„Perfekte Romane gibt es nicht. Selbst die besten haben überflüssige Absätze, nicht völlig gelungene Stellen, Momente nachlassender Spannung; immer würde ein guter Lektor Kleinigkeiten finden, die er verbessern könnte. Ein Roman kann nicht vollkommen sein. Eine Kurzgeschichte schon“, so der Bestsellerautor Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) in der Literaturzeitschrift „Literaturen Special 1“ im Sommer 2008.
Was für Kurzgeschichten gilt, zählt für Kurzprosa jeglicher Art – wie zum Beispiel für Anekdoten, Kurzerzählungen. An diesem „Perfektionsanspruch“ müssen sich sowohl Arrivierte wie Debütanten messen lassen. So auch die Texte in dem Erzählband „Jackie in Silber“ des in Leipzig lebenden Autors Andreas Stichmann. Sein Debütband ist im Hamburger mairisch Verlag erschienen.
Der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studierende Andreas Stichmann wurde 1983 in Bonn geboren, er ist dort und in Ost-Westfalen aufgewachsen. Wie der Autor in einem Interview mit diesem Magazin erläuterte, hat er mit 14 Jahren angefangen zu schreiben, besser gesagt Comic-Geschichten zu zeichnen; doch schon mit 15 schrieb er Geschichten, zunächst Märchen. Seinen ersten Preis gewann er 2002 beim Bonner Pegasus-Wettbewerb. „Mir war das unangenehm, gewonnen zu haben“, erklärt Stichmann, denn er habe seinen Text in einer Halle mit Lehrern und einem Komitee vortragen müssen. Angenehmer war es ihm hingegen bei den dreitägigen „Treffen junger Autoren“ im Jahre 2002 und 2005 in Berlin. Bei diesen Treffen tauschte er sich mit angehenden Literaten aus. Er lernte bei diesen Treffen unter anderem Finn-Ole Heinrich (Debütroman „Räuberhände“, ebenfalls im mairisch Verlag erschienen) kennen, der Stichmann dem mairisch Verlag – zum Glück für den Leser – weiterempfohlen hat.
In diesem Band sind elf Erzählungen enthalten, meist um die zehn bis 15 Seiten lang. Die Geschichten beschreiben Figuren, die auf der Suche nach sozialer Anerkennung sind, indem sie etwas Außergewöhnliches machen – und zwangsläufig scheitern! Wie beispielsweise in der Erzählung „Alleinstehende Herren“ – Andreas Stichmanns Wettbewerbsbeitrag zum „open mike“ 2006, wo er bedauerlicherweise nicht gewonnen hat–, in der Henneberg plötzlich alles verkauft und in die Südsee fliegen möchte, um vor seinen Freunden nicht als Spießer zu gelten. Im letzten Augenblick jedoch bleibt er in Deutschland. Ähnlich ist es im Text „Die Blumen“ der im mittleren Alter stehende Ich-Erzähler, der nach Anerkennung sucht: Er versorgt seine ältere Nachbarin Jensch, hilft Jenschs Enkelin, nicht nur beim Einzug in die Wohnung. Am Ende bricht der Ich-Erzähler, der die Anerkennung der Jenschs auf sich ziehen möchte, aus, indem er bei einer ausgelassenen Feier vorschlägt Stripp-Poker zu spielen. Die Jenschs ignorieren ihn, ihm bleibt nur die Frage: „Warum sagt ihr denn nichts?“
Traurige Erzählungen? Ja, meistens sind es traurige Situationen, in denen die Figuren stecken. Doch „sie behalten stets ihre Würde“, wie Stichmann erläutert. Tatsächlich malt der Ich-Erzähler von „Die Blumen“ am Ende der Geschichte Blumen, so dass die Geschichte nicht hoffnungslos endet. Dieses Strickmuster ist in den meisten Erzählungen wieder zu finden, auch in „Goldbarrenmann“. Der Vater macht trotz Erfolglosigkeit und Brand seines Geschäftes weiter, auch wenn der Sohn es sich anders wünscht.
Eine herausragende Rolle in diesen Geschichten spielt die Erzählperspektive: Es wird von einer Figur erzählt, die meist gar nicht im Mittelpunkt der Handlung steht. So ist der Sohn im besagten „Goldbarrenmann“ der Ich-Erzähler und setzt den Fokus auf den Vater. Es scheint so, als ob der Ich-Erzähler und der Protagonist des Erzählten stets als Spiegelbilder fungieren. Besser gesagt: Der Ich-Erzähler projiziert seinen Mangel an Anerkennung oder Selbstvertrauen auf den Protagonisten seiner Erzählung. So fantasiert der Sohn, dass sein Vater den Goldbarrenmann entdeckt und reich wird – der Sohn wünscht sich nichts anderes als dass er stolz auf seinen Vater sein kann.
Auch in der Erzählung „Hey Hoppmanns“ steht nicht der Erzähler im Mittelpunkt, sondern die Brüder Hoppmanns und Jackie. Genau jene Jackie, der dieser Erzählband seinen Titel verdankt.
Eine weitere Besonderheit dieser Texte sind ihre szenenhaften Episoden – Stichmann nennt sie „eher comichaft“. Mit Lautmalerei (bum, crash, bang, zisch …) hat dies wenig zu tun. Die Szenen und Figuren werden skizzenhaft dargestellt und im Laufe der Erzählung bekommen sie immer mehr Konturen, ohne dass sie vollständig gezeichnet werden. In den Erzählungen „Bussardweg“, „Malealea“ und „Frances stirbt“ unterteilt sie Stichmann in fünf bzw. sieben „Bilder“, die wie kleine Kapitel daherkommen.
Diese hervorragenden Erzählungen sind zumeist orts- und zeitungebunden. Ausnahmen bilden lediglich „Goldbarrenmann“ und „Malealea“, die in Bonn und Lesotho spielen. So haben einige Erzählungen einen biografischen Bezug: Wie oben erwähnt wurde Stichmann in Bonn geboren und ist dort aufgewachsen; in Lesotho war er, als er in Südafrika für zwei Monate eine Bekannte besuchte. Im Jahr 2007 war er wieder in Südafrika, diesmal für ein halbes Jahr. Stichmann offenbart, er habe in einem anthroposophischem Dorf mit Behinderten gearbeitet und diese Erfahrungen vor allem in die Erzählung „Frances stirbt“ einfließen lassen.
Kurzum: Der knapp 25-jährige Autor hat elf großartige Erzählung geschaffen – er spricht den Leser auf verschiedenen Ebenen an, sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der stilistischen. Stichmann versteht es, auf ein paar Seiten kongenial das inhaltlich Wesentliche mit einer treffenden Sprache zu verbinden. Keiner der Texte geht einem so schnell wieder aus dem Sinn. Die Handlungen haben zudem teils ironische oder groteske Wendungen, sodass der Leser geneigt ist, mindestens zu schmunzeln.
Um Daniel Kehlmanns „Perfektionsanspruch“ aufzugreifen: Andreas Stichmanns Erzählungen erfüllen Kehlmanns oben erwähnten Bedingungen im vollem Umfang. Es sind die besten, prämienwürdigen Erzählungen in diesem Herbst und dürfen folglich in der nächsten Zusammenstellung Kehlmanns nicht fehlen!
Von Angelo Algieri
Literaturangaben:
STICHMANN, ANDREAS: Jackie in Silber. Erzählungen. Mairisch Verlag, Hamburg 2008. 144 S. 14,90 €.
Mehr von „BLK“-Autor Angelo Algieri
Verlag