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Pynchons sechster Roman – „Ein Höhenflug über die Hölle“

Manche US-Kritiker vermissten den Tiefgang bisheriger Pynchon-Werke

© Die Berliner Literaturkritik, 30.05.08

 

Von Gisela Ostwald

Fast zehn Jahre ließ der amerikanische Kultautor Thomas Pynchon (70) seine Fans schmoren. Mit seinem neuen Roman „Gegen den Tag“ bietet er jetzt reichlich Entschädigung. Das Buch ist mit knapp 1600 Seiten nicht nur das längste, sondern auch das amüsanteste Buch des weltweit verehrten Fabelkünstlers. Manche US-Kritiker vermissten den Tiefgang bisheriger Pynchon-Werke. Der Autor selbst beschreibt seinen sechsten Roman im Vorwort als „Höhenflug über die Hölle“.

Er beginnt an Bord der „Inconvenience“, eines Luftschiffs, das Kurs auf die Weltausstellung 1893 in Chicago nimmt, und endet wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Pynchon lässt in „Gegen den Tag“ hunderte Charaktere auftreten und knüpft Handlungsstränge, die sich oft irgendwo im Unendlichen verlieren. In den Mittelpunkt stellt er Webb Traverse, einen Anarchisten, Bombenleger und Bergarbeiter sowie seine drei Söhne Frank, Reef und Kit.

Die Arbeiterunruhen der Bergleute in Colorado ziehen sich als historischer Faden durch den Roman, oder besser: als einer von etlichen geschichtlichen Fäden. Traverse gehört zu den Rebellen, die die Forderung der Minenbesitzer nach mehr Arbeit für weniger Lohn mit Sprengstoffanschlägen beantworten. Dafür muss er mit dem Leben bezahlen: Gedungene Mörder bringen ihn bestialisch um.

Nach dem Tod des Vaters folgt Pynchon den Spuren der Traverse-Söhne und anderer Figuren ins New York der Jahrhundertwende, nach London und Göttingen, Venedig, Wien, den Balkan, Zentralasien und Sibirien. Weitere Schauplätze sind Mexiko zur Zeit der Revolution, das Paris der Nachkriegszeit, Hollywood während der Stummfilm-Ära und ein, zwei Orte, die auf keiner Landkarte zu finden sind.

Während sich der Weltkrieg schon am Horizont abzeichnet, beschreibt Pynchon, wie hemmungslose kapitalistische Gier, falsche Religiosität und tiefe Geistlosigkeit das Amerika des frühen 20. Jahrhunderts beherrschen. Das hindert ihn nicht daran, gleichzeitig mit seinen Figuren zu „spielen“: Er lässt sie alberne Lieder singen, abartigen Sex haben und obskure Sprachen sprechen.

Um das Werk auch nur annähernd zu verstehen, bedürfe es eines Intellekts, den er „höchstens 5 von 500“ seiner Kollegen und Freunde zutraue, schrieb der Kritiker des renommierten „Wall Street Journal“. Das war Ende 2006, als US-Literaten und Pynchons eingeschworene Fan-Gemeinde das Original („Against The Day“) begeistert als „Buch des Jahres“ feierten, während Kritiker sich angesichts des Umfangs die Haare rauften.

„Der Spiegel“ teilte die 1092-seitige US-Ausgabe unter fünf seiner Rezensenten auf und ließ jeden gut 200 Seiten des Mammutwerks besprechen. Bald darauf krempelten auch die Übersetzer Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren ihre Ärmel hoch. Beide hatten schon je einen Roman von Pynchon ins Deutsche übertragen und waren mit dessen sprachlichen Eigenheiten vertraut. Ihre Gemeinschaftsarbeit („Gegen den Tag“) erschien jetzt beim Rowohlt Verlag in Reinbek.

Pynchon wurde 1937 in Glen Cove unweit von New York City geboren und studierte Physik und englische Literatur. In den 60er Jahren arbeitete er als technischer Autor bei der Fluggesellschaft Boeing, bevor er seinen Debütroman „V“ schrieb. Schon aus ihm lassen sich Pynchons Grundthemen ablesen: Angst vor der undurchschaubaren, modernen Wirklichkeit und die Suche nach einer Ordnung für den Einzelnen im Wirrwarr der Geschichte.

Noch vor dem Erscheinen seines Erstlings tauchte Pynchon unter. Seit mehr als 50 Jahren hat er sich nicht mehr fotografieren lassen, gibt keine Interviews und meidet den Kontakt mit Journalisten. Angeblich lebt „das Phantom“ der Gegenwartsliteratur mit Frau und Sohn in New York. Wenn ein Foto von ihm veröffentlicht wird, ist es immer wieder das gleiche von 1953, das ihn als jungen Mann mit dunklen, wildgekämmten Haaren und vorstehenden Zähnen zeigt.

Literaturangaben:
PYNCHON, THOMAS: Gegen den Tag. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 1595 S., 29,90 €.

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