspektive heraus nicht mehr genügt? Die Antwort ist klar: Felix Weltsch. Denn er gehört nicht nur zur theoretischen Expertise, sondern auch zu Kafkas engstem Freundeskreis und besuchte sogar dieselbe Schule wie der Literat. Obwohl er im Vergleich zu Max Brods Beziehung zu dem Prager Dichter meist in der oberflächlichen Rezeption untergeht, ist sein Verhältnis mindestens genauso tiefgründig, wie jenes, das Brod zu Kafka pflegte. „Kafka lachte selten so oft und gern wie in der Gegenwart Weltschs…“. Dieser Satz ist glaubhaft. Nicht zuletzt die Neuauflage des Aufsatzes „Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas“ von Weltsch zeigt, dass insbesondere er ein exponierter Kenner von Kafkas Komik war.
Was bei der Lektüre klarer und immer klarer wird, lässt sich am besten mit dem Terminus der Hinführung zur Transzendenz beschreiben. Wer sich dem Buch annähert, muss einen philosophischeren Anspruch haben, als allein den Willen in sich zu tragen, etwas über den Humor bei Kafka zu erfahren. Weltsch verbindet vielmehr auf wundersame Weise biographische Fakten mit textuellen Gleichnissen. Nach dem Lesen erscheint Kafka so greifbar, so deutlich, so erhaben wie nie, sodass sich eine Art philologische Transzendierung ereignet, ein intellektuelles Aha-Erlebnis. Eine lang ersehnte Erkenntniswelle stellt sich bei dem grundsätzlich sowieso unbefriedigten Kafkaleser ein, indem man offenbar wenigstens in deutlicher Tendenz zu erfahren glaubt, was hinter den Lettern steht, ja welche tiefere Wahrheit hinter einem Sein gemeint sein könnte. Es ist eine „unbekannte, wahre Welt“, von der Weltsch spricht, welche in der Linienführung seiner Darstellung jedoch immer näher kommt, bis sich letztlich sogar gegenständliche Konturen und Sinnbilder erkennen lassen.
Im Zentrum der motivischen Ästhetik Kafkas sieht Weltsch den Aspekt der Reinheit. Was hierbei nicht missverstanden werden darf, ist die Assoziation mit einem materiellen Schmutz. Betrachtet man Kafkas Gestalt selbst, wird schnell klar, dass der Begriff Reinheit in entscheidendem Maße mit dem Traum von innerer Einheit, also einer Übereinkunft mit sich selbst und der Natur zusammenhängt. „Eine Harmonie ist rein, wenn die Einheit des Zusammenklangs nicht gestört ist.“, hält Felix Weltsch fest und trifft damit den Tenor, der vor allem aus Kafkas Briefen an seine gute Freundin Milena hervorgeht. Denn Reinheit ist in einem metaphysischen Sinne zu begreifen, wenn man davon ausgeht, dass der redliche Einklang aus natürlicher Triebhaftigkeit und Geist das Momentum der Reinheit evozieren.
Und dann sind auch der Humor und die Religion nicht mehr weit. Sei es „Das Schloss“ oder „Der Prozess“, all seine Bücher sprechen von einer anderen Daseinssphäre, ohne die konkreten Wege dahin zu skizzieren. Fern und abstrakt schweben jene einengend-verzerrten Gebilde über dem Geschehen, dessen Ausgang schicksalhaft tragisch vorbestimmt zu sein scheint. Doch was ist „Das Schloss“? Wer sind diese skurrilen Nebendarsteller, die in seinen Traumwelten agieren, K. in eine entfremdete Handlung entführen? Vieles hinterlässt einen nebulösen Eindruck. Klar ist nur, dass für Kafka Zeit seines Lebens das „Unzerstörbare“, ein Sinnbild für das Paradies, außerhalb des menschlichen Bewusstseins gegeben sein müsse. Der Weg dahin ist undurchsichtig. Nicht gangbar. Der Wahrheitsgrund zu tief, um ihn je zu erfahren. So sind auch seine Bücher, die von einer Transzendenz, einer Jenseitigkeit zeugen; aber die Fragen, wie man dorthin gelangen könnte, ungewiss lassen. Die Erfüllung kann somit allenfalls zur Sehnsucht werden.
Obwohl die Erkenntnisse manchmal so einsichtig sind, stellt manch präzise Formulierung von Felix Weltsch doch den Kern der Sache dar und erzeugt eine wundersame Epiphanie. Nicht zuletzt Weltsch könnte mit diesem inzwischen zum Klassiker der Kafka-Literatur gewordenen analytischen Meisterwerk den wahren Gedanken des großen Autors der Moderne am nächsten gewesen sein. Plastisch und mit viel Liebe gelingt es ihm Gedanken in sprachliche Substanz zu transferieren. Sprache wird hier nicht zum Hindernis. Allenfalls zur Predigt, die Wahrheit und Glauben eines der rätselhaftesten Dichter der Menschheit offenbart und uns eine unbekannte heilige Ideenwelt eröffnet.
Von Björn Hayer
Literaturangaben:
WELTSCH, FELIX: Humor und Religion im Leben und Werk Franz Kafkas. Onomato Verlag, Düsseldorf 2008. 126 S., 9,80 €.
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