Alessandro Baricco („Seide“) zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern Italiens. Auch sein neuer Roman mit dem schlichten Titel „Diese Geschichte“ stand dort monatelang auf der Bestsellerliste. Baricco wagt sich darin an schwierige Themen, denen er seine wunderbar poetische Sprache entgegensetzt. Daraus ist ein vielschichtiger Roman entstanden, der mit seinen oftmals unerwarteten Wendungen immer wieder zu überraschen vermag. Allerdings stellt das Buch für den Leser mit seinen zuweilen etwas eigenwilligen Erzählkonstruktionen auch durchaus eine Herausforderung dar. Hält man dies durch, wird man belohnt mit einer nahezu märchenhaft anmutenden Saga, die fast das gesamte 20. Jahrhundert umfasst.
Der Beginn des Buches ist furios: Das 20. Jahrhundert ist noch jung als im Frühling 1903 das legendäre Autorennen Paris – Madrid stattfindet und den Beginn einer neuen Epoche verkündet, die sich der Technik und der Geschwindigkeit verschrieben hat und die Menschen elektrisiert. Ultimo, der Held der Geschichte, wächst zwar in der norditalienischen Einöde auf, dennoch bleibt sein Leben nicht unbeeinflusst von diesen Ereignissen. So meint sein Vater, der kleine Bauer Libero Parri, die Zeichen der Zeit zu erkennen und verkauft all seine Rinder, um aus dem Stall eine Autogarage zu machen. Es verstreichen magere Jahre, in denen Libero jedoch nie die Zuversicht verliert, bis er schließlich durch Zufall im Grafen D’Ambrosio einen Gönner findet, der seine Leidenschaft für Automobile und Geschwindigkeit teilt. Von da an wendet sich das Blatt. Der Graf findet Gefallen an Ultimo, diesem außergewöhnlichen Kind mit dem „goldenen Schatten“, das als Kleinkind alle nur möglichen Krankheiten wie durch ein Wunder überlebt hat. Der Vater sagt, das liege an seinem starken Herzen; die Mutter sagt, er hat Schwein gehabt.
Nachdem der Graf ihm ein Motorrad geschenkt hat, weiß Ultimo was seine Leidenschaft ist und immer sein wird. So schwärmt er nicht etwa für Automobile wie sein Vater, sondern für die Schönheit der Straßen. Und er nimmt sich vor, irgendwann die perfekte Rennstrecke zu bauen. Zunächst muss er jedoch als junger Mann in den Ersten Weltkrieg ziehen. Hier lernt er eine wichtige Lektion fürs Leben: Die Welt wird beherrscht vom Chaos. Eine Rennstrecke zu bauen, würde aber wieder Ordnung ins Chaos bringen. Daran hält er fest. Bevor er jedoch dazu kommt, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, zieht er in den Nachkriegsjahren noch einige Zeit mit der vertriebenen russischen Prinzessin Elizaveta durch die amerikanische Provinz, um Klaviere zu verkaufen. Sie ist seine zweite große Leidenschaft. Doch ihre Wege trennen sich. Erst viele Jahre später erkennt Elizaveta, wie sehr auch sie Ultimo verfallen war und resümiert im Zwiegespräch mit sich: „er hätte die Welt wieder zusammengefügt […], und an seiner Seite wäre es uns möglich gewesen, wir selbst zu sein.“ Denn auch ihre Welt ist beherrscht vom Chaos. Als gealterte und steinreiche Frau macht sie sich schließlich auf die Suche nach der Rennstrecke. Dieser Akt des Suchens ist für sie die einzige Möglichkeit, noch einmal mit ihrer verlorenen Liebe Ultimo zusammen zu sein.
Natürlich sind diese Passagen des Buches nicht gänzlich frei von Kitsch. Die Liebesgeschichte zwischen Ultimo und Elizaveta überzeugt jedoch durch ihre Kompromisslosigkeit und oftmals grausame Ehrlichkeit. Gleichzeitig ist sie nur ein Thema des Romans. So haben die Protagonisten in der Geschichte allesamt mit den rasanten Veränderungen und Kriegen, die das Jahrhundert mit sich bringt, zu kämpfen. Die Menschen sind zunehmend orientierungslos geworden. Sowohl Libero Parri als auch Ultimo und Elizaveta flüchten sich in ihre Träumereien, um sich von der Realität nicht unterkriegen zu lassen und schaffen sich so eine eigene Wirklichkeit: „Menschen […] sind nur lebendig, wenn sie das tun können, wofür sie geboren sind. Vorher und nachher tun sie nichts anderes als warten und sich erinnern. Sie wirken traurig. In Wirklichkeit sind sie nur ein wenig abwesend.“ Diese Haltung führt zu einer sehr melancholischen Grundstimmung des Buches, die auch nach der Lektüre noch lange nachhallt.
Von Susanne Weiler
Literaturangaben:
BARICCO, ALESSANDRO: Diese Geschichte. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2008. 312 S., 19,90 €.
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