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Ein ganz besonderer Abschied von der Ästhetik – Peter Weiss in digitaler Form

Neue Veröffentlichungen zu Werken des bekannten Schriftstellers, Malers und Grafikers (1916-1982)

© Die Berliner Literaturkritik, 18.07.08

 

In einer Zeit, als der Hörbuchmarkt noch Umsatzzuwächse verzeichnen konnte, produzierten Hörbuchverlage neben den üblichen gewinnbringenden populären Literaturvertonungen auch abgelegene (um nicht zu sagen vergessene und entlegene) Texte, die eher dem Renommee als der Bilanz eines Verlages zu dienen schienen. Der Zenit der Umsatzfreuden dieses Segments im Deutschen Buchhandel ist lange überschritten, darum mag es einen umso mehr in Erstaunen versetzen, dass der Münchner Hörverlag sich an die Publikation von Vertonungen zweier Bücher von Peter Weiss wagt.

2007 erscheint in diesem Verlag das Weisssche Oratorium „Die Ermittlung“ in der historisch-akustischen Fassung von Peter Schulze-Rohr (in dessen Regie aus Anlass einer Produktion des Norddeutschen Rundfunks 1966) auf drei CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 179 Minuten. Es wurde in den Besprechungen zu dieser CD-Produktion mehrfach darauf hingewiesen, dass es nicht leicht sei, diese Hörfassung anzuhören, zumal sie drei Stunden andauere. Das Ganze verlangt ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit, eine enorme Hörer-Anstrengung und nicht zuletzt eine äußerst große Konzentration auf ein Hörstück, das ja eigentlich ein Theaterstück ist. Die Tatsache, dass dem Rezipienten im Fall dieser reinen Hörfassung die Bilder in besonderer Weise fehlen, kann nicht redundant, sondern muss virulent erscheinen.

„Die Ermittlung“ entstand im Sommer 1964 und wurde bereits im Herbst 1965 unter der Regie von Erwin Piscator an der Freien Volksbühne Berlin uraufgeführt. Es erlebte ungezählte Inszenierungen auf deutschsprachigen und internationalen Bühnen. Die von Peter Weiss so vorgegebenen nüchternen und kalten (um nicht zu sagen dem Stoff angemessenen) Bühnenbilder und Inszenierungsmetaphern sind dem (nur) Hörer leider vorenthalten, darum kann das Theaterstück als ein reines Hörstück nicht überzeugen. Es ist dem Hörverlag zwar zu danken, dass er den Namen Peter Weiss auf diese Weise in unsere Gegenwart zu retten versucht, doch dieser Versuch missglückt eben.

Erstaunlicherweise tritt der die Lizenz gebende Suhrkamp Verlag nur ein Jahr später in direkte Konkurrenz zu diesem Produkt des Hörverlags. Aus Anlass des vierzigsten Jubiläums der sogenannten 68er-Generation erscheint eine Buchreihe mit wichtigen Suhrkamp-Texten, die diese Bewegung mehr oder weniger beeinflusst oder sogar transportiert haben; darunter ist eben auch der Weiss’sche Text „Die Ermittlung“. Die Druckfassung dieser Broschur folgt seitenidentisch (allerdings vergrößert) der nach wie vor lieferbaren Ausgabe in der Edition Suhrkamp (Band 616) und enthält darum ärgerlicherweise die heute als überflüssig anzusehenden Nachworte von Walter Jens und Ernst Schumacher; beide Texte sind durch die Zeitläufe schlicht überholt.

Allerdings ist dieser Neuausgabe auch eine DVD mit der NDR-Fernsehproduktion von 1966 in eben der genialen Regie von Peter Schulze-Rohr beigegeben. Im Unterschied zu den Hörverlag-CDs mit Booklet ist nun auf der DVD das Inszenierungswunder der „Ermittlung“ in Bild und Ton zu sehen und zu hören – und zudem (in der Kombination mit dem Buch) mitzulesen. Für weniger Geld bietet der Suhrkamp Verlag hier weitaus mehr.

In einem zweiten Anlauf legt der Hörverlag noch im selben Jahr das von ihm selbst produzierte Mammutprojekt „Die Ästhetik des Widerstands“ auf. Auf zwölf CDs (verpackt in einer schmucken Kassette mit beigegebenem, übertrieben gestaltetem Booklet) ist hier nun ein Roman von knapp tausend Druckseiten zu hören. Ein Hörer benötigt etwa elf Stunden, um die gesamte Aufnahme zu konsumieren. Das Verständnis dieses Konsums (und mehr kann es hier nicht sein) wird durch viele Faktoren erschwert, so zum Beispiel durch überflüssige akustische Spielereien (das Kratzen von Stein auf Stein, das Plätschern von Flüssigkeiten, viele undefinierbare Effekte, Aus- und Überblendungen, Wiederholungen von Wortfolgen etc.). Auch die Stimmen der Darsteller überzeugen selten, so enttäuscht etwa Rüdiger Voglers Stimme als zu wenig kontrastreich und darum in ihrer Wirkung als zu eindimensional. Auch Robert Stadlobers junger Stimme fehlt (vor allem zu Beginn dieser Aufnahme) merklich jede Patina. Allein Peter Fricke überzeugt mit seiner plastischen, etwas rauen und leicht nachhallenden Intonation.

Dass die überbordende Textmenge der „Ästhetik des Widerstands“ überhaupt (für diese akustisch Reproduktion) zu bändigen ist, verdankt sich allein der Tatsache starker Eingriffe in die Textkonstitution und in die Textmenge. Nicht einmal ein Drittel des Textes präsentiert diese Höredition. Darum kann eine akustische Fassung wie die vorliegende allenfalls eine Interpretation sein, ganz wie sie dem Regisseur Karl Bruckmaier vorschwebt. Große Passagen sind gestrichen, einige Textteile hinzugefügt. Teilweise ist die Textchronologie zerstört. Durch Wiederholungen von Sätzen werden Akzente gesetzt, die der Autor so gar nicht vorgibt. Der Regisseur löse – wie es im Begleittext heißt – den „monolithischen Text“ durch eine Aufteilung in Passagen (die Peter Weiss ebenfalls nicht vorsieht) auf. Nicht zuletzt schaffe die „minimalistische Musik“ von David Grubbs ein „großes Hörspielkunstwerk“.

Jede Pause, jeder Stimmwechsel, jede Doppelung, jede Betonung, jede musikalische Untermalung ist Interpretation und das sollte (auch wenn sich ein Hinweis hierzu nirgends findet) jedem Hörer klar sein. Der werbende Umschlagtext auf der Kassette unterstützt die leichtfertige Arbeit mit und an dem Text der „Ästhetik des Widerstands“. Dort heißt es: „Das Hauptwerk von Peter Weiss widmet sich der Geschichte des Scheiterns sozialistischer Ideale und dem Ausgeliefertsein des Individuums in totalitären Zeiten.“ Da bleibt nur noch anzumerken, dass weder der Autor intendiert noch die Geschichte bestätigt, dass die Ideale (in diesem Fall die sozialistischen) gescheitert seien. Auch der Hinweis darauf, dieses Buch leiste eine „akribische Trauer- und Erinnerungsarbeit“ lässt den aufmerksamen Leser stutzen. Was ist damit wohl gemeint?

Peter Weiss schreibe „emotional aufwühlend“, schildere „phantastisch anmutend“ von „Leben, Leiden und Sterben der Besten einer Generation“, heißt es dort. Ob sich die „Rote Kapelle“ so sah, sei dahingestellt. Es mag verwundern, auch angesichts der Kooperationspartner Bayerischer Rundfunk und Westdeutscher Rundfunk, dass solche Sätze das Lektorat passieren. Oder es ist ein Zeichen der Zeit, dass allgemeine Aussagen wie die hier genannten, die auch auf jeden dritten Bestseller zutreffen könnten, in diesem Kontext überhaupt möglich sind. Dass es Peter Weiss mit seinem großen Roman auch um die Ästhetik der Sprache geht, scheint den Beteiligten nicht bewusst zu sein.

Aus Anlass des 25. Todestages am 10. Mai 2007 erscheint diese akustische Bearbeitung der „Ästhetik des Widerstands“, die der Regisseur nicht nur als Hörbuch, sondern gleichzeitig als Hörspiel verstanden wissen will. Er deutet diesen Roman als eine Art „Wunschautobiografie“ des Autors und teilt darum den Ich-Erzähler in einen jüngeren (Robert Stadlober) und einen älteren Sprecher (Peter Fricke) auf. Diese Art der Konzeption geht jedoch zu Lasten politisch-historischer Abwägungen, wie sie zuhauf im Roman zu finden sind. Um eben diese Entwicklung geht es dem Autor Peter Weiss auch. Sie wird in dieser Hörfassung komplett ignoriert.

Im beigefügten Booklet sinniert ein Vorwort über diesen Roman und listet Stimmen einer Kritik auf, darunter eben auch die bekannt verkennenden Worte von Fritz J. Raddatz: „Der Wortsetzer Peter Weiss hat auf frappante Weise versagt, ist tonlos, sprachlos, farblos gescheitert.“ (Die Zeit vom 8.5.1981). Interessanterweise wiederholt Raddatz seine Aussagen in diese Schärfe nicht, weder in seinem Essayband „Geist und Macht“ (1989) noch in seiner Literaturgeschichte „Die Nachgeborenen“ (1983). Auch in seiner Autobiografie „Unruhestifter“ (2003) wird Peter Weiss nur noch im Kontext der Gruppe 47 erwähnt. Das korrigiert nicht die Tatsache, dass das dreibändige Werk der „Ästhetik des Widerstands“ vom Feuilleton geschmäht wird. (Zum ersten Band erscheinen dreizehn Besprechungen, zu Band 2 und Band 3 sind es je acht Rezensionen.)

Unter den Linken in Ost und West kursiert dieses als eine Art Lektüremittel, um die eigene Identitätskrise zu überwinden oder um in Lektürezirkeln über die Ästhetik eines proletarischen, sozialistischen, linken Widerstands zu diskutieren. Auch in der DDR nutzte es kritischen Marxisten zur Legitimierung in einer staatssozialistischen Lebenswelt. Dass dieses Buch (respektive die drei Bücher) nur schwer zu lesen ist, lässt die Behauptung zu, dass die wenigsten ihre Lektüre beendet haben, sprich schon im ersten Band kapitulierten. Zu einer Selbstverständigung taugt dieses Buch eben nicht, denn es eröffnet Perspektiven, die weit über die Fragen von Identität und Selbstentwurf hinausgehen. Die „Ästhetik des Widerstands“ ist auch kein „Arbeiterbewegungsmarxismus“; sie läuft – wie es Klaus Briegleb schon früh feststellt – spätestens mit dem dritten Band auf die Shoah zu.

Der Roman über die „Ästhetik des Widerstands“ berichtet in erster Linie über die Geschichte eines 1917 geborenen Arbeiters in den Jahren 1937 bis 1945. Der Erzähler besucht zu Beginn des Romans mit den Freunden Coppi und Heilmann das Pergamon-Museum am 22. September 1937. Ein paar Tage später schon reist der Ich-Erzähler nach Spanien, um dort den Internationalen Brigaden beizutreten, um die Republik gegen den Putsch Francos zu verteidigen. 1938 strandet der Erzähler in Paris, wo ihm seine Verlorenheit im Exil bewusst wird. Wenig später geht es ins nächste Exil nach Stockholm; hier schließt er sich dem kommunistischen Widerstand an, trifft auf Bertolt Brecht und beschließt, Schriftsteller zu werden. Er erfährt das Ende des schwedischen Untergrunds und verfolgt die Vernichtung des antifaschistischen Widerstands in Deutschland. Der Roman endet mit dem Kriegsende im Frühjahr 1945.

Die „Ästhetik des Widerstands“ wird nach seinem Tod oft als des Autors großes Vermächtnis angesehen, sie sei die Summe seines Schaffens und darum hätte sie das Potenzial einer „Wunschautobiografie“. Dieses Werk wird sogleich von den Linken eingemeindet und in Bezug gesetzt zu einem vorgegebenen historischen Zeitraum. Auch der Hinweis von Walter Jens, die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss in eine Reihe mit der „Recherche“ von Marcel Proust, dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil oder dem „Ulysses“ von James Joyce zu stellen, ist höflich, aber wenig hilfreich. Politische oder literarische Verherrlichungen helfen nur den Verherrlichern und nicht dem Schriftsteller und seinem Werk. Die „Ästhetik des Widerstands“ muss seit ihrem Erscheinen, also seit über dreißig Jahren, vor einer Legendenbildung in Schutz genommen werden.

Was ist in der „Ästhetik des Widerstands“ zu lesen und wie ist sie zu lesen? Die Entwicklung einer kollektiven Figur des antifaschistischen Widerstands ist wenig hilfreich im Verständnis des Werks respektive in der Möglichkeit der Identifizierung des Lesers mit den Protagonisten. Die Handlung folgt der Geschichte des Widerstands und den Stationen des Exils von Peter Weiss. Die Texträume werden erweitert um Kunst- und Kulturgeschichte aus der Perspektive von Unterdrückten und Verlierern – ganz im Sinne von Bertolt Brecht. Zum Kulturhintergrund gehören zwingend Dantes „Divina Commedia“, die Peter Weiss in seinen Stücken „Die Ermittlung“ und „Inferno“ (beide 1964) bereits zum Anlass nimmt, Kafkas „Schloss“, aber auch Picassos „Guernica“ und Géricaults „Floß der Medusa“.

Zeitzeugen werden zu historischen, das meint zu Romanfiguren, wie beispielsweise Herbert Wehner und Willi Münzenberg, Lenin und Brecht, aber auch Rosalinde Ossietzky und Karin Boye – wie überhaupt die Frauenfiguren wichtig sind für diesen Roman. In seiner „Ästhetik des Widerstands“ beantwortet Peter Weiss vor allem die Frage auf die Möglichkeit eines Bildungsromans für unsere Zeit negativ. Viel zu selten wird gesehen, dass Weiss als ein sogenannter konkreter Autor angefangen hat und entsprechend nicht als rein realistisch erzählender Autor angesehen kann.

Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ will ein Zeichen sein für ein historisches Werk der Befreiung, das nach wie vor nicht Geschichte ist, also bis auf Weiteres präsent in unserer Gegenwart bleibt. Die „Ästhetik des Widerstands“ bildet in ihrer ganz eigenen Sprache und ganz allgemein den Kampf für die eigene Befreiung ab, ganz im Marx’schen Sinne, dass wenn wir uns nicht selbst befreien, die Befreiung für uns selbst auch ohne Folgen bleibt. Eine „Ästhetik des Widerstands“ verabschiedet sich von dem, der diesen Kampf der Befreiung nicht aufzunehmen bereit ist.

Von Michael Fisch

Literaturangaben:
WEISS, PETER: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 233 S., mit DVD mit 155 Min. Laufzeit, 19,80 €.
---: Die Ästhetik des Widerstands. Bearbeitung und Regie von Karl Bruckmaier. Der Hörverlag München 2007. 12 CDs mit 652 Min. Laufzeit, 59 €.
---: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Der Hörverlag München 2007. 3 CDs mit 179 Min. Laufzeit, 24,95 €.

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